Er macht das Licht aus und legt sich auf seine Couch. Aber er kann nicht einschlafen, seine Gedanken sind bei dem verwirrten Mädchen, das ihn so sehr an seine eigene Enkeltochter erinnert.
Warum habt ihr mir das angetan? [beendet]
-
-
Jupiter
nö möchte ich nicht.The slayer und murderdoll
lasst euch überraschen, ich verrate noch nixgut, und jetzt mach ich weiter:
Miriam könnte weinen vor Müdigkeit und Verzweiflung, aber sie tut es nicht. Es gibt für sie nur noch eine Möglichkeit, sie muss im Park übernachten. Sie sieht wartende Taxis. Sie bräuchte nur einsteigen und sich nach Hause bringen lassen. Bestimmt würden sich ihre Adoptiveltern freuen, wenn sie reumütig zurückkehren würde. Zum erstenmal in dieser Nacht denkt Miriam an Isabella. Sie fühlt, wie sie sich um sie sorgt, spürt den Schmerz und die Angst, die sie ihr bereitet hat, aber bei diesem Gedanken kann sie noch weniger zurück.
Plötzlich wird ihr klar, dass Isabella sie immer geliebt hat, dass sie alles für ihr getan hat und dass sie es selbst ist, die Schuld an allem hat, dass sie ihr Elternhaus unüberlegt verscherzt hat. Isabella ist nicht ihre richtige Mutter, aber sie hat sie es nie fühlen lassen. Sie hat sie geliebt wie ein eigenes Kind, aber sie, Miriam, hat ihr die Liebe mit Undankbarkeit und Grausamkeit bezahlt.
Miriam schämt sich so sehr, dass sie glaubt, ihren Adoptiveltern nie mehr unter die Augen treten zu können.
Der Park ist fast ausgestorben. Nur noch wenige Leute sind hier.
Sie setzt sich auf eine Bank und hat nur den Wunsch die Nacht ungestört verbringen zu können. Die Augen fallen ihr zu. Sie schlummert ein.
Sie wacht auf, als sie jemand in die Seite stößt:“He, ist hier noch frei?“
Es fällt ihr schwer, ihre Augen zu öffnen. Miriam sieht flüchtig einen Mann, nickt leicht und lehnt sich wieder zurück.
Der Mann setzt sich. Sie achtet nicht mehr darauf. Ihr ist alles egal. „Möchten Sie sich nicht was verdienen?“, hört sie ihn sagen, als sie fast wieder eingeschlafen ist.
Miriam:“Lassen Sie mich in Ruhe!“
„Na so was!“, sagt der Mann „ich habe Ihnen doch nichts getan!“
Miriam sieht, wie ein Mann und eine Frau sich nähern. Polizei! schießt es ihr durch den Kopf. Mit einem Schlag ist sie hellwach. Aber es ist zu spät. An Flucht nicht mehr zu denken.
„Ausweiskontrolle“, sagt die Kriminalbeamtin in Zivil.
„Da kann man nur sagen – die Polizei, dein Freund und Helfer“, sagt der Mann neben ihr „Die da, die können Sie gleich mitnehmen. Die hat versucht, mich zu belästigen!“
„Das ist nicht wahr!“, ruft Miriam.
Mann:“Ich habe da nichtsahnend gesessen, da hat sie sich an mich rangemacht und...“
Miriam:“Sie lügen! Glauben Sie ihm kein Wort! Der Mann lügt!“
„Ihren Ausweis, bitte!“, sagt der Kriminalbeamte ungerührt.
Der Mann holt einen Ausweis aus seiner Brieftasche:“Hier, da haben Sie ihn! Ich habe nichts zu verbergen, mir können Sie schon glauben, was ich sage.“ -
Der Kriminalbeamte prüft den Ausweis, macht sich eine Notiz und gibt ihn zurück:“Verschwinden Sie, aber rasch!“
Mann:“Warum denn? Was fällt Ihnen ein?“
Beamte:“Verschwinden Sie! Uns können Sie nicht für blöd verkaufen. Sie haben das Mädchen angesprochen!“
Der Mann steht auf. „Ich werde mich über Sie beschweren. Methoden sind das! Und da heißt es immer, wir leben in einer Demokratie!“ Vor sich hin fluchend, verschwindet er eilig.
„Und nun zu Ihnen“, sagt der Kriminalbeamte. „Wie alt sind Sie?“
„18!“, sagt Miriam mit zitternder Stimme.
Beamte:“Kein Quartier?“
Miriam:“Nein. Ich – ich habe kein Hotelzimmer bekommen können.“
Beamte:“Darf ich Ihren Ausweis sehen?“
Miriam:“Den habe ich verloren.“
Der Kriminalbeamte steckt sein Notizbuch ein.
„Haben Sie Ihre Fahrkarte bei sich?“, fragt die Kriminalbeamtin ermunternd.
Miriam schüttelt stumm den Kopf.
„Das ist schlimm“, sagt die Beamtin „Dann müssen Sie uns Ihre Adresse geben. Vielleicht können wir Ihre Eltern erreichen.“
Miriam:“Ich habe keine Eltern.“
Die Kriminalbeamtin wechselt einen Blick mit ihrem Kollegen. „Wo leben Sie?“, fragt sie dann, und nach einer Pause:“Wie heißen Sie?“
Miriam bleibt stumm.
„Bitte, stehen Sie auf“, sagt die Beamtin. „Wir müssen Sie mitnehmen, bis Ihre Angelegenheit geklärt ist.“
Miriam drückt sich in die Ecke:“Aber, warum denn?“ ruft sie verzweifelt. „Ich – ich habe doch nichts verbrochen.“
Beamtin:“Das hat auch niemand gesagt. Regen Sie sich nicht auf, es passiert Ihnen ja nichts. Wir werden Ihnen ein Quartier für die Nacht besorgen, das ist alles. Bitte, kommen Sie jetzt, machen Sie uns keine Schwierigkeiten.“
Miriam steht zögernd auf. Sie begreift, dass ihr nichts anderes übrig bleibt. Ihr rechtes Bein ist eingeschlafen, sie knickt ein, als sie den ersten Schritt macht. Die Kriminalbeamtin fasst sie unter dem Arm und stützt sie. Mit hängendem Kopf geht Miriam neben ihr her.
„Danke“, sagt sie, als sie spürt, dass ihr Bein wieder in Ordnung ist, ich kann schon alleine...“
Aber der Griff der Beamtin bleibt unerbittlich.
„Hören Sie“, sagt die Kriminalbeamtin eindringlich „wenn ich Ihnen einen Rat geben darf – sagen Sie mir ganz ehrlich, was mit Ihnen los ist. Sie sind doch kein Straßenmädchen, das habe ich gleich gesehen. Erzählen Sie mir, wie Sie heißen ... Ich möchte Ihnen doch nur helfen!“
Miriam schweigt.
„Sagen Sie es mir im Vertrauen“, drängt die Beamtin. „Ich verspreche Ihnen, wenn Sie es nicht wollen, werde ich es nicht weitersagen. Wir können uns dann zusammen überlegen, was zu tun ist!“
„Nein“, sagt Miriam fast unhörbar. „Sie können mir nicht helfen. Niemand kann mir helfen ... Ich – ich muss alleine fertig werden.“
Die Kriminalbeamtin gibt es auf.
Vor dem Park wartet ein großes Auto. Die Beamtin öffnet die Tür an der Rückwand des Autos, ein Polizist hilft Miriam hinein. Die Tür fällt hinter ihr zu. Miriam sieht dumpfe, übernächtigte, betrunkene Gesichter.
„Platz für die Neue!“, ruft der Polizist.
Die Festgenommen rücken zusammen und Miriam lässt sich auf die Holzbank nieder.
Der Polizist sagt zum Fahrer:“Wir sind komplett, Gustav. Ab geht’s!“
Der Wagen setzt sich in Bewegung. Sie wird hin und her geschüttelt. Sie ist wie gelähmt vor Müdigkeit und Entsetzen. -
Es wird Sonntag.
Bernhard steht auf und zieht die Vorhänge auf. Das kalte Licht des frühen Tages fällt in das Zimmer.
Isabella wird von einem Schauer geschüttelt. Ihre Augen glänzen unnatürlich. Ihr Mann beobachtet es mit Besorgnis. „Komm, gehen wir schlafen, Isa!“, sagt er.
Sie sträubt sich:“Nein, nicht bevor Miriam...“
Bernhard:“Aber Isa! Glaubst du, dass du Miriam nutzt, wenn du krank wirst?“
„Ich – ich fühle mich ausgezeichnet“, lügt sie.
Bernhard legt seine Hand auf ihre Stirn:“Du hast ja Fieber!“ sagt er erschrocken.
Isabella:“Das ist gar nichts – nur die Aufregung!“
Bernhard:“Unsinn! Du legst dich jetzt sofort ins Bett, hast du verstanden? Komm!“
Isabella fühlt sich elend und schwindelig. Sie hat nicht mehr die Kraft, sich zu wehren. Sie ist dankbar, dass Bernhard seinen Arm unter ihren schiebt uns sie die Treppe hinaufführt. Sie ist so erschöpft, dass sie sich kaum auf den Beinen halten kann.
Trotzdem findet sie keinen Schlaf. Stunde um Stunde wälzt sie sich unruhig im Bett von der einen auf die andere Seite, von schrecklichen Bildern geplagt, und immer wieder murmelt sie:“Miriam – Liebling! Miriam!“
Gegen Mittag ruft Bernhard Dr. Krull, den Hausarzt, an. Er kommt eine halbe Stunde später und stellt ein schweres Nervenfieber fest. Er gibt Isabella eine Spritze, die ihr endlich Entspannung schenkt. (Sorry, ich weiß, der Arzt schaut aus wie ein Double von Elvis Presley :D)
„Steht es schlimm?“, fragt Bernhard.
„Ich fürchte, die Patientin hat einen schweren seelischen Schock erlitten“, sagt der Arzt „Der Verlauf der Krankheit ist nicht abzusehen. Möglicherweise kann sie sich rasch erholen – sie hat ja eine blendende Konstitution -, andererseits kann es...“ Er zuckt die Achseln.
„Braucht sie eine Pflegerin?“, fragt Bernhard.
„Das halte ich im Augenblick nicht für angebracht“, erklärt Dr. Krull, „ein fremdes Gesicht ... Sie wissen ja selbst, die Patientin ist sehr sensibel. Außerdem denke ich, dass Frau Beermann das schon alleine schaffen wird. Wo ist sie, damit ich ihr meine Anweisungen geben kann? Das Wichtigste ist jetzt Ruhe und noch einmal Ruhe. Jede Aufregung muss von der Patientin ferngehalten werden, jede! Verstehen Sie?“
Bernhard nickt stumm. Er will mit Dr. Krull nicht darüber reden, aber er weiß genau, was Isabella braucht, um wieder gesund zu werden.
Noch während der Arzt sich mit Frau Beermann unterhält, geht Bernhard zum Telefon und ruft die Polizei an. -
es geht weiter:
Miriam ist verzweifelt. In der Nacht ist alles nicht so schlimm gewesen. Apathisch vor Müdigkeit hat sie sich in die Zelle führen lassen, und kaum dass sie sich auf die Pritsche gelegt hat, die man ihr angewiesen hat, ist sie eingeschlafen. Tief und traumlos hat sie geschlafen, bis eine ihrer Zellengenossinnen, die sich Agathe nennt, sie wachrüttelt. „Aufstehen!“, brüllt sie ihr ins Ohr „Aufstehen!“
Miriam fährt hoch, noch vom Schlaf verwirrt fragt sie:“Was ist denn ... wo ... wo bin ich?“
„Auf jeden Fall nicht im Hilton“, sagt Agathe und die anderen Mädchen lachen beifällig. Als Agathe merkt, dass ihr Witz so gut ankommt, fügt sie gleich hinzu:“Die ist eine ganz Feine, die glaubt, sie kann bis Mittag schlafen und kriegt dann ihr Frühstück auf dem Tablett serviert!“
Miriam begreift, dass sie eingesperrt ist und plötzlich wird ihr klar, was am gestrigen Tag passiert ist. Sie schlägt die Hände vors Gesicht und weint. Sofort sind die drei Zellengenossinnen bei ihr. Mitleidige und spöttische Bemerkungen prasseln auf sie ein, einige der Kommentare sind so gemein, dass Miriam sie gar nicht versteht. Trotzdem hat sie das Gefühl, als wenn ein Kübel Schmutz über sie ausgeleert wird und unwillkürlich presst sie die Hände auf die Ohren. Es hilft ihr nichts. Die Mädchen haben begriffen, dass Miriam nicht zu ihnen gehört und sie lassen es sie spüren.
Eine von ihnen drückt Miriam einen Besen in die Hand und sagt:“Hier! Heul nicht! Mach dich lieber nützlich ... Du bist heute dran!“
Miriam muss den Zellenboden putzen, während die anderen nacheinander in den kleinen Waschraum verschwinden, aus dem jedes Mal, wenn die Tür geöffnet wird, eine Wolke von Gestank in die Zelle dringt.
Als Miriam endlich fertig ist und sich selbst waschen will, starrt das Becken vor Schmutz. Ausgekämmte Haare verstopfen fast den Abfluss und auch das kleine Stück Seife ist mit Haaren verklebt. Sie bringt es nicht über sich, sich in dem Becken zu waschen, hält nur schnell die Hände unter dem Strahl, hält ihr Gesicht darunter und trocknet sich an ihrem eigenen Taschentuch ab. Sie hat weder Kamm noch Bürste und muss ihre Haare mühsam mit allen zehn Fingern bändigen.
Als sie wieder in die Zelle tritt, haben die anderen ihre Betten schon gemacht und Miriam bemüht sich, es ihnen nachzumachen. Zu Hause hat sie noch nie ihr Bett selbst machen müssen. Sie stellt sich so ungeschickt an, dass die anderen lachen. Miriam beißt die Zähne zusammen und erwidert kein Wort auf ihre spöttischen Bemerkungen.
Sie ist noch nicht ganz fertig, als sich die Tür öffnet und eine Aufseherin reinkommt. „Guten Morgen, meine Damen!“, grüßt sie freundlich. „Alles in Ordnung?“
Niemand antwortet ihr. Die Mädchen tun so, als wenn sie ihren Eintritt übersehen hätten.
Die Aufseherin geht sofort in den kleinen Waschraum.
„Wer hat sich hier zuletzt gewaschen?“, fragt sie, als sie heraus kommt. Wieder bekommt sie keine Antwort.
„Ich will wissen, wer sich hier zuletzt gewaschen hat?“ Diesmal hat ihr Ton jede Freundlichkeit verloren.
„Ich!“, sagt Miriam kaum vernehmbar.
Aufseherin:“So, Sie? Kommen Sie mal her! Schauen Sie sich das an! Wenn Sie es vielleicht auch von Haus aus nicht anders gewohnt sind – so verlässt man bei uns keinen Waschraum. Bringen Sie das sofort in Ordnung, ja?“
Miriam:“Aber – ich habe doch gar nicht! Es war schon so, als ich hereinkam – ganz bestimmt!“
Aufseherin:“Egal. Sie waren als Letzte drin. Bringen Sie das in Ordnung. Auch das Klo, verstanden?“
Mit zusammengebissenen Zähnen macht sich Miriam an die Arbeit. Übelkeit überwältigt sie. Sie erbricht sich. Ihr Körper wird von Krämpfen geschüttelt, ihr Magen schmerzt.
Als sie in die Zelle zurückkehrt, hat ihr Gesicht eine grünliche Farbe angenommen. Die anderen haben inzwischen das Frühstück entgegengenommen.
„Hier, Blondie“, sagt Agathe gutmütig, „ich habe etwas für dich aufgehoben.“
Miriam schüttelt stumm den Kopf. Es ist ihr unmöglich, einen Bissen hinunterzubringen.
„Versuchs doch!“, drängt Agathe, „So schlecht schmeckts gar nicht. Natürlich kein Vergleich mit dem Kaviar, den du gewohnt bist!“
„Mir ist schlecht“, sagt Miriam gepresst.
„Ach so!“, Agathe glaubt zu verstehen. „Gestern zuviel gesoffen, wie? Na, macht nichts. Wenn du nichts dagegen hast, ess ich deine Ration mit! Aber trink doch wenigstens das Gesöff! Was Heißes in den Magen tut dir bestimmt gut.“
Miriam nimmt einen Schluck von dem schwarzen Ersatzkaffee. Nach und nach fühlt sie sich besser.
„Na also!“, sagt Agathe zufrieden. „Jetzt hau dich hin! Wenn du noch was springen lässt, spüle ich dein Geschirr für dich mit!“
Miriam:“Wieviel willst du haben?“
„fünf Sim-Dollar?“, schlägt sie vor.
Miriam zögert. Die Freundlichkeit Agathes tut ihr gut, sie will sie nicht vor den Kopf stoßen. Andererseits weiß sie nicht, ob sie ihr Geld nicht noch brauchen wird.Wird Miriam ihr Geld geben?
