28.
Zuhause angekommen steuerte Eileen zielstrebig das Schlafzimmer an, knallte die Türe hinter sich zu, warf sich ins Bett und vergrub ihr Gesicht in den Kissen.
Sie fühlte sich sogar zum Weinen zu erschöpft.
Sie wollte niemanden mehr sehen, niemanden hören. Am liebsten einfach hier liegen, sich einfach weigern, an irgendetwas teilzunehmen, sich zu sorgen, zu kümmern, zu fragen, zu ärgern, aufzuregen.
Dieses ganze Leben ging ihr nur noch auf die Nerven, hatte jeden Sinn, jede Freude, jeden Spaß, jeden Lichtblick verloren.
Sie fühlte sich, als ginge sie seit Wochen oder sogar schon seit Monaten kontinuierlich über ihre Grenzen, verbrauche ihre Kraftreserven von mal zu mal mehr, weit über das eigentlich erlaubte Maß hinaus.
Was, wenn sie jetzt einfach am Ende war? Keine Kraft, keinen Mut, keine Veranlassung, keine Ressourcen mehr – zum Kämpfen, zum Weitermachen, zum Neu-Anfangen, zu allem.
Müde setzte sie sich wieder auf. Es war bereits dunkel geworden und draußen roch es nach dem ersten Schnee des Jahres, auch wenn der Himmel noch sternenklar war.
Ihr fuhr der Gedanke durch den Kopf, dass sie kein Streusalz mehr im Haus hatten und dass Marcel den Schneeschieber aus irgendwelchen Gründen mitgenommen hatte.
Wenn es heute Nacht schneien würde, musste sie morgen den Gehweg räumen. Nur mit was, mit bloßen Händen? Selbst den Besen hatte Marcel eingepackt.
Ob er nun in seiner neuen Bleibe darauf wartete, dass es endlich schneite und er die wertvollen Gegenstände benutzen konnte, gehässig darüber lachend, dass sie – Eileen – zu Hause aufgeschmissen war, genau wissend, dass seine „Noch“-Frau natürlich nicht rechtzeitig daran gedacht haben würde, sich neue Materialien zu besorgen?
Vor Eileens geistigem Auge tauchte sein schadenfroh-gehässiges Gesicht auf, während sie sich selbst mit erfrorenen Händen im Schnee wühlen sah.
Eileen stand auf und rieb sich die Stirn. Vielleicht wurde sie bereits verrückt? Wer wusste das schon.
Stöhnend öffnete sie den Knopf ihrer Hose und atmete erleichtert auf. Das ständige Frustessen der letzten Woche schien sich langsam an ihren Hüften zu zeigen, denn immer öfter zwickten ihre Hosen. Aber sie hatte weder Muße noch das nötige Geld, um sich neu einzudecken. Stattdessen, so dachte sie bei sich, sollte sie lieber ein wenig auf ihre Ernährung achten, dann würden die überflüssigen Pfunde sicher schnell wieder purzeln. So viele waren es ja nun auch noch nicht. Gewogen hatte sie sich schon lange nicht mehr, nur die enger werdenden Hosen und die zwickenden BH´s verrieten ihr, dass die vielen Abende voller Fast-Food vom Chinesen, Pizzaservice und mit Torten und Plätzchen langsam ihre Wirkung entfalteten.
Sie seufzte und ließ sich unmotiviert erneut auf der Bettkante nieder. Sie sollte wirklich wieder anfangen zu kochen, aber für sich alleine zu kochen fand sie unendlich frustrierend und schaffte es nahezu nie, sich dazu aufzuraffen.
Wie viel einfacher war es da, einfach eine Pizza zu ordern und sich zur Not den Hunger mit Plätzchen oder fertigen Kuchen zu überbrücken. Ab und an hatte sie mit ihren Eltern gegessen, das dürften in den letzten Wochen aber die einzigen Male gewesen sein, an denen sie „richtige“ Nahrung zu sich genommen hatte.
Müde schälte sie sich aus den Kleidern und schlüpfte in eine gemütliche Trainingshose.
