Neo(n)licht – wie ich mein Leben lebte
Das Zimmer, in dem ich mich befinde, ist billig. Mehr lässt sich darüber nicht sagen. Ich schminke mich, trage Lippenstift auf, rot wie Blut, und tusche meine Wimpern. Dann setze ich mich auf den Boden. Mir ist kalt, ich trage nur einfache Unterwäsche. Es ist zwei Uhr nachts. Gerade eben habe ich einen Freier bedient und mir einen Schuss Heroin gesetzt, so gestreckt, dass ich davon das Doppelte von der normalen Menge brauche. Doch was macht das schon. Meine Hände streichen über den verbrauchten Körper, der erst zwanzig Jahre alt ist und sich anfühlt, wie hundert. Doch ich empfinde keinen Schmerz, denn egal, was passiert, ob mich ein Freier schlägt, ich mir zu viel Heroin in die Blutbahn jage oder ich drei Tage lang nichts esse, ich spüre es nicht.
Ja, es ist egal, was man mit mir anstellt, auch wenn die Männer meine fleischliche Hülle spüren und mich gierig ansehen, gejagt von Lust und den üblichen Trieben des Mannes, sich an mir abreagieren und sich an mir befriedigen, egal ob sie mich treten, beißen oder von mir geritten werden wollen, ich bin ganz einfach nicht da.
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Wenn ich heute darüber nachdenke, und das tue ich sehr oft, wird mir immer mehr klar, dass der eigentliche Wendepunkt in meinem Leben bereits im Winter ´96 gewesen war, damals, als mein Vater das letzte Mal in die Arbeit fuhr. Ich war damals acht Jahre alt und wuchs wohl behütet als Einzelkind auf. Meine Mutter war stets besorgt um mich, und auch mein Vater tat alles menschenmögliche, um mir ein schönes Leben zu bereiten. Doch an jenem Dienstag im Winter sollte sich alles ändern, denn wie Sie sich schon denken können, kam mein Vater nicht wieder nach Hause. Er starb, weil ein Betrunkener am Steuer eingeschlafen und ihm frontal in den Wagen gerannt war. Mehr kann ich dazu nicht sagen, denn mehr weiß ich bis heute nicht. Meine Mutter konnte nicht mal auf die Beerdigung gehen, weil sie so krank vor Trauer war. Von nun an wuchs ich ohne meinen Vater auf, und glauben Sie mir, das war alles andere als leicht. Meine Mutter konnte mit Geld überhaupt nicht umgehen, und hat in Windeseile unseren gesamten Besitz in Klamotten und andere Luxusgüter gesteckt.
Danach lebten wir drei Jahre von Sozialhilfe, bis meine Mutter endlich ihren Ritter in der goldenen Rüstung kennenlernte, einen Immobilien-Makler aus reichem Hause. Alles, was ihn interessierte, war sie, und alles, was sie interessierte, war sein Geld. Sie passten wirklich gut zusammen. Schon nach zwei Jahren heirateten sie, und von nun an stand ich in jeder Lebenslage hinten an.
Für die Öffentlichkeit waren wir die sympathische Patchwork-Familie von nebenan, mit Haus und Garten. Das einzige, was noch fehlte, war ein kleines Geschwisterchen für mich, wie meine Mutter stets sagte. Doch darauf hatte ich erst recht keine Lust.
Hedwig, wie ihre neue Errungenschaft hieß, dachte, er könnte mich zufriedenstellen, indem er mir ein tolles Zimmer in seinem noch viel tolleren Haus bot und mir hin und wieder mal auf den Po schlug, wenn meine Mutter nicht da war. Von einer Anzüglichkeit konnte man hier keineswegs reden, er machte das eben, weil er mich so lieb hatte, wie er stets beteuerte. Ich denke darüber anders. Auch, dass er mir immer wieder aufreizende Klamotten in meinen Kleiderschrank steckte, sollten zum Nachdenken anregen.
Kein Wunder, dass ich bereits mit fünfzehn Jahren voll über die Stränge schlug und mich jeden Tag betrank. Doch irgendwie hat es keinen gestört, weder meine Mutter noch Hedwig. Ich konnte tagelang nicht nach Hause kommen, es störte keinen.
Mein einziger Halt, den ich im Leben hatte, war meine Katze Loona, die mir immer ein offenes Ohr schenkte. Natürlich kann man das nicht mit einer richtigen Freundin vergleichen, aber mit so was tat ich mich einfach sehr schwer. Vor Freundschaften hatte ich richtig Angst, weil ich meine Verlustängste seit dem Tod meines Vaters nicht mehr unter Kontrolle hatte. Ich wäre, wenn ich eine Freundin gehabt hätte, sowieso nur ein kleiner nerviger Klammeraffe gewesen.
In der Schule flogen die Typen auf mich, denn dank meiner Mutter, die Italienerin war, hatte ich einen dunklen, hübschen Hautton, und auch mein Gesicht war sehr ansehnlich, ohne dass ich eitel wirken möchte. Meine Frühreife lag aber nur äußerlich, denn in meinem Herzen war ich immer noch acht und wartete darauf, dass mein Vater von der Arbeit kam. Kein Junge hatte mich bis jetzt verletzt, denn ich war noch nie verliebt gewesen. Hatte ich vielleicht keine Gefühle?
Doch dann lernte ich Chris kennen, einen Neonazi aus Berlin, der seit einigen Jahren in unserer Gegend lebte, und ab hier sollte mein Leben erneut einen neuen Weg einschlagen…