-
das soll kein gefängnis sein, sondern nur so ein aufbewahrungsraum.
„Kommt gar nicht in Frage“, mischt sich in diesem Augenblick ein anderes Mädchen, das Mimi heißt, ein. „Du spinnst wohl, Dicke! Du hast Blondies Frühstück gegessen, also spülst du auch ihr Geschirr aus – ist das klar?“
„Ich wollte doch bloß...“ murmelt Agathe unwillig.
Mimi:“Ja, absahnen! Dich kennen wir! Los, verdufte! Oder bist du scharf auf Schläge?“
Agathe verschwindet mit Miriams Geschirr im Waschraum.
Sie sind vier in der Zelle, Miriam, Agathe, Mimi und Lola.
Mimi holt ein Päckchen Karten hervor und fragt Lola:“Verheiratet, oder?“
Lola:“Geschieden.“
„Dann ... Karo-Dame!“ Mimi sucht die Karo-Dame aus dem Stapel, legt sie auf den Tisch und beginnt Karten zu legen.
Agathe, die wieder zurückgekommen ist, schaut auf die Karten und sagt:“So ein Quatsch!“ und wendet sich verächtlich ab.
Miriam sitzt auf einen Stuhl und starrt vor sich hin. Sie versucht krampfhaft ihre Gedanken zu ordnen. Was wird mit ihr geschehen? Sie müssen sie freilassen, das war sicher, sie hat ja nichts verbrochen. Sie können sie doch nicht einfach einsperren, wenn sie gar nichts getan hat. Bestimmt suchen ihre Eltern jetzt schon nach ihr. Plötzlich überfällt sie überwältigende Sehnsucht nach zu Hause, nach ihrer Mutter.
Wenn jetzt die Tür aufginge und Isabella hereinkommen würde – Miriam würde ihr weinend in die Arme sinken. Aber das Wunder, um das sie fleht, geschieht nicht. Miriam bleibt mit ihren Zellengenossinnen allein.
„Und wann...“, sagt Miriam, aber als sie merkt, dass ihr keiner zuhört beginnt sie noch einmal laut:“Wann kommen wir hier heraus?“
„Kommt ganz darauf an, was du ausgefressen hast!“, sagt Agathe.
Miriam:“Nichts!“
„Ach, du armes Unschuldslamm!“, sagt Agathe gleichgültig.
„Ich habe wirklich nichts gemacht!“, beteuert Miriam „Bloß – sie haben mich mitgenommen, weil ich im Park übernachten wollte.“
„So blöd möchte ich auch noch mal sein!“, sagt Mimi „Da hättest du dich genauso gut beim nächsten Polizisten melden können!“
„Ich wusste doch nicht“, sagt Miriam hilflos und verstummt, weil sie spürt, dass die anderen sie nicht verstehen.
„Mehr ist nicht drin“, sagt Mimi zu Lola und schiebt die Karten zusammen. „Den Pik-König kann ich dir auch nicht weghexen!“
Lola:“Schauderhaft. Versuchs doch noch mal!“
Mimi:“Kommt nicht in Frage! Willst du mal, Blondie?“
Miriam zuckt zusammen:“Ich? Was denn?“
Mimi:“Ich habe mir erlaubt, anzufragen, ob ich dem gnädigen Fräulein Karten legen darf.“
Miriam:“Ach so. Nein, danke. Das nützt ja eh nichts.
Mimi:“Stimmt allerdings. Aber manchmal ist es ganz gut, wenn man weiß, was passiert.“
„Dazu brauchst du doch keine Karten zu legen.“ Lola kommt hinzu. „Was mit der wird, kannst du dir an allen fünf Fingern abzählen. Morgen früh werden ihre lieben Eltern hier erscheinen, das Herzblatt in die Arme schließen und heim ins Körbchen bringen. Die ist doch von zu Hause ausgerissen, das sieht doch ein Blinder.“
„Haben sie dich geprügelt, Blondie?“, fragt Mimi.
Miriam:“Nein.“
Mimi:“Warum bist du dann weg? Steckt ein Kerl dahinter, was?“
„Nein.“, sagt Miriam wieder.
„Komm, mach deinen Mund auf.“, drängt Mimi. „Du solltest dich von uns beraten lassen.“
„Meine Eltern...“, sagt Miriam und schluckt, „die sind gar nicht meine Eltern. Sie haben mich bloß adoptiert.“
Mimi hebt den Kopf und starrt sie an wie ein Wundertier. „Und deshalb bist du weg?“
Miriam:“Ja.“
Mimi:“Du musst einen Knall haben!“
„Ich habe mir gleich gedacht, dass die nicht sauber ist!“, sagt Agathe.
„Ich möchte hier heraus!“. Miriam ist verzweifelt.
Mimi:“Meinst du, wir nicht? Du hast Begriffe! Haben deine Alten Geld?“
Miriam:“Ja.“
Mimi:“Warum rennst du dann weg, statt abzukassieren? Menschenskind, wenn jemand mit Zaster mal auf die Idee gekommen wäre, mich zu adoptieren – ich wäre verrückt geworden. Bis zur Decke wäre ich gesprungen, sage ich dir. Für einen Haufen Geld lohnt es sich schon, das liebe Kind zu spielen.“
„Aber ich will nicht!“, sagt Miriam wild. „Ich – versteht ihr denn nicht, dass ich das nicht kann?“
Mimi:“Du bist ein bisschen plemplem, meine Süße ... Aber mach dir nichts draus, das kann nur schlimmer oder besser werden.“
Miriam:“Ich will wissen, wer meine wirkliche Mutter ist!“
Mimi:“Und was hast du davon, wenn du es weißt?“
Lola:“Sag mal, wie alt bist du denn, Blondie?“
Miriam:“18.“
Lola mustert sie abschätzend:“Naja, vielleicht bist du’s in zwei Jahren wirklich. Verdammt schade. Auf jeden Fall zu alt.“
Miriam:“Zu alt?“
Lola:“Na klar. Ich hab mal so ein Würmchen weggegeben. War ich froh, als ich es los war. Aber es wäre doch nett gewesen, wenn wir uns hier wieder getroffen hätten ... Mutter und Tochter im Knast. Wie würde dir das gefallen?“
Mimi und Lola lachen.
„Meine Mutter ist bestimmt nicht...“, protestiert Miriam. Sie spricht den Satz nicht zu Ende, sondern beißt sich auf die Lippen.
„...nicht eine so wie wir, wolltest du wohl sagen, wie?“, sagt Mimi ungerührt. „Bilde dir nur nichts ein. Warum hätte sie dich sonst weggegeben? Jetzt fang nicht gleich an zu weinen, Kleine ... Ein armes Mädel gerät leicht ins Unglück. Was ist schon dabei? Aber freuen wird sie sich bestimmt nicht, wenn du plötzlich auftauchst. Ein Kind kann man sich bloß erlauben, wenn man Geld hat. Und die hat bestimmt keins.“
Mit Miriams Fassung ist es vorbei. Sie schluchzt auf:“Ihr seid so gemein...“
Mimi:“Klar sind wir das. Uns fehlt die gute Kinderstube. Sei froh, dass du sie hast, Blondie ... Geh nach Hause zu deinen Alten, heul ihnen was vor, mach dich wieder Liebkind! Zu was anderem taugst du nicht.“ -
Als Isabella aufwacht, ist es Abend geworden. Ihr Mann sitzt, ein Buch in der Hand, an ihrem Bett. Sie schenkt ihm ein schwaches, etwas verzerrtes Lächeln.
„Besser, Isa?“, fragt er besorgt und schlägt das Buch zu.
Isabella:“Viel besser. Miriam – ist sie...?“
Bernhard:“Ja, Isa, mit Miriam ist alles in Ordnung.“
Isabella:“Ist sie – hier?“
Ihr Mann drückt sie sanft wieder in die Kissen zurück:“Noch nicht, Isa – aber du brauchst dich wirklich nicht aufzuregen...“
Isabella:“Lüg mich nicht an, Bernhard! Du weißt, ich kann die Wahrheit ertragen.“
Bernhard:“Es ist die Wahrheit, Isa. Miriam ist nichts passiert, sie ist in Sicherheit. Bitte, lass mich doch erzählen! Ich habe die Polizei angerufen. Sie haben Miriam gefunden.“
Isabella:“Wo?“
Bernhard:“Im Park. Sie hatte keine Papiere und die Kriminalbeamtin hat gleich gemerkt, dass sie von zu Hause ausgerissen ist. Sie haben sie mitgenommen.“
Isabella:“Aber warum – warum hat man uns nicht sofort verständigt? Diese Kriminalbeamtin – wenn sie wusste, dass das Kind fortgelaufen ist – warum hat sie uns nicht angerufen?“
Bernhard:“Miriam hatte keine Papiere, ich habe es schon mal gesagt.“
Isabella:“Aber trotzdem...“
Bernhard:“Sie wollte ihren Namen nicht nennen.“
Einen Augenblick bleibt Isabella ganz still. Dann sagt sie:“Warum – Bernhard, begreifst du – warum hat sie nicht gesagt, wer sie ist?“
Bernhard räuspert sich:“Nun hör mal zu, Isa, das sind doch alles Kindereien. Wer weiß denn, was in so einem jungen Mädchen vorgeht. Außerdem – die Hauptsache ist doch, dass ihr nichts passiert ist. Vielleicht werde ihr diese Tage eine heilsame Lehre sein, weißt du. Gleich morgen früh werde ich sie abholen und dann...“
„Nein“, sagt Isabella.
Er sieht sie fragend und verständnislos an.
„Du wirst sie nicht abholen“, erklärt Isabella entschlossen.
Bernhard:“Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. Erst bist du halb verrückt vor Sorge, weil das Kind verschwunden ist, und jetzt, wo wir sie endlich wiedergefunden haben, da willst du nicht, dass ich sie abhole?“
„Es wäre falsch, Bernhard. Du weißt so gut wie ich, warum sie ihren Namen nicht genannt hat. Weil sie nicht wieder nach Hause zurück wollte. Ja, so ist es.“ Ihre Stimme zittert. „Das ist ziemlich bitter nach all den Jahren, nicht wahr?“
Bernhard:“Isa! Du übertreibst mal wieder. Vielleicht hat sie nur deshalb nicht sagen wollen, wer sie ist, weil sie uns keine Schande machen wollte, weil es ihr peinlich war.“
Isabella:“Nein, das glaube ich nicht. Sie ist weggelaufen, weil sie von uns nichts mehr wissen will. Und sie hat ihren Namen nicht genannt, weil sie nicht will, dass man sie uns zurückbringt.“
Bernhard:“Da müsste sie ja verrückt sein, Isa. Nach allem, was wir für sie getan haben!“
Isabella:“Es ist unsere Schuld, Bernhard. Vielleicht haben wir zuviel für sie getan – oder zu wenig. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eines, es wäre falsch, sie mit Gewalt zurückzubringen.“
Bernhard:“Mit Gewalt! Wie du sprichst! Glaubst du etwa, ich würde sie an den Haaren hierher zerren!?“
Isabella:“Sie muss selbst entscheiden, Bernhard ... Versteh mich doch! Möglich, dass sie freiwillig mitgehen würde, aber es wäre dann doch nicht ihr eigener Entschluss. Ich liebe Miriam, ich glaube nicht, dass eine wirkliche Mutter ihr Kind mehr lieben kann. Aber ich will nicht, dass sie bei uns bleibt, weil wir sie dazu zwingen oder weil ihr keine andere Möglichkeit bleibt.“
Bernhard:“Welches Kind hat schon die Chance, sich seine Eltern selbst auszusuchen?“
Isabella:“Vielleicht keines. Du hast recht. Nur vergisst du, dass Miriam nicht unser Kind ist. Wir haben sie nicht von Gott bekommen, sondern wir haben sie aus eigener Macht zu uns genommen. Vielleicht war es ein Fehler. Vielleicht... Bernhard, es ist alles so – so furchtbar.“
Bernhard:“Wenn Miriam morgen wieder hier ist...“
Isabella:“Nein, glaub mich doch, Bernhard. So geht das nicht. Selbst wenn sie morgen wieder hier ist, woher wissen wir denn, dass sie nicht acht Tage später oder in einem halben Jahr wieder versucht auszureißen? Nein, ich könnte eine solche Nacht nicht noch einmal durchmachen, Bernhard, ich könnte es nicht.“
Bernhard:“Sie wird es nicht wieder tun, Isa.“
Isabella:“Das glaubst du selbst nicht, Bernhard. Sie wird es wieder tun, sobald wir ihr wegen einer Kleinigkeit Vorwürfe machen – sobald wir ihr irgendeinen Wunsch verweigern. Und selbst wenn sie es nicht täte, wir würden immer Angst davor haben. Unter solchen Umständen kann man kein Kind erziehen.“
„Ich weiß nicht, was du dir da in den Kopf gesetzt hast, Isa“, sagt Bernhard hilflos.
Isabella:“Ich mache mir nichts vor, Bernhard, das ist alles.“
Bernhard:“Aber wenn sie sie morgen freilassen und wir uns nicht um sie kümmern – was um Himmels willen soll sie dann tun? Sie ist doch noch viel zu jung, um sich alleine durchzuschlagen, sie hat doch nichts gelernt. Nein, Isa, ich verstehe dich wirklich nicht mehr. Es wäre verantwortungslos, wenn wir sie jetzt im Stich lassen.“
Isabella:“Ich will sie nicht im Stich lassen, Bernhard. Du verstehst mich ganz falsch. Ich will sie nur nicht hier haben. Nicht, bevor sie nicht freiwillig zurückkommt – nicht, bevor sie nicht weiß, dass wir sie lieben und dass sie uns braucht.“
Bernhard:“Was hast du vor?“
Isabella:“Miriam will ihre wirkliche Mutter kennen lernen. Sie soll ihren Willen haben.“
Miriam verbringt eine schlimme Nacht. Es ist das erste Mal in ihrem Leben, dass sie keinen Schlaf findet. Unruhig wälzt sie sich hin und her, von Angst, von Gewissensbissen, von Verzweiflung geplagt. Sie fühlt sich ausgestoßen und jämmerlich allein.
Damals, vor zwei Jahren, als sie schwere Diphtherie gehabt hat, waren die Nächte auch schlimm gewesen. Aber damals war sie nicht allein gewesen, Isabella hat an ihrem Bett gesessen und immer, wenn Miriam aus ihren Fieberträumen hochfuhr, hat sie ihr ein Glas mit Orangensaft an den Mund gehalten, hat sie ihr das Kopfkissen aufgeschüttelt, tröstend und beruhigend auf sie eingesprochen. Noch in ihren Schmerzen hat Miriam sich unendlich geborgen gefühlt. Heute ist sie allein.
Die anderen schlafen. Agathe murmelt hin und wieder etwas Unverständliches im Traum, Mimi liegt auf dem Rücken und schnarcht.
Am nächsten Morgen wird Miriam in das Büro gebracht. Die Frau hinter dem Schreibtisch sieht Miriam freundlich prüfend an. „Es liegt nichts gegen sie vor. Sie haben noch einmal Glück gehabt. Aber glauben Sie mir, manchmal gehen solche Dinge auch anders aus, ganz anders. Warten Sie einen Augenblick, ich werde sehen, wer Sie jetzt gleich nach Hause bringen kann.“
Miriam protestiert:“Aber – ich kann doch genauso gut alleine nach Hause gehen.“
Die Frau lächelt:“Das möchte ich lieber nicht. Denken Sie nur mal, was Ihr Vater uns für Vorwürfe machen würde, wenn sie unterwegs wieder verloren gehen würden.“
Miriam:“Aber – ich gehe bestimmt nicht...“
Frau:“Wollen Sie mir Ihr Ehrenwort geben, dass Sie von hier aus sofort nach Hause fahren?“
Miriam schweigt.
„Das habe ich mir gedacht“, sagt die Frau und lehnt sich zurück. „Schade.“
„Ich will nicht nach Hause!“, stößt Miriam hervor. „Ich – ich kann nicht!“
Sie sucht nach Worten, aber sie kann dieser ruhigen, selbstsicheren Frau unmöglich erklären, wie verletzt sie ist, dass weder ihr Vater noch ihre Mutter gekommen ist, um sie abzuholen. Sie kann ihr nicht klarmachen, wie sehr sie sich selber schämt und dass sie sich noch mehr schämen wird, wenn sie jetzt nach Hause zurückkehren würde. Mimis Worte schießen ihr durch den Kopf:“Kassier die Kohle ab und mach dich Liebkind.“ – Schon deshalb will sie nicht zurück. Aber das kann sie unmöglich sagen. „Ich will nicht!“, ist das einzige, was sie herausbringt.