Dann ging sie nach unten ins Wohnzimmer. Immer noch fühlte sie sich viel zu ausgelaugt, um über Marcel, das Haus, über einfach alles nachzudenken.
Es schien alles so grau zu sein, so sinnlos, so hoffnungslos. Und sie war so furchtbar, furchtbar einsam!
Die Menschen um sie herum versuchten zwar, ihr zu helfen, waren dabei aber selbst oftmals so hilflos, dass Eileen sich wiederum fast genötigt sah, sie zurück zu trösten und zu beschwichtigen.
Ihre Eltern versprachen ihr zwar jede Unterstützung, aber praktisch helfen konnten sie ihr auch nicht wirklich. Sie hatten ihre eigenen Vorstellungen, wie die Dinge zu lösen seien – ihre Mutter plädierte für den sanften Weg, während sie ihren Vater immer wieder nur mühsam davon abhalten konnte, zu Marcel zu fahren und ihn zu verprügeln.
Beide Wege waren gleichermaßen ungeeignet. Eileens Mutter empfahl immer wieder, sie solle sich mit Marcel treffen, mit ihm sprechen, mit ihm einen Kompromiss finden.
Aber Eileen wollte keine Kompromisse, die letztlich nur zu ihren ungunsten ausfielen!
Die aggressive Vorgehensweise ihres Vaters war aber genau so wenig eine Lösung, da sie zu nichts und wieder nichts führte.
Marlene hingegen hatte keine „echten“ Ideen und schimpfte meist nur wild über Marcel oder empfahl Eileen, kurzen „Prozess“ zu machen. Eileen derweil wusste, dass es so einfach nicht war. Trotzdem war sie froh, Lene zu haben, die sie tags und nachts anrufen konnte.
Und doch merkte sie auch bei ihr, dass der Schock über die Trennung langsam nachließ und Marlene – natürlich – wieder ihr eigenes Leben zu leben begann.
Anfangs hatte sie Eileen fast täglich angerufen, öfters etwas mit ihr geplant, viel mit ihr gesprochen. Allmählich war Eileens Zustand aber auch für Marlene offenbar „Alltag“ geworden, die Anrufe erfolgten seltener und an den Wochenenden meldete sie sich nicht mehr, um Eileen zu einem spontanen „Frauenabend“ einzuladen.
Kein Wunder, sie war schließlich noch genauso zufrieden und glücklich in ihrer Beziehung wie zuvor. Und gemeinsam mit ihr und Dirk auszugehen, war für Eileen nicht denkbar.
Viel zu sehr hätte es sie – und nicht nur sie, sondern alle – an vergangene Zeiten erinnert und als fünftes Rad am Wagen hätte sich Eileen nur noch einsamer gefühlt.
Dann blieb sie lieber zu Hause, auch wenn ihr oftmals die Decke in dem großen, stillen Haus auf den Kopf fiel.
Gerade abends war es schlimm, vor allem jetzt, in dieser dunklen und ungemütlichen Jahreszeit.
Ihre Ängste hatte Eileen inzwischen weitestgehend überwunden, dennoch war es ihr nachts immer noch oft unheimlich und sie ließ das ein oder andere Nachtlicht brennen – und schlief grundlegend immer, einfach immer schlecht.
Müde ließ sich Eileen auf einem der Barhocker vor dem Küchentresen nieder und überlegte, was sie essen sollte. Ihr Magen knurrte unfreundlich vor sich hin, aber sie beschloss, nicht schon wieder eine Pizza zu bestellen oder den China-Imbiss anzurufen, sondern sich etwas zu kochen. Viel war nicht im Kühlschrank zu finden, schon gar nicht viel Gesundes. Aber ein überbackenes Toast war wohl immer noch besser als Pizza und Co.
Nachdenklich begann Eileen sich ihr Essen zuzubereiten und führte sich noch einmal das Telefonat mit Marcel vor Augen.
Immer noch begann ihr Herz vor Empörung, aber auch vor Angst heftig zu pochen, wenn sie sich seine Worte in Erinnerung rief.
