Ich hab diese Geschichte geschrieben, als ich vor kurzem im Krankenhaus war.
Sie ist ein bisschen inspiriert von der Erzählung Dieser Mann und diese Frau von Anna Gavalda, aus ihrem Buch Ich wünsche mir, dass irgendwo jemand auf mich wartet.
Würde mich über Kommentare freuen
Dieser Junge und dieses Mädchen stehen vor dem Eiffelturm, denn der Eiffelturm ist ja das Erste, das man besichtigen muss, wenn man nach Paris kommt, und sie sind vor zwei Stunden angekommen, also los, besichtigen. Er hat die Hände vor ihrer Taille verschränkt. Sie will ihn auch festhalten, hey, guckt her, wir sind ein Paar!, aber es geht nicht, sie hält schon ihre neue digitale Spiegelreflexkamera in beiden Händen. (Was Spiegelreflex heißt, weiß sie nicht.) Klick. Klick. Sie fängt den Eiffelturm ein, oder wenigstens den Teil, der aufs Foto passt, fünfmal, sechsmal. Sie wird die Fotos auf jeden Fall ins Internet stellen. Vielleicht sucht sie sich ein Internetcafé solange sie noch hier sind, denkt sie, aber unterschiedliche Perspektiven sind heute wirklich nicht drin, denn sie ist müde und hat keine Lust, weit weg zu gehen oder sich hinzuknien, aber sie zoomt mal nah heran, und mal weit weg. Das ist doch immerhin etwas.
Sie fröstelt. Sie haben jetzt im April gebucht und nicht im Sommer, weil die 500 Euro sonst nicht gereicht hätten, die ihr Vater ihr dazugegeben hat, und jetzt wird es schon dunkel, obwohl es erst halb neun ist. Auf ihren Vater ist sie immer noch wütend, denn nun muss sie die langweilige Sweatshirtjacke überziehen, die Jacke ist ihr fast peinlich, sie hätte für den Sommer ein unglaubliches türkises Cocktailkleid gehabt, und es hätte echt nicht April sein müssen, verdammte Scheiße.
„Es ist so romantisch“, sagt sie also. Sie dreht sich zu ihm um und lächelt ihn an. Sie hat sich kurz vor dem Urlaub die Zähne bleachen lassen und wartet immer noch darauf, dass er es bemerkt.
„Ja, ist es“, sagt er und lächelt zurück. Wie praktisch, dass sie jetzt wieder wegsieht um mehr Fotos zu machen, und wie praktisch, dass sie die Jacke über ihrem Top offen gelassen hat, denn so kann sein Blick in aller Ruhe in ihrem Dekolleté versinken. Sie hätte mit ihm nach Ibiza fliegen sollen wie er es vorgeschlagen hat, aber sie musste ja nach Paris, einen auf weltgewandt machen. Wenigstens würde sie ihn nicht in irgendwelche Museen schleppen, so war sie nicht drauf. Gott sei Dank. Das hätte ihm gerade noch gefehlt.
Sie hat keine Lust mehr, Fotos zu machen, die Kamera hat jetzt schon mehr vom Eiffelturm gesehen als ihre eigenen Augen. Sie steckt sie in ihre Tasche. Der Turm ist schon schön. Ein Anflug von irgendwas überkommt sie und sie denkt an den Abend, an dem sie ihn kennen gelernt hat, an die Party kurz vor Weihnachten. Er ist ihr damals nicht sofort aufgefallen, aber schließlich fiel ihr sein schickes Hemd auf, seine weißen Chucks und seine dunkelblonden Haare, das war genau ihr Ding. Sie hatten ein paar Sätze gewechselt, die Bierflaschen in der Hand, und irgendwann hatten sie sich geküsst. Drei Wochen später waren sie zusammen. Ihre Freundinnen finden ihn alle toll. Und er findet ihre Augen toll, sagt er. Zum Valentinstag hat er ihr eine Kette mit einem Herzanhänger von Swarowski geschenkt, einem echten! Als sie an den Anhänger denkt, wird ihr schwindelig vor Glück. Das muss Liebe sein.
Sie dreht sich also in seinen Armen um, sieht ihm in die Augen, küsst ihn und sagt: „Ich liebe dich, Schatz.“ Sie dreht sich wieder zurück und ist begeistert darüber, wie ihre Haare so schwungvoll mitwehen, so kommen ihre neuen Strähnchen, die sie und der Friseur natürlich Highlights nennen, toll zur Geltung.
„Ich dich auch“, sagt er, denn klar liebt er sie, sie ist ja auch echt süß mit ihren großen braunen Augen und ihrer tollen Figur, sie zickt nicht rum wenn er sich mit seinen Freunden trifft, sie lacht über seine Witze und sie mag die Musik, die er mag. Ganz zu schweigen von ihrem Einfallsreichtum im Bett, den hat nicht jede. Klar liebt er sie.
„Gehen wir langsam mal?“, fragt sie. Ihr ist wirklich kalt, trotz der Jacke, und sie ist müde. Sie denkt daran, dass sie morgen noch zu den Galéries Lafayette muss, sie will sich vor die Chanel-Abteilung stellen und Fotos machen, mit dem Logo über ihrem Kopf. Und online stellen, online stellen nicht vergessen. Sie müssen alles sehen. Sie denkt auch daran, dass sie schon morgens hingehen sollten, denn da wird es nicht so überfüllt sein und die Leute werden ihr nicht durchs Bild laufen. Glaubt sie.
„Okay“, sagt er, lässt ihre Taille los und nimmt ihre Hand. Er denkt daran, dass der Eiffelturm auf Postkarten und im Internet irgendwie beeindruckender aussieht und dass er ihn jetzt ziemlich langweilig findet. Er denkt auch daran, dass sie gleich in dieser stylishen Bar noch einen trinken wollen, und dass er sich seit Stunden auf sein Bier freut, und außerdem freut er sich auf sie, nach der Bar kann es bis zum Hotel nicht mehr allzu weit sein.
Hoffentlich lässt sie ihn danach in Ruhe pennen, aber vielleicht werden sie auch wieder eins ihrer tiefgründigen Gespräche führen.
Denn darin sind sie wirklich gut.