Frau:“Darf ich fragen, was Sie sonst für Pläne für Ihre Zukunft haben?“
Miriam:“Ich will arbeiten.“
Frau:“Sehr schön. Und an was haben Sie da gedacht?“
Miriam:“An – an irgendwas. Vielleicht – vielleicht als Sekretärin oder als Verkäuferin.“
Frau:“Haben Sie eine Ausbildung in einem dieser Berufe?“
Miriam:“Nein.“
Frau:“Nun gut. Ich werde Sie in das Dorotheenheim überweisen. Bekommen Sie keinen Schreck. Das ist kein Erziehungsheim, sondern wir bringen dort nur junge Mädchen unter, mit denen die Eltern nicht mehr zurechtkommen. Sie werden dort erst einige Monate im Haushalt arbeiten ... Das schadet nie. Später werden wir Ihnen dann eine Stellung vermitteln. Sind Sie damit einverstanden?“
Miriam:“Warum – warum wollen Sie mich wieder einsperren?“
Frau:“Wir sperren Sie nicht ein. Aber Sie müssen doch einsehen, dass wir Sie nicht, so wie Sie sind – jung, unerfahren, ohne Geld und ohne eine Berufsausbildung -, auf die Straße schicken können. Natürlich, wenn Sie sich mit Ihrem Vater in Verbindung setzen wollen...“
„Nein“, sagt Miriam „bitte nicht.“
Frau:“Na also. Sie werden sehen, Sie werden sich im Dorotheenheim ganz wohl fühlen, aber vergessen Sie eines nicht...“ Die Frau beugt sich vor und sieht Miriam ernst an:“Ihr Elternhaus steht Ihnen immer offen ... Es liegt nur an Ihnen, den Weg zurückzufinden.“Ich hoffe euch hat meine Fortsetzung gefallen, bald gibts die Nächste Über Comments freu ich mich wie immer
Liebe Grüße
Niki -
Isabella ruft am Abend Lissy Ackermann an.
„Oh, Isa, du!“, ruft Lissy erstaunt und fügt sofort erschrocken hinzu:“Ist etwas passiert?“
Isabella:“Ja, Lissy, leider. Ich muss dich dringend sprechen.“
Lissy:“Etwas - mit Till?“
Isabella:“Es handelt sich um Miriam.“
„Ach so.!“ Lissys Stimmt klingt erleichtert. „Ist sie krank?“
Isabella:“Nein, sie ist fort. Ich kann dir das nicht alles am Telefon erzählen, Lissy. Du musst zu mir kommen.“
Lissy:“Aber, Isa – beim besten Willen – du weißt doch genau, Alex und die Kinder...“
Isabella:“Ich muss dich sprechen, Lissy.“
Einen Augenblick bleibt es still in der Leitung, dann sagt Lissy:“Gut, ich werde morgen früh gegen zehn Uhr bei dir sein, wenn ich es irgendwie einrichten kann.“
Isabella:“Du musst es einrichten, Lissy. Also dann, bis morgen...“
Bernhard hat dem Telefongespräch zugehört. „Ich weiß nicht, was du dir davon versprichst“, sagt er, „Lissy Ackermann wird niemals...“
Isabella:“Miriam ist doch ihr Kind, Bernhard. Glaubst du wirklich, dass eine Mutter ihr Kind in einer solchen Situation im Stich lassen kann?“
Bernhard:“Sie hat Miriam schon einmal im Stich gelassen, vergiss das nicht.“
Isabella:“Wann? Ach so, du meinst ... Aber damals, das war doch was ganz anderes. Was hätte sie mit einem Baby anfangen sollen? Sie hatte keine Wahl.“
Bernhard:“Man hat immer eine Wahl, Isa. Wer hätte sie daran hindern können, das Kind zu behalten?“
Isabella:“Dann wäre ihr ganzes Leben verpfuscht gewesen.“
Bernhard:“Das ist nun doch sehr die Frage. Wahrscheinlich hätte sie Alex Ackermann trotzdem kennen gelernt, und, nach allem, was ich von ihm gehört habe, hätte er sie wohl auch mit dem Kind geheiratet. Nein, sie wollte das Kind damals nicht haben. Und ich zweifle sehr daran, dass sie sich heue mehr für Miriam interessiert. Du wirst es erleben.“
Isabella sieht ihren Mann nachdenklich an:“Ich glaube, du irrst dich. Du bist ein Mann, du verstehst das nicht. Ich werde nie vergessen, wie sehr sie geweint hat, als wir Miriam abholten. Erinnerst du dich noch?“
Bernhard:“Sie hat über ihr eigenes verpfuschtes Leben geweint, Isa, mach dir doch nichts vor. Sie war heilfroh, dass wir ihr die Verantwortung für Miriam abgenommen haben.“
Isabella:“Du bist sehr hart in deinen Urteilen, Bernhard!“
Bernhard:“Und du machst dir wieder einmal Illusionen, Isa. Wann wirst du endlich lernen, die Menschen nicht nach deinem eigenen Charakter einzuschätzen?“
Der nächste Tag ist strahlend und warm.
Isabella empfängt Lissy auf der kleinen Terrasse hinter dem Haus.
„Entschuldige, wenn ich nicht aufstehe“, sagt sie, „aber...“ Ihr Gesicht wirkt müde und traurig. Sie wirkt, als wäre sie in den letzten Tagen der Krankheit um Jahre gealtert.
Lissy:“Bist du krank? Du siehst entsetzlich schlecht aus, Isa!“
Isabella zwingt sich zu einem Lächeln:“Es geht mir schon wieder besser, Lissy. Kein Grund zur Aufregung. Bitte setz dich doch. Mach es dir bequem.“
Lissy:“Danke, Isa. Aber ich habe nur furchtbar wenig Zeit!“
Isabella denkt, dass Lissy sich zu jugendlich anzieht.
Isabella:“Wie geht es deinem Mann und den Kindern?“
Lissy:“Danke, sehr gut. Das heißt, der Kleine hat sich einen Schnupfen geholt. Aber – du hast mich doch sicher nicht kommen lassen, um mit mir über meine Familie zu sprechen?“
Isabella:“Nein.“
Lissy setzt sich zu Isabella. „Was ist mit Miriam?“, fragt sie. „Sag’s doch endlich! Ich glaube zwar kaum, dass ich dir helfen kann...“
Isabella:“Du musst mir helfen, Lissy.“
Lissy:“Ich? Aber wie denn? Ich habe das Kind ja seit Jahren nicht mehr gesehen, und überhaupt...“
Isabella:“Bitte, Lissy, nun hör doch erst mal zu. Du weißt ja noch gar nicht, was passiert ist.“
Lissy:“Du tust ja gerade so, als wenn es eine Katastrophe gegeben hätte, Isa! Dabei kann ich mir gar nicht denken...“
Isabella:“Es ist eine Katastrophe, Lissy. Es tut mir leid, dass ich dir das sagen muss. Wir haben alles getan, um allein damit fertig zu werden, aber jetzt kannst nur noch du helfen. Miriam ist weggelaufen...“
Lissy:“Was? Und ihr wisst nicht, wo sie ist?“
Isabella:“Doch. Sie ist im Dorotheenheim. Bernhard war dort. Er sagt, dass Miriam sich ganz gut einfügt.“
Lissy:“Na also! Weshalb machst du dann so ein Theater?“
Isabella:“Ich mache kein Theater, Lissy. Miriam hat herausbekommen, dass wir sie adoptiert haben...“
Lissy unterbricht sie mit einer heftigen Handbewegung:“Warum um Himmels willen habt ihr ihr das gesagt?“
Isabella:“Da du nur wenig Zeit hast, Lissy, möchte ich mich auf das Wesentlichste beschränken, ja? Das Ganze ist nämlich eine ziemlich komplizierte Geschichte. Jedenfalls hat sie es herausbekommen und will nun unbedingt wissen, wer ihr wirklichen Eltern sind. Natürlich konnten wir ihr das nicht sagen. Schon deinetwegen nicht, Lissy. Deshalb ist sie weggelaufen. Die Polizei hat sie nachts im Park aufgefischt, und jetzt ist sie im Dorotheenheim. Verstehst du endlich?“
Lissy:“Kein Wort. Hat sie etwas angestellt? Hat man sie deshalb in das Heim gesteckt?“
Isabella:“Nein – sie wollte nicht mehr zu uns zurück.“
Einen Augenblick bleibt Lissy ganz still. Dann sagt sie:“Das tut mir entsetzlich leid für dich, Isa. Ich weiß doch genau, was du alles für das Kind getan hast.“
Isabella:“Wahrscheinlich habe ich es falsch gemacht, Lissy. Wahrscheinlich muss man ein Kind doch unter Schmerzen gebären, wie es so schön heißt, um es nachher richtig erziehen zu können. Du bist Miriams Mutter, Lissy. Deshalb habe ich dich jetzt um Hilfe gebeten.“
Lissy:“Aber – ich verstehe nicht, Isa ... Was kann ich denn dabei tun?“
Isabella:“Du musst mit ihr reden, Lissy. Du musst ihr alles erzählen. Sie ist alt genug, um die Wahrheit zu erfahren.“
Lissy:“Ich? Ich soll...?“
Isabella:“Ja. Wenn du es nicht willst, muss ich es tun.“
Lissy:“Nein, Isa! Nein! Du meinst ... Du willst ihr sagen, dass ich ihre Mutter bin? Das ist ganz ausgeschlossen.“
Isabella:“Du sollst es ihr sagen, Lissy!“
Lissy:“Aber, Isa! Das ist doch ganz und gar unmöglich. Wie bist du nur auf diese Idee gekommen?“
Isabella:“Weil Miriam es wissen will. Sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren. Ich glaube, sie bildet sich ein, wir hätten die Notlage eines unglücklichen Mädchens ausgenutzt, um sie zu bekommen, oder so etwas Ähnliches. Anders kann ich mir ihr Verhalten nicht erklären. Du musst ihr sagen, dass es anders war.“
Lissy streicht sich mit einer nervösen Geste durch ihr gefärbtes Haar:“Würde es nicht genügen, wenn du ihr die ganze Geschichte erzählst, ohne Namen zu nennen?“
Isabella:“Nein. Sie würde mir nicht glauben.“
Lissy:“Aber – sie kann sich doch nicht einbilden, dass du dir so eine Geschichte einfach ausdenkst.“
Isabella:“Oh doch. Sie war außer sich, weil wir sie all die Jahre belogen haben. Natürlich ist es töricht von ihr, das brauchst du mir nicht zu sagen. Aber sie ist eben noch ein Kind, ein ganz und gar verzweifeltes Kind, verstehst du? Du musst ihr jetzt helfen.“
Lissy:“Ich kann nicht.“
Isabella:“Lissy!“
Lissy:“Ich weiß, du hältst mich für feige, für herzlos. Aber ich kann es nicht, Isa.“
Isabella:“Schade. Du lässt mir keine Wahl. Dann muss ich es wohl selbst tun.“
Lissy:“Isa, ich bitte dich ... Du hast dir etwas in den Kopf gesetzt, was ganz und gar sinnlos ist!“
Isabella:“Nein. Ich kenne Miriam. Es ist die einzige Möglichkeit, ihr zu helfen. Man muss ihr die Wahrheit sagen.“
Lissy:“Was mit mir passiert, daran denkst du gar nicht?“
Isabella:“Was soll schon mit dir passieren?“
Lissy:“Dass Miriam eines Tages bei uns vor der Tür steht.“
Isabella:“Wäre das wirklich so schlimm?“
Lissy:“Es wäre entsetzlich, Isa. Du weißt, dass ich Alex nie von dieser Geschichte erzählt habe. Du hast mir zwar immer geraten, es zu tun, aber ich konnte es nicht. Verstehst du denn nicht? Ich konnte es nicht. Wenn man viele glückliche Jahre mit einem Mann verheiratet ist, kann man ihm nicht einfach sagen, dass man schon früher mit einem anderen Mann ein Kind gehabt hat. Versetz dich doch einmal in meine Situation! Vielleicht hätte er mir das Kind verziehen, wenn ich es ihm damals gesagt hätte, als er mich heiraten wollte. Aber jetzt – nach all den Jahren ... Nein, Isa, er darf es nie erfahren. Niemals!“
Isabella:“Auch wenn Miriam zugrunde geht?“
Lissy:“Du übertreibst. Sie hat vielleicht einen Schock bekommen, als sie so plötzlich erfahren hat, dass ihr nicht ihre wirklichen Eltern seid, aber sie wird darüber hinwegkommen. Sie ist schließlich jung und gesund.“
Isabella:“Gerade weil sie jung ist, Lissy. Sie ist zu jung, um damit fertig zu werden.“
Lissy:“Du hast doch selbst gesagt, dass sie sich im Dorotheenheim gut einfügt, nicht wahr?“
Isabella:“Aber dort kann sie doch nicht lange bleiben, Lissy. Das ist keine Lösung.“
Lissy:“Dann hol sie doch heraus. Ich wette, sie hat längst eingesehen, wie dumm sie sich benommen hat, und wie wird heilfroh sein, wenn ihr sie zurückholt.“
Isabella:“Du kennst Miriam sehr schlecht, Lissy. Wenn sie jetzt zurückkäme, würde sie die Achtung vor sich selbst verlieren. Das, was geschehen ist, würde immer zwischen uns stehen. Wie eine Wand. Ich kann sie nur zurückholen, wenn ich ihr die Wahrheit sage.“
Lissy:“Das darfst du nicht! Du würdest mein Leben zerstören.“
Isabella:“So kommen wir nicht weiter, Lissy. Kannst du denn wirklich kein Fünkchen Liebe, kein Fünkchen Verantwortungsgefühl für das Kind aufbringen? Sie ist doch deine Tochter, dein Fleisch und Blut. Du musst doch genauso sehr den Wunsch haben, ihr zu helfen wie ich!“
Lissy:“Ich würde ihr helfen, Isa – glaub mir doch! – wenn ich könnte. Aber mir sind die Hände gebunden. Was würde es Miriam denn nützen, wenn sie alles erfährt, und meine Ehe geht dabei in Brüche? Wir würden ihr eine Verantwortung aufhalsen, der sie gar nicht gewachsen wäre.“
Isabella:“Tu doch nicht so, als wenn du jetzt an Miriam denkst! Du denkst nur an dich, Lissy. Du hast all die Jahre immer nur an dich gedacht.“
Lissy:“Du tust mir unrecht, Isa. Ich denke an meinen Mann und meine beiden Kinder ... Paul und Susi sind meine wirklichen Kinder. Ich habe sie nicht nur geboren, sondern – sie gehören mir, wie Miriam mir nie gehört hat. Sie muss ich schützen, Miriam...“ Lissy zuckt die Schultern.
Isabella:“Sie ist dir also egal?“
Lissy:“Nein. Ich möchte, dass es ihr gut geht und dass sie glücklich ist. Natürlich möchte ich das. Wenn eine wirkliche Gefahr für sie bestünde...“
Isabella:“Aber die besteht ja, Lissy. Bitte, versteh mich doch endlich! Es ist ja nicht nur das mit der Adoption. Es sind noch andere Dinge vorgefallen. Ich wollte dich nicht damit belasten, aber du zwingst mich dazu, es dir zu erzählen. Sie hat sich in Nachtlokalen herumgetrieben, sie hat einen Mann mit nach Hause gebracht. Nein, es ist nichts passiert, Lissy. Noch nicht. Aber erinnere dich doch an deine eigene Jugend. Wie alt warst du, als Miriam zur Welt kam?“Lissy:“18. Warum fragst du? Du weißt es doch ganz genau!“
Isabella:“Ich dachte, du hättest es vielleicht vergessen. Miriam ist deine Tochter! Willst du es verantworten, dass ihr vielleicht dasselbe zustößt wie dir? Du hattest ein intaktes Elternhaus...“
Lissy:“Meine Eltern haben mich nie verstanden.“
Isabella:“Siehst du! Du sprichst auch heute noch genau wie Miriam. Sie ist auch überzeugt, dass wir sie nicht verstehen. Sie kann es sich mit noch mehr Grund einreden als du damals, denn sie weiß, dass wir nicht ihre Eltern sind. Dabei bin ich sicher, du tust deinen Eltern genauso unrecht wie Miriam uns. Auch deine Eltern werden dich geliebt haben.“
Lissy:“Aber sie haben es mir nie gezeigt.“
Isabella:“Das kann ich nicht beurteilen, Lissy. Jedenfalls steht fest, dass Miriam heute mindestens genauso gefährdet ist, wie du es damals warst. Wir müssen sie vor demselben Schicksal bewahren. Ja, natürlich, das Dorotheenheim ist großartig. Aber glaubst du, dass eine Heimerziehung einem Mädchen wire Miriam einen Halt geben kann? Ganz davon zu schweigen, dass die anderen Mädchen bestimmt auch keinen guten Einfluss auf Miriam ausüben werden. All diese Mädchen dort haben keine Eltern oder schlimme häusliche Verhältnisse, oder sie sind aus anderen Gründen gefährdet. Bildest du dir ein, dass Miriam von solchen Mädchen etwas Gutes lernen kann?“
Lissy kaut nervös auf ihrer Unterlippe.