Was, wenn er recht hatte? Vielleicht konnte sie wirklich nicht alleine über das Haus bestimmen und sich gegen einen Verkauf sperren. Oder er hatte wirklich keine Verpflichtung, den Kredit weiter zu bezahlen, da er nicht mehr hier wohnte?
Ihre Anwältin hatte dies zwar klipp und klar ausgeschlossen – den Kredit hatten sie gemeinsam aufgenommen, völlig ohne Zusatzklauseln. Kredit war Kredit. Und auch das Haus zu verkaufen ging nicht ohne weiteres, da es auf sie beide lief. Zumindest konnte er sie nicht dazu zwingen.
Aber was, wenn ihre Anwältin sich hierin geirrt hatte? Sie machte zwar einen äußerst professionell-kompetenten Eindruck, aber Eileen war sich natürlich bewusst, dass sie nicht die beste der besten war. Das sagte alleine schon die Tatsache aus, dass sie einen sehr viel niedrigeren Stundensatz hatte als viele andere ihrer Kollegen.
Genau aus diesem Grund hatte Eileen sich ja auch für sie entschieden. Und schon jetzt fraßen die Anwaltskosten sie fast völlig auf.
Eileen ließ die Hände sinken und begann zu weinen. Die Last der Schulden, die Last der Frage, wie es weiterginge, schien sie bis ins Erdreich zu drücken.
Sie wusste kaum, wie sie sich in den nächsten zwei Wochen noch Essen und Haushaltssachen kaufen sollte.
Natürlich war ihr bewusst, dass ihr ständiges Essen beim Lieferservice auch nicht unschuldig daran war. Gerade jetzt, wo es ihr jedoch so schlecht ging und sie so durcheinander war, fiel es ihr aber noch viel schwerer zu haushalten denn je.
Und doch war es dringend erforderlich.
Sie schniefte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie brachten sie ja auch nicht weiter.
Langsam begann sie, den Toast in der Pfanne zu wenden, damit er von allen Seiten braun wurde.
Sie hatte keine andere Wahl, als morgen noch einmal ihre Anwältin anzurufen. Sie konnte das ganze ja nicht auf sich sitzen lassen.
Oder sollte sie auf Marcels Angebot eingehen? Er hatte am Ende des Gespräches ja doch recht sanft und vernünftig gewirkt. Gar nicht so, als wolle er ihr etwas Böses.
Vielleicht war es wirklich der falsche Weg gewesen, direkt mit der Anwältin aufzurücken? Vielleicht hätte sie erst einmal in Ruhe mit Marcel reden sollen?
„Ich würde dich unterstützen“, hatte er gesagt. Eileen verzog das Gesicht, das hörte sich irgendwie nach Wohlfahrt an. Als sei sie obdachlos und eine Bettlerin, die ihren tollen, reichen Mann um etwas Geld anbettelte.
Aber war es in gewisser Hinsicht nicht so?
Eileen fühlte sich verwirrt und wusste nicht mehr, was sie denken oder entscheiden sollte.
Wenn sie morgen wieder ihre Anwältin anriefe, würde dies nicht nur zusätzliche Kosten für sie bedeuten, sondern auch, dass Marcel konsequent seine uneinsichtige, harte Schiene fahren würde.
Dazu kannte sie ihn zu gut – er konnte unnachgiebig wie ein Fels sein, wenn er wollte. Und er gab niemandem mehr als ein oder zwei Chancen. Sie war da ganz anders, schon immer.
Wenn sie es sich jetzt mit ihm verdarb und er mit seinen Anwälten auf sie schießen würde – vermutlich würde sie untergehen. Sie hatte nicht seinen Eigensinn, seinen Biss und vor allem nicht seine finanziellen Mittel – und: im Gegensatz zu ihr hatte er fast nichts zu verlieren.
Die Rate weiter zu bezahlen würde ihm nicht allzu weh tun.
Erst vor wenigen Wochen, kurz vor der Trennung, hatte er angedeutet, dass er bald wieder befördert wurde, was natürlich eine saftige Lohnerhöhung mit sich gebracht hätte.