Lissy:“Du hast natürlich recht. Sie muss da raus! Könntet ihr sie nicht in ein Internat geben? Ich meine – in ein ganz normales Internat?“
Isabella:“Das hatten wir vor. Bevor die Sache passiert ist. Aber jetzt ... Sie will nichts von uns annehmen, und ich halte es für falsch, sie dazu zu zwingen, bevor nicht wieder alles in Ordnung ist.“
Lissy:“Vielleicht ... Man müsste eine Familie finden, die sie aufnimmt.“
„Hör mal, Lissy!“ Isabella richtet sich kerzengerade auf. „Könntest du das nicht tun? Bitte, sag jetzt nicht gleich nein. Überleg dir erst einmal meinen Vorschlag. Sie kennt dich gar nicht, nicht wahr? Sie weiß nicht einmal, dass wir befreundet sind. Du brauchst einfach ins Dorotheenheim zu gehen und um eine Hilfe für den Haushalt zu bitten – zur Betreuung deiner Kinder, verstehst du?“
Lissy:“Aber würden sie mir Miriam überhaupt geben?“
Isabella:“Natürlich. Bernhard braucht das doch bloß mit der Direktorin auszumachen. Dann hättest du sie bei dir zu Hause. Alex bräuchte gar nicht zu erfahren, dass sie deine Tochter ist. Miriam auch nicht. Aber du könntest auf sie aufpassen, du könntest versuchen, sie zu beeinflussen ... Verstehst du, was ich meine?“
„Ja“, sagt Lissy zögernd.
Isabella:“Und?“Wird Lissy sich um ihre Tochter Miriam kümmern?
-
so, nach einer etwas längeren pause geht es mit einer großen fortsetzung weiter:
„Ich habe Angst.“, sagt Lissy.
Isabella:“Angst! Wovor denn?“
Lissy:“Ich weiß es selbst nicht – aber ich habe Angst.“
Isabella:“Es soll ja nur für ein paar Monate sein, Lissy, dann werden wir weitersehen. Nur so lange, bis sie über ihren Schock hinweg gekommen ist. Bitte, Lissy, du musst es tun! Du kannst sie doch nicht so im Stich lassen.“
Lissy lächelt bitter. „Was bleibt mir anderes übrig. Du zwingst mich ja dazu.“
Isabella:“Ich danke dir, Lissy – ich danke dir!“
Am Sonntagmorgen öffnet Frau Beermann einem frühen Besucher die Haustür. Es ist Gregor. Sie hat ihn noch nie gesehen. „Sie wünschen?“, fragt sie erstaunt.
„Ich möchte – kann ich Miriam sprechen?“, fragt er.
Frau Beermann: „Das tut mir leid, Miriam ist nicht da.“
Gregor: „Nicht?“
Frau Beermann: „Nein.“
Gregor: „Ich bin Gregor Hellmer, ich wollte ... Ist sie verreist?“
Frau Beermann nickt.
Gregor: “Wann kommt sie denn wieder?“
Frau Beermann zögert. Was soll sie diesem ahnungslosen Jungen sagen? „Ich weiß nicht.“
Gregor: „Aber Sie müssen doch...“
Frau Beermann: „Nein.“
Gregor: „Ist sie wirklich nicht hier?“
Frau Beermann betrachtet Gregor prüfend. Er gefällt ihr und er tut ihr leid. „Wenn Sie einen Augenblick warten möchten“, sagt sie, „vielleicht hat Herr Schneider Zeit für Sie.“
„Bitte“, sagt Gregor.
Als ihn Frau Beermann ins Haus reinlässt, sieht sie, wie er schnell etwas im Schirmständer verschwinden lässt.
Frau Beermann führt ihn ins Esszimmer. Bernhard sitzt am Tisch und frühstückt. Er winkt Gregor mit einer Handbewegung, sich zu setzen: “Haben Sie schon gefrühstückt, oder soll Frau Beermann...?“
„Nein, danke!“, Gregor setzt sich.
Bernhard: „Sie kommen wegen Miriam, wie? Sie ist nicht hier“
Gregor: “Ja, ich weiß. Ist sie in einem Internat?“
Bernhard: „So ähnlich.“
Gregor: „Ist alles in Ordnung? Ich meine, geht es ihr gut?“
Bernhard: „Ich denke schon.“
Gregor: „Wissen Sie es nicht?“
Bernhard: „Mein lieber Freund...“
Gregor: „Wo ist Miriam?“
Bernhard: „Selbst wenn ich es Ihnen sagen würde, es würde Ihnen nichts nützen. Sie können nicht mit ihr reden.“
Gregor: „Aber ich muss wissen, wo sie ist.“
Bernhard: „Warum?“
Gregor: „Weil ich schuld bin an allem, was passiert ist. Ich habe mich dumm benommen, so dumm, dass ich am liebsten mit dem Kopf gegen die Wand rennen möchte.“
Bernhard: „Tun Sie das nicht, es wäre schade um Ihren Kopf. Es ist merkwürdig, wie viele Menschen glauben, schuld an Miriams Unvernunft zu sein. Sie, meine Frau, und ich bin bald selbst auch so weit. Miriam fehlt mir, sie fehlt mir sehr. Ich hätte nie gedacht, dass ich sie so sehr vermissen würde.“
Gregor: „Wo ist sie?“
Bernhard: „Na schön, ich kann es Ihnen auch genauso gut sagen. Sie ist im Dorotheenheim.“
Gregor: „Aber warum? Warum haben Sie sie dorthin gegeben?“
Bernhard: „Ich bin Ihnen keine Rechenschaft über meine Erziehungsmaßnahmen schuldig.“
Gregor: „Natürlich nicht. Entschuldigen Sie. Es ist nur ... Ich mache mir große Sorgen um Minky!“
Bernhard: „Wir alle.“
Gregor: „Glauben Sie wirklich, dass so ein Heim das Richtige für Minky ist?“
Bernhard: „Sie soll ja nicht dort bleiben.“
Gregor: „Ach so. Sie meinen – nur vorübergehend.“
Bernhard: „Ja.“
Gregor: „Sie wollen Sie also wieder nach Hause holen?“
Bernhard beantwortet diese Frage nicht. Er sieht Gregor nachdenklich an: „Hören Sie mal, Sie kennen Miriam ziemlich gut, oder?“
Gregor: „Ich glaube schon.“
Bernhard: „Nun, dann wird es Sie wohl auch nicht wundern, wenn ich Ihnen sage – sie will nicht mehr nach Hause.“
„Minky war sehr durcheinander, Herr Schneider“, sagt Gregor zögernd. „Das Ganze war ein großer Schock für sie. Aber ich kann mir nicht vorstellen ... Sie muss doch draufkommen, dass Sie es nur gut mit ihr meinen.“
Bernhard: „Meine Frau will, dass sie freiwillig zurückkommt, verstehen Sie?“
Gregor: „Freiwillig?! Das wird sie nie. Dafür hat sie sich viel zu sehr in ihre Ideen verrannt!“ Gregor nagt an seiner Unterlippe. „Haben Sie mit ihr gesprochen? Ich meine – danach!“
Bernhard: „Nein.“
Gregor: „Und – Ihre Frau?“
Bernhard: „Auch nicht. Wir hielten es für besser, sie nicht zu überreden.“
Gregor: „Aber, Herr Schneider, dann muss Minky ja glauben ... Sie ist jetzt bestimmt überzeugt, dass Sie nichts mehr von ihr wissen wollen.“
Bernhard: „Natürlich hat man ihr gesagt, dass sie jederzeit in ihr Elternhaus zurück kann.“
Gregor: „Aber das genügt doch nicht! Man muss sie zwingen.“
Bernhard verzieht seinen Mund zu einem halben Lächeln: „Das sind also die Ansichten der jungen Generation über Erziehung! Ich muss schon sagen...“
Gregor: „Doch, Herr Schneider. Minky ist noch viel zu jung ... Sie kann doch nicht wissen, was für sie gut ist. Herr Schneider, ich wollte mal die Schule hinschmeißen. Ich hatte es so dick, sage ich Ihnen. Ich wäre freiwillig keinen Schritt mehr hingegangen. Aber meine Eltern haben mich gezwungen. Heute bin ich froh darüber.“
Gregor: „Nun passen Sie mal auf – von Mann zu Mann – Ich bin der Überzeugung, dass Sie recht haben. Aber meine Frau ist darin anderer Ansicht. Sie werden das noch selbst erleben, wenn Sie erst einmal verheiratet sind: In den entscheidenden Dingen haben die Frauen immer das letzte Wort.“
Gregor: „Darf ich mit ihr reden?“
Bernhard: „Ich glaube – besser nicht. Meine Frau ist sehr krank geworden. Sie ist immer noch nicht ganz auf der Höhe. Ich kann nicht zulassen, dass sie sich wieder unnötig aufregt.“
Gregor steht auf: „Aber das ganze ist doch heller Wahnsinn!“
Bernhard zuckt die Achseln: „Vielleicht. Aber was können wir tun? Wir müssen den Dingen ihren Lauf lassen. Das ist das einzige.“
Als Frau Beermann Gregor zur Haustür begleitet hat, fällt ihr ein, einen Blick in den Schirmständer zu werfen. Sie findet einen duftenden Rosenstrauß. Einen Augenblick überlegt sie, dann läuft sie, die Blumen in der Hand, die Treppe hinauf.
„Oh, wie hübsch!“, sagt Isabella. „Für mich?“
Frau Beermann: „Gregor Hellmer hat ihn gebracht.“
Isabella nimmt den Strauß und hält ihn an ihr Gesicht. Sie lächelt, dann, ohne Übergang, schluchzt sie auf. Tränen rennen ihr über die Wangen.
„Verzeihen Sie bitte!“, ruft Frau Beermann erschrocken. „Wenn ich gewusst hätte...“
„Lassen Sie nur“, sagt Isabella, unter Tränen lächelnd. „Es tut ja so gut.“ -
und es geht wieder einmal weiter:
Als Lissy Ackermann ihre Kinder ins Bett gebracht hatte und ihre Wohnung aufgeräumt hat, sitzt ihr Mann schon vor dem Fernseher.
„Bitte, Alex“, sagt Lissy, „mach doch mal den Fernseher aus.“
Er sieht sie erstaunt an: „Warum? Ich wollte gerade die Tagesschau sehen.“
Lissy: „Ist das wirklich so wichtig? Ich muss mit dir reden.“
„Ist was passiert?“ Alex macht den Fernseher aus.
Lissy: „Nein, aber ich habe eine Bitte...“
Lissy setzt sich und Alex zieht sie in seine Arme. „Da bin ich mal gespannt.“ Er fasst sie zärtlich um die Taille. „Du weißt, du kannst von mir alles kriegen, was du willst – solange du mit deinen Wünschen im Rahmen des Möglichen bleibst.“
Lissy: „Ich komme mit der Arbeit nicht mehr zurecht, Alex. Ich brauche ein Mädchen.“
Alex: „Lissy! Wie oft haben wir schon darüber gesprochen! Du weißt genau, dass das nicht geht. Wir können uns das einfach nicht leisten. Nein, Lissy, das ist ausgeschlossen!“
Lissy: „Aber ich habe die Möglichkeit, viel billiger an eine Hausangestellte zu kommen, Alex! Eine Freundin sagte mir, man kann Mädchen aus dem Dorotheenheim kriegen, die arbeiten für ein Taschengeld.“
Alex: „Da hast du dir mal wieder einen Bären aufbinden lassen, Lissy!“
Lissy: „Nein, bestimmt nicht, Alex. Ich war auch schon bei der Direktorin. Es ist alles ausgemacht.“
Alex: „So? Ohne mich zu fragen?“
Lissy: „Alex! Ich musste mich doch erkundigen, ob es überhaupt stimmt ... Vorher hat es doch gar keinen Sinn, mit dir zu reden.“
Alex: „Ich finde dein Verhalten ein bisschen merkwürdig, Lissy, das muss ich dir schon sagen.“
Lissy: „Bist du mir böse?“
Er sieht sie an: „Nein, ich weiß ja, dass du ein kleines Dummerchen bist. Aber du musst diese Sache rückgängig machen, hörst du?“
Lissy: „Aber warum? Es ist eine einmalige Gelegenheit, Alex!“
Alex: „Ich bitte dich, Lissy, nun nimm doch mal Vernunft an! Ein Mädchen aus dem Dorotheenheim! Was sind denn das für Mädchen? Irgend etwas muss dabei nicht in Ordnung sein, oder?“
Lissy: „Das Mädchen, das ich mir ausgesucht habe, ist ganz in Ordnung, Alex, glaub mir doch!“
Alex: „Wie kommt es dann in dieses Heim? Mach dir doch nichts vor, Lissy. Da kommen doch nur Mädchen hin, die irgendwie gefährdet sind.“
Lissy: „Die Direktorin hat mir gesagt, dass Miriam...“
Alex: „Miriam heißt sie also?“
Lissy: „Ja. Und sie ist ein sehr nettes Mädchen, Alex, glaub mir doch – aus sehr gutem Haus.“
Alex: „Um so schlimmer. Dann muss sie schon ein rechtes Früchtchen sein, dass sie überhaupt in dieses Heim gekommen ist.“
Lissy seufzt. Tränen steigen ihr in die Augen. „Ich hätte nie gedacht, dass du – du so – so stur sein könntest, Alex.“
Alex: „Ich bin nicht stur, Lissy, ich möchte mir nur mein Familienleben nicht durch irgendein hergelaufenes Mädchen zerstören lassen. Kannst du das denn nicht einsehen? Denk doch mal an die Kinder! Hast du nicht eine Sekunde daran gedacht, dass dieses Mädchen einen schlechten Einfluss auf sie haben könnte?“
Lissy: „Sie ist sehr nett, Alex. Ganz bestimmt.“
Alex: „Aber sie passt nicht zu uns. Es ist doch nicht damit getan, dass sie bei uns arbeitet und bei uns ist. Wir müssen uns auch sonst um sie kümmern. Du kannst sie doch abends nicht einfach in ihr Zimmer stecken, nicht wahr?“
„Nein“, gibt Lissy zögernd zu.
Alex: „Na also. Und ich will abends mit dir allein sein, oder mit Freunden. Aber nicht mit irgendeinem hergelaufenen Mädchen.“
Lissy: „Wir könnten viel öfters ausgehen abends, Alex, wenn das Mädchen hier ist. Sie kann auf die Kinder aufpassen und...“
Alex: „So einem Mädchen würde ich nie im Leben meine Kinder anvertrauen. Du wirst morgen die Direktorin anrufen und ihr sagen, dass du dir die Sache anders überlegt hast. Oder von mir aus, dass ich es dir nicht erlaubt habe. Ich bin auch bereit, diese Sache selbst zu erledigen. Aber dieses Mädchen kommt mir auf keinen Fall ins Haus.“ Er steht auf. „Und jetzt können wir hoffentlich in aller Ruhe Fernseh schauen.“
Sie packt ihn beim Arm: „Nein, Alex!“
Alex: „Willst du mir den ganzen Abend verderben? Es hat gar keinen Sinn, weiter darüber zu reden. Für mich ist der Fall erledigt.“
Lissy: „Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt.“
Alex: „Hat die Sache etwa noch einen Haken?“
Lissy: „Ja. Ich – weißt du, Alex, ich habe es nämlich Isabella versprochen.“
Alex setzt sich: „Aha! Wieder einmal Isabella, deine geheimnisvolle Freundin!“
Lissy: „Sie ist überhaupt nicht geheimnisvoll!“
Alex: „Aber warum lerne ich sie nie kennen?“
Lissy sieht ihn mit großen Augen an: „Seit wann interessierst du dich so für meine Freundin?“
Er lacht. „Da hast du recht. Entschuldige. Also, was hast du dieser Isabella versprochen?“
Lissy: „Dass ich Miriam zu mir nehme. Wenigstens für ein paar Monate. Miriam ist nämlich – sie ist – Isabellas Tochter.“
Alex: „Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. Wie kommt denn dieses Mädchen ins Dorotheenheim?“
„Das ist eine ziemlich komplizierte Geschichte.“ Lissy beisst sich auf die Lippen. „Weißt du, Miriam ist nämlich nicht Isabellas richtiges Kind. Sie ist adoptiert. Natürlich hat Miriam das nicht gewusst. Bei irgendeiner Gelegenheit hat sie es jetzt erfahren, und da ist sie ganz außer Rand und Band geraten. Sie hat das Gefühl, dass sie ihre Eltern – ihre Adoptiveltern natürlich – all die Jahre belogen haben und sie will nichts mehr von ihnen wissen, verstehst du? Nun hat Isabella sich gedacht, wenn ich das Kind ein paar Monate zu mir nehme und entsprechend beeinflusse...“
Alex: „Du? Da hat sie sich entschieden an die falsche Adresse gewandt!“
Lissy: „Und warum, wenn ich fragen darf?“
Alex: „Weil du selbst noch ein ganz dummes, kleines Mädchen bist, Lissy. Nun fang nicht gleich wieder an zu weinen, dass gefällt mir ja gerade so an dir. Aber zur Erziehung eines außer Rand und Band geratenen Teenagers bist du wirklich nicht die geeignete Person.“
Lissy: „Das werden wir ja sehen.“
Alex: „Du bestehst also darauf, dieses Mädchen ins Haus zu nehmen?“
Lissy: „Ich habe es Isabella versprochen. Ich kann sie nicht so enttäuschen.“
Alex: „Miriam – ein schöner Name. Wie sieht sie denn aus?“
Lissy: „Sehr nett. Sie ist sehr nett, Alex, du wirst sehen. Also was ist jetzt?“Wie entscheidet sich Alex?
-
Ich mach heute mal wieder weiter:
Alex: „Also gut, du sollst deinen Willen haben. Aber das eine sage ich dir: Wenn uns dieses Mädchen irgendwelche Schwierigkeiten macht, fliegt sie hinaus. Dann werde ich sie persönlich wieder in ihrem Heim abliefern. Das kannst du ihr gleich sagen, wenn du sie holst, ja?“
Lissy streichelt die Hand ihres Mannes: „Du bist wirklich der Allerbeste, Alex“, sagt sie. „Ich wusste ja, du würdest mich nicht im Stich lassen.“
„Dich im Stich lassen?“ Er beugt sich zu ihr und küsst sie auf den Mund. „Nie!“
Dann schaltet er wieder den Fernseher ein.
Miriam ist nur zu froh gewesen, das Dorotheenheim verlassen zu können. Lissy Ackermann gefällt ihr. Mit einem einzigen Blick hat sie erkannt, dass ihr Haar gefärbt, ihr Gesicht ein wenig zu stark geschminkt ist und dass sie sich allzu jungendlich anzieht.
Das Bewusstsein ihrer eigenen Jugend gibt ihr ein Gefühl der Überlegenheit, das sie Isabella gegenüber nie gehabt hat.
Sie spürt Lissys Unsicherheit, die ihr eigenes, fast verlorenes Selbstgefühl stärkt. Es tut ihr gut, dass Lissy keinerlei Fragen nach ihrer Herkunft stellt, sich gar nicht dafür zu interessieren scheint, wie sie ins Dorotheenheim gekommen ist.
Sie ahnt ja nicht, dass Lissy vollkommen über ihr Schicksal orientiert ist.
Noch bevor sie das Heim verlassen, prüft Lissy den Inhalt ihres Koffers und findet, dass Miriams Kleidungsstücke nicht ausreichen. „Am besten ist, wir gehen gleich einkaufen“, sagt sie. „Heute habe ich die Kinder zu einer Nachbarin gegeben. Wer weiß, wann wir sonst wieder Zeit dazu haben.“
„Aber Sie können doch nicht – ich möchte nicht“, protestiert Miriam.
„Natürlich kann ich“, sagt Lissy. „Ich muss sogar. Sie wissen, dass Sie von mir nur ein Taschengeld bekommen, Miriam. Dafür muss ich für ihr Essen und ihre Kleidung aufkommen.“
Miriam hat bisher immer nur Kleidung gehabt, die Isabella für sie mit sicherem Blick ausgesucht hat. Jetzt durfte sie zum erstenmal selbst wählen. Lissy sagt nur: „Wenn Sie meinen“ oder „Ja, das finde ich auch schön.“
Sie suchen nur einfache und praktische Sachen aus, trotzdem kommt am Ende eine große Rechnung zusammen, die Lissy, ohne ein Wort zu verlieren, bezahlt. Als Miriam sich bedanken will, sagt sie lächelnd: „Wenn es Ihnen bei uns nicht gefällt und Sie uns bald wieder verlassen wollen, bleiben diese Sachen natürlich bei uns, verstehen Sie? Das ist kein Geschenk. Das dürfen Sie nicht glauben.“
Miriam ist glücklich, nicht dankbar sein zu müssen. Sie ahnt nicht, dass das Geld, mit dem Lissy bezahlt, von Isabella stammt.
Die Familie lebt in einer hübschen Wohnung. Es ist alles viel bescheidener, als Miriam es von zu Hause her gewohnt ist. Es gibt keine antiken Möbel, keine kostbaren Teppiche und keine Skulpturen – aber Miriam gefällt es trotzdem. Sie ist überglücklich, endlich wieder ein Zimmer für sich allein zu haben, auch wenn es winzig ist.
Susi, acht Jahre alt, und Paul, fünf, begrüßen sie neugierig. Sie bleiben bei Miriam im Zimmer, während sie ihre Sachen einräumte und bestürmen sie mit Fragen: „Bleibst du jetzt immer bei uns?“ – „Tust du auch mit uns spielen?“ – „Bist du nicht mehr in der Schule?“ – Fragen, die alle sehr leicht zu beantworten sind, ohne dass Miriam irgend etwas preisgeben muss.
Nachher hilft sie Lissy in der Küche das Abendbrot zu richten. Sie erfährt, dass Herr Ackermann, der als Prokurist in einer Firma für Elektrogeräte arbeitet, mittags nie nach Hause kommt und dass deshalb abends immer warm gegessen wird. Miriam muss Kartoffeln schälen, Zwiebeln schneiden, den Tisch decken.
Sie merkt, dass Lissy sehr nervös ist, aber sie begreift nicht, dass diese Nervosität mit ihr zusammen hängt. Lissy fürchtet sich vor der ersten Begegnung zwischen Miriam und ihrem Mann. Sie hat Angst, dass Alex seinen Unwillen über den unerwünschten Familienzuwachs zeigen wird.
Aber es kommt ganz anders. Die beiden Frauen sind noch in der Küche, Susi und Paul laufen ihnen ständig in den Weg – als Alex nach Hause kommt. Sie haben ihn nicht gehört, und er tritt sofort in die Küche.
Miriam steht am Herd und sticht mit der Gabel in eine der dampfenden Kartoffeln, um festzustellen, ob sie schon gar waren. Ihre Wangen sind gerötet.
„Guten Abend, meine Damen!“, sagt Alex.
Miriam hebt den Kopf, ihre Augen leuchten.
„Donnerwetter!“, sagt Alex beeindruckt. „Wer hätte das gedacht! Sie sind also Miriam?“
„Ja“, sagt Miriam und reicht Alex die Hand.
„Na so etwas“, sagt er und lacht. „Jetzt begreife ich auch, wieso Sie ein gefährdetes Mädchen sind.“
Miriam errötet und Lissy sagt, schärfer als es nötig ist: „Bitte, sei nicht geschmacklos, Alex.“
Alex: „Aber wieso denn? Habe ich Sie beleidigt, Miriam? Ich wollte nur sagen, wenn man so hübsch ist, muss man ja gefährdet sein!“
„Bitte, Alex“, sagt Frau Ackermann, „geh ins Wohnzimmer! Wir rufen dich, sobald das Essen fertig ist.“
Alex zwinkert Miriam fröhlich zu, bevor er die Küche verlässt.
„Ihr Mann ist aber nett“, sagt Miriam ehrlich.
Lissy: „Ich hoffe, Sie haben nicht ernst genommen, was er sagte.“
Miriam lacht: „Natürlich nicht. Und dass ich hübsch bin, weiß ich sowieso.“
In diesem Augenblick könnte Lissy sie ohrfeigen, aber sie schämt sich sofort selbst wegen dieser unkontrollierten Regung. Sie versucht sich ins Gehirn zu hämmern, dass Miriam ihre Tochter ist, ihr kleines Mädchen, dass sie vor vielen Jahren in Schmerz und Verzweiflung geboren hat. Sie weiß, dass sie sie lieben müsste, aber sie kann es nicht. Sie beobachtet Miriam aus den Augenwinkeln, wie sie mit unbewusster Anmut hin und her eilt, sieht ihre schönen Hände, mit denen sie die Schüsseln zurechtrückt, sieht ihr seidenweiches Haar, das so blond ist wie ihr eigenes, damals, als sie sie geboren hat.
Ja, Miriam ist ihre Tochter, es gibt vieles an ihr, was unverkennbar von ihr selbst ist, und dennoch – sie ist nicht nur ihre Tochter. Sie ist ihre Rivalin.
Lissy kann kein Mitleid für Miriam empfinden. Sie ist so jung, so schön und lebensfroh, dass sie sie nur beneiden kann. Sie selbst fühlt sich neben ihr alt und verbraucht.Würde mich über Comments freuen
-
und es geht auch schon weiter mit einer gaaaanz langen fortsetzung:
Miriam fügt sich bei der Familie Ackermann gut ein. Sie begreift schnell, wie und wo sie der Hausfrau am besten helfen kann, sie ist gern mit den Kindern zusammen und die Kinder lieben sie. Sie stellt keine Anforderungen, hat keine Wünsche, sondern gibt sich reichlich Mühe, ihren Platz auszufüllen.
Lissy begreift nicht, wieso die Direktorin von einem „außerordentlich schwierigen Kind“ hat sprechen können. Sie erinnert sich noch gut, dass sie selbst in Miriams Alter viel unglücklicher und verworrener gewesen ist.
Von ihrer Vergangenheit spricht Miriam allerdings nie. Sehr vorsichtig versucht Lissy hin und wieder dieses Thema anzuschneiden, aber jedes Mal weicht Miriam so entschieden aus, dass sie es aufgeben muss. Ist es möglich, dass sie Isabella und Bernhard schon völlig vergessen hat? Oder will sie nur nicht an sie denken? Miriam spricht auch niemals von der Schule, von ihren alten Freundinnen oder Freunden. Die Vergangenheit scheint tot für sie zu sein.
Lissy ängstigt dieses Verhalten manchmal geradezu. Es erscheint ihr seltsam unnatürlich und ungesund. Aber sie weiß nicht, wie sie Miriam helfen soll.
Einmal spricht sie mit ihrem Mann darüber, aber der sagt nur: „Am besten du lässt sie ganz in Ruhe. Sie ist ein prächtiges Mädchen, sie wird allein bestimmt am besten mit den Dingen fertig.“
Es kommt niemals zu einer wirklichen Vertrautheit zwischen Mutter und Tochter, es ist, als wenn eine gläserne Wand zwischen ihnen stände. Lissy liebt Miriam nicht, trotzdem kränkt es sie, dass sich Miriam offensichtlich besser mit ihren Kindern und mit ihrem Mann versteht.
Alex wird geradezu jung in Miriams Gegenwart, er neckt sich mit ihr, diskutiert mit ihr und oft lachen beide über einen Witz, den Lissy gar nicht verstanden hat. Sie fühlt sich gekränkt und sie muss sich alle Mühe geben, es sich nicht anmerken zu lassen. Oft sehnt sie den Tag herbei, an dem Miriam ihr Haus verlassen und sie mit Alex und den Kindern wieder allein sein wird. Aber wann das sein wird, ist gar nicht abzusehen.
So kommt es, dass Lissy ehrlich erfreut ist, als Gregor eines Sonntagnachmittags vor ihrer Tür steht. Isabella hat sie angerufen und ihr diesen Besuch angekündigt. Gregor ist bei ihr gewesen um Miriams Adresse zu erfahren.
„Ach ja, Herr Hellmer“, sagt Lissy. „Kommen Sie doch herein. Bitte, gehen Sie ins Wohnzimmer! Wir wollten gerade alle zusammen spazieren gehen ... Aber Miriam kann natürlich auch mit Ihnen weggehen, nur müssen Sie sie uns pünktlich um sieben Uhr wieder zurück bringen, ja?“
Gregor: „Selbstverständlich, Frau Ackermann!“
Miriam bekommt einen roten Kopf, als Lissy ihr von Gregors Besuch erzählt.
Aber als sie ihn dann selbst begrüßt, tut sie sehr kühl: „Gregor! Ja, was willst du denn?“
Gregor: „Ich wollte dich abholen. Ich dachte, du hättest vielleicht Lust, mit mir ins Kino zu gehen.“
Miriam: „Ich weiß nicht...“
Gregor: „Aber ich. Frau Ackermann hat es schon erlaubt.“
Sie verlassen das Haus.
Gregor betrachtet Miriam von der Seite während sie nebeneinander her gehen.
Er weiß nicht, woran es liegt, aber er glaubt, dass sie, seit er sie das letzte Mal gesehen hat, reifer und sehr fremd geworden ist.
„Wie hast du meine Adresse herausgebracht?“, fragt sie plötzlich ohne ihn anzusehen.
Gregor: „Irgendwie. Ich habe mich eben dahinter geklemmt.“
Miriam: „Das verstehe ich nicht. Ich dachte, niemand wüsste, wo ich bin.“
Gregor: „Weiß auch niemand, außer mir.“
Miriam: „Warum bist du gekommen?“
Gregor: „Miriam! Ich habe wahnsinnige Sehnsucht nach dir gehabt. Freust du dich denn gar nicht?“
Sie bleibt stehen, sieht in seine fröhlichen braunen Augen, aber ihr Blick bleibt kühl. „Na ja“, sagt sie.
Gregor: „Das klingt nicht gerade begeistert.“
Miriam: „Ist es auch nicht. Ich wollte vorhin nur keine Szene machen, aber ich möchte mit niemandem von euch mehr etwas zu tun haben.“
Gregor: „Na schön! Dann kann ich ja gehen!“
„Bitte“, sagt sie ruhig und dreht sich um.
Wenige Sekunden lang geht jeder von ihnen in eine andere Richtung, dann drehen sie sich gleichzeitig wieder um.
Miriam bleibt stehen und Gregor rennt zu ihr hin. „Minky! Du dummes Ding! Hast du eine Ahnung, wie schwer es war, heraus zu bringen, wo du steckst? Bildest du dir wirklich ein, dass ich mich jetzt so mir nichts, dir nichts abschütteln lasse?“
Miriam schluckt: „Ich dachte, du machst dir nichts aus mir.“
Gregor: „Weil ich dich damals nicht heiraten wollte?“
Miriam: „Weil du mir nicht geholfen hast.“
Gregor: „Wie sollte ich denn?“
Miriam: „Das hättest du wissen müssen.“
Gregor: „Stimmt auffallend. Ich habe mich wie ein Idiot benommen. Ich bin schuld, dass dir das alles passiert ist. Kannst du mir verzeihen?“
Sie sieht, Tränen in den Augen, zu ihm auf: „Wenn du es nur einsiehst.“
Er küsst sie mitten auf den Mund.
Sie macht sich von ihm los.
„Vorsicht“, sagt sie. „Vergiss nicht, dass ich ein gefährdetes Mädchen bin!“
Gregor: „Ach, Quatsch! Wie kannst du nur so was sagen?“
Miriam: „Ist aber doch so. Die Direktorin hat gesagt...“
Gregor: „Hör schon auf damit!“
Miriam hängt sich bei Gregor ein. „Hast du Yvonne noch mal gesehen?“, fragt sie.
Gregor: „Nein. Mit der habe ich Schluss gemacht.“
Miriam: „Wirklich?“
Gregor: „Ehrenwort. Du siehst blendend aus, Minky, weißt du das?“
Miriam: „Mir geht’s auch gut.“
Gregor: „Du fühlst dich wohl bei diesen – bei diesen Ackermanns?“
Miriam: „Nette Leute. Ich kann nicht klagen.“
Gregor: „Und wie lange willst du dort bleiben?“
Miriam: „Warum fragst du?“
Gregor: „Nur so. Du kannst doch nicht ewig Hausangestellte spielen.“
Miriam: „Warum nicht? Wenn es mir gefällt? Vielleicht ist es das einzige, wozu ich tauge.“
Gregor: „Quatsch! Sag doch so was nicht. Du musst doch wieder auf die Schule oder wenigstens irgendwas Vernünftiges lernen.“
Miriam: „Wozu?“
Gregor: „Weil ich dich heiraten möchte. Und mir wäre der Gedanke ziemlich unangenehm, wenn ich später sagen müsste: ‚Ja, vor unserer Ehe war meine Frau Hausangestellte’“
Miriam: „Du könntest auch sagen – gefährdetes Mädchen!“
Gregor: „Minky!“
Miriam: „Tut mir leid, wenn du die Wahrheit nicht vertragen kannst.“
„Komm schon, Minky, sei nicht gleich eingeschnappt!“, sagt er versöhnend.
Miriam: „Ich habe sehr gut verstanden, was du sagen wolltest, dass ich nicht mehr gut genug für dich bin. Aber damit du es nur weißt: Ich lege nicht den geringsten Wert darauf, dich zu heiraten. Ist das klar?“
Gregor: „Du hast ne Art, einem das Wort im Mund zu verdrehen!“
Miriam: „Und mit dir kann man sich überhaupt nicht mehr richtig unterhalten!“
Eine ganze Weile traben sie schweigend nebeneinander her. Gregor ist wütend, wütend auf Minky und auf sich selbst. Wie sehr hat er sich auf ein Wiedersehen mit ihr gefreut und nun war alles wieder schief gelaufen. Dabei weiß er selbst nicht, woran es liegt. Hat er tatsächlich wieder etwas falsch gemacht?