Vielleicht war dies sogar schon geschehen.
Es ging ihm letztlich also nur ums Prinzip.
Was sollte sie nur tun? Aufgeben, sich ihm unterordnen, so wie sie es wohl schon immer
getan hatte? Oder kämpfen, auch wenn es ganz klar so aussah, als würde sie verlieren.
Erneut kamen ihr die Tränen und wütend wischte sie mit der Hand über ihre Augen.
Weinen half auch nichts!
Sie musste sich irgendeine Möglickeit überlegen, Marcels Forderungen entgegen zu treten.
Mitten in ihre Gedanken hinein klingelte das Telefon. Sie ignorierte es. Es war ihr nicht danach, mit jemandem zu sprechen. Es war ihr nach gar nichts. Am liebsten hätte sie das Haus verriegelt und wäre nie wieder vor die Türe gegangen.
Nach einer halben Minute hörte das Telefon zu klingeln auf. Es war etwa zehn Sekunden still, dann klingelte es wieder. Eileen seufzte, ignorierte es jedoch immer noch und widmete sich weiter ihren trübsinnigen, aussichtslosen Gedanken und ihrem Toast, der in der Pfanne schon fast schwarz wurde.
Als das Telefon zum drittenmal klingelte und auch ihr Handy kurz darauf zu ringen anfing, seufzte sie und ging ins Wohnzimmer.
Wer war da nur so aufdringlich?
Schlecht gelaunt nahm sie den Hörer ab und meldete sich mit ihrem Namen.
„Spreche ich mit Frau Eileen Viersen?“, fragte eine unbekannte Stimme am anderen Ende der Leitung.
Eileen widerstand nur mit Mühe dem Impuls, sofort wieder aufzulegen. Sicherlich war dies wieder nur irgendeine Telemarketing-Agentur, die ihr die beste Creme für den teuersten Preis im „Sonderangebot“ verkaufen wollte oder irgendwelche Zeitschriften-Abonnements. Dazu hatte sie gerade gar keine Nerven!
Aber irgendetwas in ihr widerstand dem Impuls und sie sagte missmutig: „Ja, bin ich. Was ist?“
„Hier spricht das Kreiskrankenhaus West. Es geht um Ihren Mann.“
Eileen schluckte. Plötzlich fühlte sie sich eiskalt.
„Was… was ist mit ihm?“
„Er hatte einen Unfall. Wir wollten Sie informieren.“
Eileen schnappte nach Luft und hielt sich mit der Hand an der Couchlehne fest.
„Was… was ist passiert?“, stammelte sie mühsam.
„Es war ein Autounfall, auf dem Weg nach Hause“, erklärte die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Wir haben Ihre Nummer in seinem Geldbeutel gefunden, dann informieren wir immer die Angehörigen. Außerdem brauchen wir einige Angaben. Es wäre wohl das vernünftigste, wenn Sie vorbeikommen. Melden Sie sich einfach in der neurologischen Ambulanz bei Schwester Helling.“
„Ich… ja, natürlich“, sagte Eileen rasch und versuchte, ihre zitternden Knie in den Griff zu bekommen. „Ich komme sofort vorbei.“
Rasch legte sie den Hörer auf und blieb für einen Moment wie erstarrt neben der Couch stehen, unfähig sich zu bewegen.
Dann schreckte sie zusammen, als habe sie gerade erst begriffen, was man ihr gesagt hatte, warf einen gehetzten Blick an sich herunter und eilte dann so schnell es ging die Treppe hinauf. Im Schlafzimmer sprang sie in eine Jeans – ignorierte das Stechen im Bauch, das entstand, als sie die inzwischen zu enge Hose mit aller Macht zuknöpfte – und streifte sich einen Pullover über, dann lief sie wieder die Treppe hinunter.
Ihr Herz pochte ihr bis zum Hals, das Blut rauschte in ihren Ohren und sie zitterte am ganzen Körper. Was war nur geschehen, was war mit Marcel?
Fortsetzung folgt.