Gregor: „Minky, ich hab dich doch gern.“
Miriam: „Das genügt nicht.“
Gregor: „Na schön – weil ich dich liebe. Zufrieden?“
Miriam: „Ob du mich liebst oder nicht, ist mir ganz egal.“
Gregor: „Nun sei bloß nicht so verbohrt, Minky. Ich möchte wirklich wissen, was wir alle getan haben. Na schön, ich habe mich damals dumm benommen, aber immerhin war es ja auch eine verdammt schwierige Situation, wie? Und deine Eltern...“
Miriam: „Haben Sie dich etwa geschickt?
Gregor: „Nein. Aber trotzdem bin ich der Meinung – sag mal, hast du deinen Eltern inzwischen wenigstens mal geschrieben?“
Miriam: „Wozu?“
Gregor: „Weil sich so was gehört. Schließlich haben deine Eltern doch wahrhaftig allerhand für dich getan...“
„Ja!“, sagt sie wütend. „Aber als es darauf angekommen ist, haben sie mich im Stich gelassen.“
Gregor: „Menschenskind – bildest du dir das etwa im Ernst ein? Dann werde ich dir mal was sagen ... Ich war bei deinen Eltern, nachdem du weg warst, weil ich dich wiedersehen wollte, verstehst du? Deine Mutter war krank, schwer krank, aus lauter Kummer über dich. Und dein Vater – ja, lach nur, es stimmt trotzdem – dein Vater war ganz unglücklich, weil du fort bist.“
Miriam: „Weshalb haben sie mich dann nicht geholt?“
Gregor: „Weil du nicht wolltest! Du hast doch jedem gesagt, der dich danach gefragt hat...“ er versucht sie nachzuäffen: „Nein – ich will nicht zurück! Nein, ich will nicht nach Hause – auf keinen Fall! – Haust du dir denn eingebildet, sie würden dich an den Haaren zurückschleifen?“
Miriam: „Sie hätten es wenigstens versuchen müssen.“
Gregor: „Du bist wahrhaftig das verrückteste Ding, das ich kenne. Bei dir soll sich einer auskennen. Erst willst du nicht nach Hause, aber dann verlangst du von deinen Eltern, dass sie dich holen sollen! Ja, was bildest du dir denn eigentlich ein? Dass du die Prinzessin auf der Erbse bist? Verdammt noch mal, nimm doch endlich Vernunft an!“
„Lass mich in Ruhe!“, schreit sie wütend. „Das geht dich gar nichts an! Warum mischt du dich in meine Angelegenheiten?“
Gregor: „Ich denke gar nicht daran, dich in Ruhe zu lassen! Eine Tracht Prügel hättest du verdient, du bockiges Biest! Deine Eltern kommen vor Sorge um dich um und du...“
Miriam: „Dann geh doch hin und tröste sie! Wenn dir soviel mehr an meinen Eltern liegt als an mir!“
„Oh ja, ich werde zu deinen Eltern gehen! Aber du wirst mit mir kommen, verstehst du?“ Er packt sie hart am Handgelenk.
Mit einem wilden Ruck reißt sie sich los. „Das hast du dir so gedacht“, zischt sie wütend und schlägt ihm mit der flachen Hand heftig ins Gesicht. „So“, sagt sie triumphierend. „Ich hoffe, jetzt hast du genug! Lass dich bloß nie wieder bei mir blicken!“
Sie dreht sich auf dem Absatz um und jagt davon.
In diesem Augenblick hasst Gregor Miriam. Er schwört sich, noch heute Abend zu Yvonne zu gehen. -
Ich wollte nochmal die grüßen, die meine Fotostory lesen :handkuss
Es ist schön, wenn man treue Leser hat
Da ich jetzt nicht viel Zeit habe ist es leider nur eine kleine FS geworden:
Miriam ist nach der Auseinandersetzung zwischen ihr und Gregor, ohne zu überlegen, in einen der Seitenwege gerannt.
Erst eine ganze Weile später, als sie merkt, dass Gregor sie nicht verfolgt, bleibt sie stehen und orientiert sich. Sie schlägt die Richtung zur Stadt hin ein.
Miriam fühlt sich großartig. Mit dieser Ohrfeige, die sie Gregor verpasst hat, hat sie endgültig Schluss mit der Vergangenheit gemacht, jener Vergangenheit, die sie immer noch bis in ihre Träume verfolgt.
Oft, wenn sie mit Lissy zusammen arbeitet, schlüpft ihr manchmal über die Lippen: „Mutter hat das so gemacht“ oder „Vater sagt immer.“ – Erst im letzten Augenblick besinnt sie sich darauf, dass sie ja weder Mutter noch Vater besitzt.
Wenn sie morgens in ihrem kleinen Zimmer erwacht, glaubt sie oft, zu Hause zu sein und ein wilder Schmerz treibt ihr die Tränen in die Augen, wenn sie begreift, wo sie wirklich ist.
Vielleicht hat Gregor recht, vielleicht warten Isabella und Bernhard wirklich darauf, dass sie reumütig zu ihnen zurückkehrt, obwohl sie sie jahrelang belogen und dann im entscheidenden Moment im Stich gelassen haben. Aber diesen Triumph sollen sie nicht erleben.
Unwillkürlich geht Miriam schneller und schneller. Sie flüchtet geradezu zu den Ackermanns, den Menschen, die nichts von ihr verlangen, weder Liebe noch Dankbarkeit, die sie so nehmen, wie sie ist, ohne sie mit Gefühlen und Ermahnungen zu quälen.
Als Miriam mit dem Schlüssel, den Lissy ihr mitgegeben hat, die Wohnungstür aufschließt, hört sie Stimmen. Die Familie Ackermann sind offensichtlich nicht fort gewesen. Sie haben es sich im Wohnzimmer gemütlich gemacht.
„Hör doch schon auf damit, mir Vorwürfe zu machen“, sagt Lissy und ihre Stimme klingt schrill vor Erregung, „genieße es doch lieber, dass wir endlich mal wieder allein sind!“
„Ich verstehe dich gar nicht“, erwidert er ärgerlich, „schließlich hast du doch die Verantwortung für das Mädchen übernommen...“
Lissy unterbricht ihren Mann zornig. „Gib doch zu, dass du eifersüchtig bist. Sei still, Susi, jetzt rede ich mit deinem Vater! Deshalb passt es dir nicht, dass sie mit diesem jungen Mann weg gegangen ist. Seit sie in unser Haus gekommen ist, bedeute ich dir nichts mehr – nicht das Geringste. Du hast überhaupt nur noch Augen für sie. Ich wünschte...“
Miriam hält es nicht länger aus. Sie geht leise zurück zur Wohnungstür und öffnet sie, dann schlägt sie sie mit vernehmbaren Knall ins Schloss. Die Unterhaltung verstummt im selben Augenblick.
Miriam geht ins Wohnzimmer und sagt, so unbefangen wie möglich: „Hallo, da bin ich wieder! Es war ziemlich langweilig.“
Alex und Lissy verstehen es hervorragend, sich zu beherrschen. Sie begrüßen Miriam freundlich und verraten mit keiner Miene, worüber sie gerade gesprochen haben. -
weil ich gerade mit meinem alten comp nochmal on bin geht es weiter mit ner langen fortsetzung:
Nach diesem Erlebnis aber verändert sich Miriam. Sie begreift plötzlich, dass sie alles falsch gemacht hat, dass sie sich nicht willenlos treiben lassen darf.
Sie ist ihren Adoptiveltern davongelaufen. Nun muss sie beweisen, dass sie sich allein durchsetzen kann.
Einige Tage später liest sie in der Zeitung eine Anzeige: „Abendkurse Dr. Schündler bereiten auf das Abitur vor. Die neuen Kurse beginnen am ersten September.“
Miriam ist von der Anzeige wie elektrisiert. Das ist der Weg, den sie gehen muss.
Sie bittet kurz darauf Lissy um eine Aussprache. Allerdings scheut sie sich, offen mit ihr über ihre Pläne zu sprechen. Sie hat jedes Vertrauen zu ihr verloren, seit sie weiß, dass sie Lissy im Wege ist.
„Was haben Sie auf dem Herzen, Miriam?“ fragt Lissy.
Miriam: „Ich möchte fragen, ob ich abends ausgehen kann.“
Lissy: „Heute abend? Was haben Sie denn vor, Miriam?“
Miriam: „Nicht nur heute abend.“
Lissy: „Ich verstehe sie nicht.“
Miriam: „Das ist doch ganz einfach. Ich möchte die Abende für mich haben.“
Lissy: „Aber wozu? Gefällt es Ihnen denn nicht mehr bei uns?“
Miriam lacht dünn: „Ich dachte, dass Ihnen mein Vorschlag sehr angenehm wäre, Frau Ackermann.“
Lissy steigt das Blut zu Kopf: „Ich weiß nicht, was Sie meinen“, sagt sie unsicher.
Miriam: „Sie wollen mit Ihrem Mann gern allein sein, Frau Ackermann. Nein, nein, Sie brauchen mit nichts zu erklären. Aber warum lassen Sie mir dann nicht meine Freizeit? Abends, wenn ihr Mann zu Hause ist, bin ich Ihnen ja doch nur im Wege.“
Lissy: „Aber wie kommen Sie denn darauf?“
Miriam: „Das fühle ich. Es ist ja auch nur zu verständlich, dass Sie abends gern mit Ihrem Mann allein bleiben wollen und nicht sehr erfreut darüber sind, wenn eine Fremde ständig in Ihrem Zimmer ist.“
„Ich kann Sie nicht anbinden, Miriam“, sagt Lissy jetzt. „Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie keine Dummheiten machen.“
Miriam: „Selbstverständlich. Aber da ist noch eine andere Frage: Wie steht es denn eigentlich mit meinem Gehalt?“
„Sie bekommen doch von uns ein Taschengeld“, wundert sich Lissy. „Genügt Ihnen das nicht mehr?“
Miriam: „Ich brauche aber Geld, Frau Ackermann. Den Lohn für meine Arbeit.“
Lissy: „An welche Summe denken Sie denn?“
Miriam: „Zu Hause habe ich von meinen Eltern 40 Sim-Dollar in jedem Monat bekommen.“
Lissy: „Hier sind Sie aber nicht zu Hause, Miriam.“
Miriam: „Nein, das stimmt. Hier arbeite ich. Geben Sie mir also 80 Sim-Dollar. Ich glaube, das ist nicht zuviel.“
Lissy kann ihre Entrüstung nicht länger verbergen: „Sind Sie verrückt geworden?“, fährt sie Miriam an. „80 Sim-Dollar? Was wollen Sie mit soviel Geld? Wollen Sie es in Tanzlokalen durchbringen? Mit zweifelhaften Mädchen, die Sie vielleicht im Dorotheenheim kennen gelernt haben, verplempern? Das kann ich nicht zulassen. Ich bin für Sie verantwortlich. Nein, eine so große Summe werde ich Ihnen nie aushändigen.“
Lissy hat Angst. Sie weiß selbst nicht wovor. Diese kalte, selbstsichere Miriam ist ihr unheimlich. „Ich muss erst mit meinem Mann sprechen“, sagt sie hilflos.
Miriam: „Sprechen Sie, mit wem Sie wollen. Aber wenn Sie glauben, dass Sie mit meinen Bedingungen nicht einverstanden sein können, müsste ich mir eine andere Stelle suchen“
Lissy: „Das können Sie gar nicht! Sie sind mir vom Dorotheenheim zugewiesen worden!“
Lissy: „Ich kann jederzeit wieder ins Dorotheenheim zurückkehren, Frau Ackermann ... Und ich bin sicher, dass ich von dort aus auch eine Stellung bekommen kann, in der ich für meine Arbeit entsprechend bezahlt werde und die Freiheit bekomme, auf die ich Anspruch habe.“
An diesem Abend verlässt Miriam um sieben Uhr die Wohnung der Ackermanns. Sie fährt in eine Bibliothek und stellt sich eine Liste Bücher zusammen, die sie lesen will. Es sind keine Romane darunter, sonder nur geschichtliche und wissenschaftliche Werke.
Es ist acht Uhr abends. Lissy hat noch einmal nach den Kindern geschaut. Susi und Paul schlafen schon friedlich. Sie tritt ins Wohnzimmer. Alex sitzt auf der Couch und liest die Zeitung. Er sieht nicht auf, als sie ins Zimmer kommt.
Unnötig laut eilt sie hin und her und bringt einen Teller mit Kekse. Ihr Mann wendet keinen Blick von seiner Zeitung.
„Alex“, sagt sie endlich laut.
Er brummt nur.
„Alex ... Sie ist schon wieder weg!“
Jetzt lässt Alex die Zeitung sinken. „Wer?“
Lissy: „Miriam.“
Alex: „Ja, ich weiß. Sie hat sich von mir verabschiedet.“
Er sieht wieder in seine Zeitung, um ihr zu verstehen zu geben, dass der Fall für ihn damit erledigt ist.
Lissy: „Ich begreife nicht, Alex, wie du so ruhig bleiben kannst!“
Jetzt faltet er die Zeitung endgültig zusammen. „Ich will dir einmal was sagen“, sagt er ruhig. „Ich glaube, du weißt selbst nicht, was du willst. Als Miriam Abend für Abend bei uns zu Hause war, hat es dir nicht gepasst und jetzt, wo sie anfängt, ihr eigenes Leben zu führen...“
Lissy: „Aber was macht sie, Alex? Wir müssen doch wissen, was sie macht!“
Alex: „Was schon. Sie wird mit jungen Leuten zusammen sein. Vielleicht tanzen. Was weiß ich.“
Lissy: „Du machst dir die Sache sehr leicht, Alex.“
Alex: „Findest du? Da muss ich dir aber widersprechen. Ich bin der Meinung, du hast Miriam falsch angefasst.“
Lissy: „Ich? Bin ich nicht immer nett zu ihr gewesen?“
Alex: „Das glaubst du. Du hast sie sehr deutlich fühlen lassen, dass dir ihre Anwesenheit lästig war.“
Lissy: „Das ist nicht wahr. Wie kannst du das behaupten? Nie habe ich ihr das gezeigt. Niemals...“
Alex: „Aber du hast so empfunden. Ich habe dir schon einmal gesagt, von vornherein hast du gewusst, sie ist ein schwieriges Kind – ein solches Kind braucht sehr viel Liebe und Vertrauen. Ich wusste, dass du ihr das nicht geben konntest. Deshalb war ich dagegen, sie bei uns aufzunehmen. Aber du...“
„Alex – darüber wollte ich ja gerade mit dir sprechen“, unterbricht sie ihn. „Wäre es nicht das Beste, wenn wir sie wieder ins Heim zurückbringen?“
Alex: „Nein.“
Lissy: „Aber Alex, siehst du denn nicht ein, dass sie uns einfach entwächst? Sie ist so verändert, so fremd und kalt, du musst es doch selbst auch gemerkt haben. Wir haben keinerlei Einfluss mehr.“
Alex: „Einfluss haben wir nie auf sie gehabt, Lissy, mach dir doch nichts vor.“
Lissy: „Sie war anfangs so bescheiden, so fügsam. Sie war doch wirklich nett, nicht wahr, Alex? Nie hat sie irgendwelche besondere Wünsche gehabt und jetzt verlangt sie auf einmal ein Gehalt! Ich kann es immer noch nicht fassen.“
Alex: „Jeder Mensch, der arbeitet, hat Anspruch auf Lohn, Lissy. Ich begreife nicht, was dich daran verblüfft?“
Lissy: „Aber wenn ich das geahnt hätte, hätte ich sie doch nie genommen!“
Alex: „Bitte, mach dir jetzt nichts vor, Lissy. Das mit dem Geld stört dich überhaupt nicht. Du weißt genau, dass Isabella Schneider dir das jederzeit ersetzen wird. Warum sprichst du nicht mal mit deiner geheimnisvollen Freundin?“
Lissy: „Was soll ich ihr sagen?“
Alex: „Das musst du selbst wissen. Du hast dir doch sicher auch schon überlegt, was du der Direktorin sagen würdest, wenn du sie ins Heim zurückbrächtest.“
Lissy hebt verlegen die Hände und lässt sie wieder sinken. „Nun ja – dass wir mit Miriam nicht fertig werden können – dass sie zu schwierig ist.“
Alex: „So ähnlich habe ich mir das gedacht. Aber jetzt will ich dir mal was sagen. Ein für allemal: Du wirst Miriam nicht zurückbringen. Kannst du dir nicht denken, wie sehr du dem Kind damit schaden würdest? Sie hat sich nichts zuschulden kommen lassen, aber auch gar nichts.“
Lissy: „Das habe ich doch nicht behauptet! Das würde ich der Direktorin auch nie sagen!“
Alex: „Aber sie müsste es annehmen. Sie würde glauben, dass etwas Schreckliches passiert ist und dass du es nur nicht sagen willst, um Miriam nicht zu schade. Dabei ist in Wirklichkeit gar nichts passiert, nichts, als dass Miriam ihr eigenes Leben leben will. Dazu hat sie ein Recht wie jeder Mensch.“
Lissy: „Sie ist ein Kind, Alex, ein gefährdetes Kind, das uns anvertraut worden ist. Wir können doch nicht einfach zulassen, dass sie Abend für Abend fortgeht – dass sie mit dem Geld rumwirft, dass sie...“
Alex: „Nun hör schon auf damit, Lissy. Ich habe dir gesagt, wie ich über den Fall denke und dabei bleibt es. Du kannst mir erzählen, was du willst, du wirst mich nicht zu der Überzeugung bringen, dass Miriam etwas Schlechtes tut. Ja, ich bin sogar sicher, dass sie nicht einmal in schlechte Gesellschaft geraten ist oder so etwas. Ich war gestern abend noch auf, als sie zurückkam. Sie war müde, aber offensichtlich ganz nüchtern. Sie hat nicht mal ein Gläschen Alkohol getrunken. Ich weiß nicht, was sie gemacht hat und es interessiert mich auch nicht. Das Einzige, was mich interessiert – wir können das Kind, nachdem wir es erst zu uns genommen haben, jetzt nicht ohne weiteres zurückschicken. Ich habe dich damals gewarnt, aber du...“
Lissy: „Ich hatte mir das doch so nicht vorgestellt, Alex.“
Alex: „Das weiß ich. Aber du hast darauf bestanden, sie zu dir zu nehmen. Jetzt müssen wir die Suppe auch auslöffeln. Wenn ich dir einen guten Rat geben darf, Lissy: Behandle Miriam herzlicher, liebevoller. Ich weiß, es fällt dir schwer, deine Gefühle zu zeigen – möglicherweise hast du für Miriam auch gar keine und das kann ich dir nicht verübeln, aber das Kind braucht Liebe, Verständnis, Vertrauen. Ich für meinen Teil versuche es ihr zu geben, soweit es in meinen Kräften steht. Ich werde ihr niemals einen Vorwurf darüber machen, dass sie abends weggeht und ich werde sie auch niemals etwas fragen. Ich glaube, ich bin damit auf dem richtigen Weg. Versuche es auch – und du wirst sehen, eines Tages wird Miriam uns alles ganz von selbst erzählen.“Hoffentlich hat euch die Fortsetzung gefallen. Ihr könnt wie immer fleißig Comments schreiben!
-
dankeschön für eure lieben kommentare :knuddel
darum geht es jetzt auch gleich weiter:
Am nächsten Morgen, Miriam ist wieder erst kurz vor zwölf nach Hause gekommen, schickt Lissy sie einkaufen, damit sie ungestört telefonieren kann. Sie ruft in der Wohnung von Isabella an.
Frau Beermann ist am Apparat. „Tut mir leid, Frau Ackermann“, sagt sie. „Frau Schneider ist nicht zu Hause.“
Lissy: „Kann ich sie in der Firma erreichen?“
Frau Beermann: „Leider nicht. Frau Schneider ist verreist.“
Lissy: „Verreist? Aber wohin?“
Frau Beermann: „Sie ist zur Kur nach Bad Simheim gefahren.“
Lissy: „Würden Sie mir bitte die Adresse geben?“
Frau Beermann: „Gerne, Frau Ackermann. Frau Schneider wohnt im Kurhotel.“
Als Lissy den Hörer auflegt, ist sie entmutigt. Sie hat so sehr gehofft, Isabella zu sprechen, sie hat sich jedes Wort zurechtgelegt, was sie ihr sagen will. Nun ist sie gar nicht da.
Aber was soll sie bloß tun? Vielleicht hat Alex recht. Vielleicht ist alles so gekommen, weil sie Miriam nicht wirklich lieb haben kann. Aber eines weiß sie genau, ihre Sorgen um ihre Tochter sind echt. Miriams verändertes Wesen, ihr abendliches Weggehen, ihre Forderungen bedrücken sie nicht, weil sie sich Isabella gegenüber verantwortlich fühlt, all das quält sie, weil sie Miriam in Gefahr sieht.
Seit sie mit Alex verheiratet ist, hat sie nur noch hin und wieder und dann sehr flüchtig an ihre Vergangenheit gedacht. Sie wollte sie vergessen. Jetzt, seit Miriam bei ihnen lebt, steigt alles wieder vor ihr auf, als wenn es gestern gewesen ist. Sie hat es lange Zeit nicht mehr verstehen können, nicht mehr verstehen wollen, wieso sie sich damals so sehr in den jungen, leichtsinnigen Till Torsten verlieben konnte.
Wenn sie Miriam ansieht, begreift sie es wieder ganz genau. Sie war damals so jung, so unerfahren gewesen wie Miriam heute, sie hat sich von ihren Eltern unverstanden gefühlt, sie hat sich nach Liebe gesehnt, nach dem wirklichen Leben, das, wie sie geglaubt hat, ein Rausch von Glück sein musste.
Jahrelang ist dieses erste Erlebnis von Enttäuschung überschattet gewesen, die nachher kam. Heute weiß sie wieder, dass die Monate, die von ihrer Liebe zu Till erfüllt gewesen sind, die glücklichsten ihres Lebens gewesen sind. Zauberhafte, selige, sorglose Monate.
Sie erinnert sich an die Nächte, in denen sie vor Glück nicht einschlafen konnte, an die Stunden, wo sie dem Wiedersehen mit Till entgegengefiebert hat, sie erinnert sich, wie selig sie gewesen ist, wenn sie in seinen Armen gelegen war, seine warmen Hände auf sich gespürt und seine zärtliche weiche Stimme an ihrem Ohr gehört hat.
In dieser Zeit ihres großen Glücks ist sie aber genauso kalt und ablehnend zu ihren Eltern gewesen, wie Miriam heute zu ihr ist.
Von heute auf morgen ist alles aus gewesen. Das Erwachen ist wie ein Keulenschlag gekommen, so schrecklich, dass sie noch lange unter einem dumpfen Druck gelebt hat, ohne wirklich begreifen zu können, was geschehen ist.
Till war verhaftet worden. Wegen Wechselfälschung. Alle Zeitungen hatten darüber berichtet. Sie hatte es nicht gewagt, sich mit ihm in Verbindung zu setzen, aus Angst, dass ihr Name in die Zeitungen gezerrt werden würde. Sie hatte begriffen, dass alles, was er ihr erzählt hatte, von seinem hohen Einkommen, von der baldigen Möglichkeit, sie zu heiraten, nichts als Lüge gewesen war.
Er hatte sich das Geld, mit dem er ihr imponiert hatte, durch Betrug besorgt. Die Erkenntnis war furchtbar gewesen. Noch schlimmer war es, als sie wenige Wochen später feststellen musste, dass sie Mutter wurde. Wenn Isabella ihr nicht geholfen hätte – bestimmt hätte sie es nicht überlebt. Sie hätte sich umgebracht, noch bevor das Kind zur Welt gekommen wäre. Aber Isabella hatte alles arrangiert. Alex Ackermanns Liebe hat sie für alles entschädigt, was sie durchgemacht hat. Trotzdem, ihr Leben hat einen Sprung, der nie wieder heilen wird.
Sie will nicht, dass Miriam dasselbe Schicksal erleidet. Das darf nicht geschehen, um keinen Preis. Aber sie weiß, dass sie selbst nicht die Kraft hat, ihre Tochter zu schützen. Sie hat Miriam verloren, noch ehe sie sie gefunden hat.
Alex kann das nicht verstehen. Er ist ein Mann und er hat nie etwas von dem erfahren, was gewesen ist. Er kann nicht die entsetzliche Angst begreifen, die sie bei dem Gedanken beschleicht, dass Miriam Abend für Abend zu einem Liebhaber geht. Lissy weiß, dass man nicht zu trinken braucht, um glücklich zu sein. Wenn Miriam angeheitert nach Hause gekommen wäre, wäre es ihr fast lieb.
Sie muss Isabella erreichen. Isabella ist so viel stärker als sie selbst. Sie ist immer die Stärkere gewesen. Nur sie wird es fertig bringen, Miriam vor sich selbst zu beschützen.
Lissy sieht auf die Uhr. Jetzt ist Miriam schon fast eine Dreiviertelstunde fort. Wie kann sie soviel Zeit für die kleinen Einkäufe brauchen, die sie ihr aufgetragen hat? Wo steckt sie?
Sie schaut vom Fenster raus. Einen Augenblick glaubt sie, dass ihr Herz aussetzen muss vor wahnsinnigem Entsetzen.
Lissy sieht Miriam in lebhaftem Gespräch mit einem schlanken, dunkelhaarigen Mann – Till Torsten.Würde mich wahnsinnig über eure Kommentare freuen!
Eure Nikita -
da ihr so fleißig kommentare geschrieben habt (und so liebe noch dazu) gehts jetzt auch schon weiter:
Till Torsten kommt von Simmyparis nach Sim-City zurück. Der Himmel ist grau, als er aus dem Taxi steigt. Es regnet sanft, aber unablässig. Till hebt schaudernd die Schultern. In all den Wochen an der Riviera war immer schönes Wetter gewesen. Warum ist er nur nach Sim-City zurückgekehrt?
Er sieht sich suchend um. Er hat Tina Weber ein Telegramm mit der Ankunft seines Taxis geschickt. Sie ist nicht erschienen, um ihn abzuholen. Auch das noch.
Er überlegt, was zu tun ist. Mit Schrecken fühlt er, dass er schlecht in Form ist. Die schlaflose Nacht hat ihn fertig gemacht.
Er widersteht der Versuchung, sein Geld zu zählen, er weiß genau, dass er nur noch knapp 40 Sim-Dollar besitzt. Kurz und berauschend steigt die Erinnerung an jenen einmaligen Abend in ihm auf, an dem es ihm gelungen war, im Spielkasino von Monte Carlo die 50 000 Sim-Dollar, die er Frau Kowalski, der lebenslustigen Witwe, abgeknöpft hat, zu vervierfachen.
Die Chips hatten sich vor ihm bunt und leuchtend auf dem grünen Tisch gehäuft, er hat sich auf dem Höhepunkt des Lebens gefühlt.
Aber dann hat er Pech gehabt, verdammtes Pech. Zwei Tage später hatte er, als er noch einmal sein Glück versuchen wollte, alles wieder verloren.
Till bereut nichts. Er ist der festen Überzeugung, dass das Leben nur als Abenteuer lebenswert ist. Er hatte unvergessliche Wochen an der Riviera verbracht. Es hat sich gelohnt, auf der Welt zu sein. Jetzt ist er wieder zu Hause.
Till liebt Europa, er liebt die weite Welt, das Abenteuer, das Geheimnis, das Unentdeckte, aber immer, wenn ihm etwas schief gegangen ist, kehrt er in die Heimat zurück. Hier, und nur hier ist es ihm noch gelungen, sein Schicksal zu wenden und sein Schiff wieder flott zu machen.
Nachdenklich steht er am Straßenrand. Er versucht, seine Gedanken auf das Problem, das vor ihm liegt, zu konzentrieren.
Er überlegt, ob es ratsam ist, wieder einmal seinen Schwager anzupumpen. Aber er verwirft diesen Gedanken.
Bernhard Schneider muss immer noch böse auf ihn sein, daran ist kein Zweifel. Möglicherweise ist er sogar unklug genug, ihn bei der Polizei anzuzeigen. Isabella würde ihm schon eher helfen, sie ist schließlich seine Schwester. Aber er weiß aus Erfahrung, dass es sehr schwer ist, unter vier Augen mit ihr zu reden. Nein, es ist besser, die Familie vorerst aus dem Spiel zu lassen, im größten Notfall kann er sich noch an sie wenden.
Noch ist er nicht in Not. Unwillkürlich fährt seine Hand in die Jackentasche. Beruhigt tasten seine Finger das prächtige Diamantenhalsband Lady Carolines ab, das ihm ein glücklicher Zufall, dem er nur ein wenig nachzuhelfen brauchte, beim Tanz im Palasthotel in Nizza in die Hände gespielt hatte. Natürlich kann er das Ding nur unter der Hand verkaufen, es ist heiße Ware, aber immerhin müssten ein paar Tausender für ihn herausspringen.
Im Augenblick jedoch ist er nicht in der Stimmung, sich mit einem gerissenen Hehler herumzuschlagen.
Es würde besser sein, erst mal Tina Weber aufzusuchen. Es ist zwar nicht gerade ermutigend, dass sie ihn nicht abgeholt hat, aber immerhin, sein Telegramm kann ja zu spät eingetroffen sein, vielleicht muss sie das Bett hüten – Till weiß aus Erfahrung, dass die Möglichkeiten, die man nicht einkalkuliert, am häufigsten eintreffen.
Entschlossen geht er direkt zu Tina Webers Adresse.
Pfeifend, um sich selbst gute Laune zu machen, steigt er die Treppe hinauf.
Einen Augenblick betrachtet er die weiße Visitenkarte mit der schwarzen Aufschrift: „Andreas Henlein, Studienrat a. D.“, die unter dem Türschild von Tina Weber an das Holz geheftet ist. Sein möbliertes Zimmer ist also besetzt, weiter kein Schaden. Er hat es nicht anders erwartet. Der Konkurrenz eines Studienrates a. D. fühlt er sich jederzeit gewachsen.
Er legt den Finger auf den Klingelknopf, drückt einmal kurz, aber nachdrücklich und wartet.
Die Tür wird so rasch geöffnet, dass er weiß, Tina Weber hat ihn erwartet. Ein Blick auf ihre Erscheinung betätigt diese Vermutung. Ihr Haar ist hübsch frisiert und ihr Gesicht sorgfältig geschminkt.
Sie errötet unwillkürlich, als sie ihn sah, aber ihre Augen bleiben ernst und kein Lächeln kam über ihre verkniffenen Lippen. „Da bist du ja“, sagt sie.
Er will sie zärtlich in die Arme schließen, aber sie weicht vor ihm zurück.
„Tina!“, ruft er, als wenn er ihre Ablehnung nicht bemerkt. „Was hast du mir für Sorgen gemacht! Warum hast du mich nicht abgeholt? Du musst doch mein Telegramm bekommen haben! Ich habe mich so auf dich gefreut.“
„Hast du mir das Geld mitgebracht?“, fragt sie kalt.
„Natürlich“, erklärt er fröhlich, „aber deshalb bin ich ja nicht gekommen ... Ich wollte...“
„Das interessiert mich nicht“, sagt sie, „ich will mein Geld haben, sonst nichts.“
Er hebt die Augenbrauen. „Das klingt nicht gerade freundlich“, sagt er mit gespieltem Erstaunen. „Soll das heißen, du liebst mich nicht mehr?“
Tina: „Ich bezweifle stark, ob ich dich je geliebt habe.“
Sein Lachen klingt unecht. „Was ich an euch Frauen am meisten bewundere“, sagt er spöttisch, „ist euer schlechtes Gedächtnis. Solltest du wirklich vergessen haben, dass...“
„Ja“, unterbricht sie ihn hart. „Gib dir keine Mühe, Kurt. Ich habe alles vergessen. Alles – bis auf die Tatsache, dass du mir Geld schuldest.“
Till: „Na, ein Glück, dass du wenigstens das noch weißt, sonst müsste ich glauben, du leidest an Gedächtnisschwund.“
Tina: „Ich bin nicht zu Späßen aufgelegt. Gib mir das Geld.“
Till: „Ich habe es auf der Bank. Glaubst du etwa, ich schleppe solche Summen in der Brieftasche mit mir herum?“
Tina: „Dann werde ich die Polizei anrufen.“
Till: „Was versprichst du dir davon? Wenn du annimmst, dass ich das Geld nicht habe und dich anlüge, kann dir die Polizei doch auch nicht helfen.“
Tina: „Aber wenigstens wirst du dann deine gerechte Strafe erhalten.“
Till: „Pfui Teufel, wie rachsüchtig. Tina, ich habe mich selten in einer Frau so sehr getäuscht wie in dir. Schämst du dich denn gar nicht?“
Tina: „Warum? Weil ich deinen Gaunereien nicht mehr weiter Vorschub leisten will?“
Till: „Wer spricht denn von Gaunereien? Was glaubst du denn eigentlich, gegen mich in der Hand zu haben. Du hast mir Geld geliehen, na schön. Die Polizei kann dir das glauben oder nicht. Eine Quittung habe ich dir, soviel ich weiß, noch nie gegeben. Ich habe dir auch nie versprochen, mit deinem Geld ein Geschäft zu machen oder dich zu heiraten. Es liegt also keinerlei Betrug vor. Die Polizei wird sehr schnell die Wahrheit herausbringen, verlass dich drauf. Ich war dein Liebhaber und du hast mich dafür bezahlt, was weiter?“
Jetzt endlich ist es ihm gelungen, ihren Panzer eiserner Selbstbeherrschung zu durchbrechen. Sie schreit auf: „Das ist nicht wahr!“
Till: „Nicht? Du wirst es schwer haben, das Gegenteil zu beweisen.“
Tina: „Kurt! Wie kannst du mir so etwas ins Gesicht sagen! Ich – ich hätte dich dafür bezahlt, dass du mein Liebhaber warst?“
Till: „Stimmt es etwa nicht? Glaubst du, ich würde mich je mit dir eingelassen haben, wenn du nicht dafür bezahlt hättest? Schau doch einmal in den Spiegel! Wenn du nur ein Fünkchen Verstand hast, wirst du einsehen, dass ich recht habe.“
Sie bricht in Tränen aus, schlägt die Hände vors Gesicht. „Das ist – das ist teuflisch! Oh, wie gemein – wie widerlich und gemein du bist!“, schluchzt sie.
„Die Wahrheit ist sehr selten angenehm“, sagt er ruhig, „du hast es dir selbst zuzuschreiben, dass ich sie dir sagen musste.“
„Geh!“, schreit sie. „Geh! Wie kannst du es wagen, mir noch ins Gesicht zu blicken! Geh, ich will dich nie mehr wiedersehen!“
„Leb wohl, Tina!“, sagt er mit einer ironischen Verbeugung. „Und viel Glück mit deinem Staatsbeamten.“
„Er liebt mich“, ruft sie außer sich, „dass du es nur weißt! Er wird mich heiraten!“
„Das wundert mich nicht“, sagt er achselzuckend. „Wenn ich ein abgelebter Tattergreis wäre, würde ich dich vielleicht auch zur Frau nehmen.“
Noch als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen ist, hört er ihr wildes, verzweifeltes Schluchzen. Er fühlt weder Mitleid noch Triumph. Er weiß, dass er versagt hat. Es war sinnlos und töricht gewesen, ihr die Wahrheit zu sagen, aber er hatte keine andere Möglichkeit gesehen, mit ihr fertig zu werden.Freu mich wie immer über Lob und Kritik! Also schreibt mir fleißig
-
erst mal danke für eure comments!
die kritik nehme ich einfach so hin, ich hab mir halt die personen so ausgesucht mit ihren stärken und schwächen. frauenfeindlich sollte es bestimmt nicht rüberkommen und schließlich habe ich ja einen fiesen männlichen kerl eingebaut (siehe Till)
und das eine verrate ich euch: der bekommt auch noch seine gerechte strafe!
viele liebe grüße
nikitaTill hat Pech gehabt. 1 000 § und keinen Cent mehr hat der Hehler ihm für das Diamanthalsband geboten. Till weiß, dass er hereingelegt worden ist, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Kauf abzuschließen. Er braucht das Geld, jetzt und sofort und er weiß, dass rasches Geld immer teuer ist.
Es ist Zufall, dass er auf einem abendlichen Bummel auch in eine Bar kommt, in der er eine alte Bekannte trifft. Er erinnert sich plötzlich wieder an das, was hier vorgefallen ist – an die Prügelei mit Gregor.
Es ist jener denkwürdiger Abend gewesen, an dem es ihm gelungen ist, Miriams Hausschlüssel zu entwenden. Fast bereut er, hierher gekommen zu sein, aber er lässt es sich nicht anmerken, sondern lächelt Yvonne, die sich zu ihm gesetzt hat, vergnügt an.
„Na, was macht unser junger Freund?“ fragt er.
Yvonne mustert ihn mit ihren grünen Augen. „Komisch“, sagt sie.
Till: „Was ist komisch, schönes Kind?“
Yvonne: „Dass Sie noch frei herumlaufen. Oder sind Sie etwa gerade erst wieder herausgekommen?“
Till: „Ich höre heute zum erstenmal, dass die Polizei etwas gegen mich hat.“
Yvonne: „Wirklich? Ich möchte nur wissen, wie Sie sich damals rausgeschwindelt haben.“
Till: „Sie sprechen in Rätseln.“
Yvonne: „Wollen Sie etwa behaupten, dass die Polizei damals gar nicht bei Ihnen gewesen ist?“
Till: „Genau das. Warum sollte sie auch?“
Yvonne: „Weil ich Sie angegeben habe, dass Sie es nur wissen. Dieses kleine Mädchen wollte nämlich Greg und mich hinreißen. Das konnte ich mir doch nicht gefallen lassen.“
Till lacht: „Natürlich nicht. Verlangt auch niemand von Ihnen. Aber was mich betrifft – Fehlanzeige. Was ist denn überhaupt passiert? Ich habe keine Ahnung!“
Yvonne: „Sie wissen natürlich nicht, dass bei Miriams Eltern Geld geklaut worden ist?“
Er macht ein erstauntes Gesicht: „Ach was. Das hätte ich der Kleinen eigentlich nicht zugetraut.“
Yvonne: „Sie glauben, sie war es selbst?“
Till: „Wer denn sonst?“
Yvonne sagt nachdenklich: „Schon möglich, zuzutrauen wär’s ihr. Wahrscheinlich wollen ihre Eltern deshalb nichts mehr von ihr wissen. Bloß Greg sieht’s nicht ein. Er schwört hoch und heilig auf diese Minky und wenn ich ihm sage, dass sie eine Kröte ist, wird er nur böse.“
Till: „So sind die Männer. Wo die Liebe hinfällt. Das sollten Sie doch wissen.“
Yvonne: „Ihnen hat das Mädchen doch auch gefallen, reden Sie nicht – sonst wären Sie doch nicht mit ihr herumgezogen.“
Till: „Von gefallen kann gar keine Rede sein, schönes Kind. Sie ist meine Nichte.“
„Was?“ Yvonne reißt die grünen Augen auf.
Till: „Ja, wussten Sie denn das nicht? Sie ist wirklich meine Nichte. Ohne Spaß. Ihre Mutter ist meine Schwester.“
Yvonne lacht: „Haben Sie das auch geglaubt?“
Till: „Wieso?“
Yvonne: „Diese Minky ist doch gar nicht das richtige Kind. Sie ist bloß adoptiert. Sie können daher also auch nicht ihr Onkel sein, es sei denn...“
Till: „Donnerwetter. Da öffnen sich ja Perspektiven. – Ich meine, die Adoptiveltern...“
Yvonne: „Sie hat furchtbaren Ärger zu Hause bekommen und die Eltern haben sie in ein Heim gesteckt. Greg war ganz außer Rand und Band und ist jeden Tag hingelaufen, um sie zu sehen. Aber da war sie schon weg. Und nachher, als er sie endlich wieder aufgestöbert hatte, hat sie ihm eine geschmiert.“
Till: „Ein tolles Mädchen!“
Yvonne: „Das Schlimmste ist, dass er immer noch verliebt in sie ist. Stellen Sie sich vor, dieser Kerl kommt hierher, tut so, als wenn er sich für mich interessiert, dabei will er sich bloß Trost holen und über seine Minky sprechen. Aber den habe ich gleich wieder heim geschickt.“
Till: „Recht so. Aber wo ist sie denn jetzt, wenn sie nicht mehr in diesem Heim da ist?“
Yvonne: „Bei irgendeiner Familie am Goetheplatz. Als Hausangestellte. Stellen Sie sich so was vor. Dabei tat sie immer so wie eine Prinzessin auf der Erbse.“
Till: „Sie kann einem fast leid tun, wie?“
„Mir nicht“, sagt Yvonne entschieden. „Um die brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. So eine kommt immer wieder auf die Beine.“
Yvonne geht zu einem anderen Bekannten und Till ist froh darüber. Er muss seine Gedanken ordnen, aber noch sieht er nicht klar. Er zweifelt keinen Augenblick an Yvonnes Worten. Sie scheint genau zu wissen, dass Miriam ein Adoptivkind ist. Aber warum hat ihm Isabella das nie erzählt?
Er rechnet nach. Miriam muss jetzt 16 Jahre alt sein. Vor 16 Jahren, ja, da hatte er seine erste Strafe abgebüßt. Er hat einen Wechsel gefälscht. Anfängerarbeit natürlich. Er hat es getan, weil er diesem Mädchen imponieren wollte. Wie hieß sie doch gleich? Anne Degerndorf. Ja.
Als er aus der Haft entlassen worden ist, war sie spurlos verschwunden. Sie hat ihm niemals ins Gefängnis geschrieben, aber er war überzeugt gewesen, dass sie auf ihn warten würde. Sie hatte doch immer behauptet, ihn zu lieben. Aber als er nachher entlassen wurde, war sie spurlos verschwunden. Er hatte sie gesucht. Vergeblich.
Diese Geschichte hat ihm einen Knacks gegeben, er weiß es selbst ganz genau. Wenn Anne auf ihn gewartet hätte, vielleicht hätte er den Weg zurück ins bürgerliche Leben gefunden. Nicht nur vielleicht, ganz gewiss. Dann wäre er heute wahrscheinlich ein braver Mann mit Frau und Kind in einem Häuschen im Grünen.
Na ja, es ist eben anders gekommen. Wer weiß, ob er nicht dem Schicksal dankbar sein soll. Jedenfalls hat er sich in all den Jahren nie gelangweilt.
Das ist schon viel wert. Mehr, als die meisten Menschen von ihrem Leben behaupten können.
Till trinkt sein Glas Whisky leer, zahlt und geht.
Aber als er in die laue Sommernacht hinausgeht, denkt er noch immer über das nach, was Yvonne ihm erzählt hat. Als er aus dem Gefängnis gekommen ist, hatte Isabella ein Töchterchen gehabt, Miriam. Sie hatte es angeblich in der Zeit seiner Haft bekommen.
Jetzt weiß er, dass es nicht stimmt. Damals hatte Isabella noch Vertrauen zu ihm gehabt, war überzeugt gewesen, dass die Wechselfälschung ein einmaliger Fehltritt gewesen ist. Trotzdem hatte sie ihm nichts von der Adoption erzählt.
Sonderbar, sehr sonderbar. Noch kann Till sich auf die ganze Geschichte keinen Reim machen.
Miriams Gesicht bleibt völlig ausdruckslos, als Till sie anspricht. „Ich kenne sie nicht“, sagt sie kalt und wendet sich ab.
„Minky, bist du denn verrückt geworden?“ Er packt sie beim Arm.
Sie reißt sich nicht los, aber der Blick ihrer Augen ist so vernichtend, dass er unwillkürlich seinen Griff lockert.
Miriam: „Bitte, lassen Sie mich in Ruhe!“
Till: „Hör mal, Minky, was ist denn in dich gefahren? Ja, ich gebe zu, ich habe dich damals verleugnet, aber mir blieb gar nichts anderes übrig, glaub mir doch! Deshalb kannst du doch nicht...“
Sie unterbricht ihn und wendet sich wieder zum Gehen. „Wenn Sie wüssten, wie sehr Sie mich langweilen.“
Er vertritt ihr den Weg. „Minky – schließlich bin ich doch dein Onkel!“
Miriam: „Nein. Das sind Sie nicht.“
Till: „Ach ja, ich hatte im Augenblick vergessen – du sollst ja das Adoptivkind von den Schneiders sein. Aber das ist doch kein Grund, mich so zu behandeln. Ich will dir doch bloß helfen, Minky!“
Miriam: „Ich brauche keine Hilfe. Am wenigsten von Ihnen.“
„Es ist doch Blödsinn, Minky“, sagt er leise und eindringlich, „dass du mir jetzt eine Szene machst. Wir haben uns doch immer gut verstanden, das wirst du zugeben. Außerdem sitzen wir im gleichen Boot. Dich hat meine Familie fallen lassen, genauso wie mich. Wir beide müssen jetzt zusammenhalten.“
Sie hebt erstaunt die Augenbrauen. „Wozu?“
Till: „Wir müssen uns gegenseitig helfen, Minky! Ich weiß genau, was mit dir los ist. Die Familie hat dir himmelschreiendes Unrecht getan. Es ist eine Schande, dass sie dich hier als Dienstmädchen arbeiten lassen, während...“
„Arbeit ist nie eine Schande“, sagt Miriam ruhig.
„Hör auf damit!“ sagt er wütend. „Du redest, als wenn du im Kloster erzogen worden wärst. Ein Mädchen wie du – so jung, so hübsch, so voller Möglichkeiten. Ich bitte dich, nimm doch Vernunft an! Ich habe dir einen Vorschlag zu machen, einen glänzenden Vorschlag, du wirst sehen. Aber hier können wir nicht reden. Sag mir schnell, wann wir uns sehen können.“
Miriam: „Ich will Sie nie mehr wiedersehen.“
Till: „Du stehst deinem eigenen Glück im Weg, Minky! Hör mich nur fünf Minuten an! Ich habe einen Mann an der Hand, einen Brasilianer, der sucht einen Verwalter für seine Kaffeefarm. Ich könnte auswandern und dich mitnehmen. Du brauchst bloß ein Wort zu sagen.“
Er sieht dass Miriam nachdenklich wird...Lässt sich Miriam wieder von Till einwickeln?
-
Dankeschön an keira und dimple für die lieben comments :knuddel
Er fügt rasch hinzu: „Stell dir das nur vor! Wir beide in Brasilien! Wir könnten alles hinter uns lassen und ein neues Leben anfangen!“
„Du hast mich schon einmal hereingelegt, Till“, sagt Miriam, unsicher geworden.
Till: „Sei doch nicht so nachtragend. Die Sache mit dem Verleugnen kann ich dir noch erklären...“
Miriam: „Das meine ich nicht. Du weißt genau, was du getan hast.“
Till: „Keine Ahnung. Du sprichst in Rätseln.“
Miriam: „Du hast mir meinen Hausschlüssel fortgenommen, bist eingebrochen und hast das Geld aus dem Schreibtisch genommen.“
„Ich?“ Tills Verblüffung wirkt ehrlich. „Du musst verrückt sein, wenn du so etwas sagst!“
Miriam: „Wer soll es denn gewesen sein?“
„Ich war es jedenfalls nicht. Ich kann dir das wirklich nicht erklären.“ Till scheint ernsthaft nachzudenken. „Hör mal, Minky, hat mein verehrter Schwager etwa gewusst, dass ich in seinem Haus war?“
Miriam: „Ja.“
Till: „Dann wird mir alles klar. Minky, dass du nicht selbst daraufgekommen bist! Es ist gar kein Geld weggekommen – verstehst du?“
Miriam: „Nein. Beim besten Willen nicht.“
Till: „Bernhard hat nur so getan – um mich hereinzulegen. Glaub mir doch, Minky! Ich kenne meinen Schwager. Seit Jahren verfolgt er mich. Er mag mich nicht. Er wollte dich überzeugen, dass ich ein Gauner bin, deshalb hat er...“
„Nein“, sagt Miriam fest. „So etwas würde Vater nie tun.“
Sie wendet sich jetzt endgültig ab und geht mit raschen Schritten auf das Haus zu.
Till folgt ihr. „Minky – du kannst mich doch nicht einfach so stehen lassen. Lass mir dir doch wenigstens in Ruhe erklären. Gib mir Gelegenheit...“
„Nein“, sagt sie, schließt die Haustür auf und verschwindet im Haus.
Till bleibt stehen. Er ist verärgert. Das Wiedersehen mit Miriam hat er sich anders vorgestellt. Sie hat sich sehr verändert, seit er sie das letzte Mal gesehen hat. Was ist bloß in sie gefahren? Natürlich, man hat sie gegen ihn aufgehetzt. Aber er wird sie schon klein kriegen. Es ist doch unmöglich, dass er ein so junges, haltloses Mädchen nicht umstimmen kann.
Till braucht Miriam. Er braucht sie so dringend wie das tägliche Brot.
Er hat tatsächlich einen alten, steinreichen Brasilianer kennen gelernt, einen Señor Alvarez, der auf blonde junge Mädchen fliegt. Till hat sich schon einen genauen Schlachtplan zurechtgelegt, wie er ihn ausnehmen kann. Aber das ist nur mit Miriams Hilfe möglich. Keine von den jungen, leichtlebigen Mädchen, die bestimmt gerne mitmachen würden, ist für diesen Plan zu brauchen.
Als Miriam, die Einkaufstüte in der Hand, in die Wohnung kommt, ist Lissy Ackermann am Ende ihrer Beherrschung. „Wo waren Sie so lange?“ herrscht sie Miriam an.
Miriam hebt mit belustigtem Erstaunen die Augenbrauen. „Wieso? Hat es länger gedauert?“
Lissy: „Ich will wissen, mit wem Sie gesprochen haben.“
Miriam: „Na, mit Frau Gössel im Supermarkt, mit der kleinen Lisa vom dritten Stock – ja, ich glaube, das war’s.“
Lissy: „Lügen Sie nicht! Sie waren mit einem Mann zusammen.“
Miriam: „Sie spionieren mir also nach?“
Lissy ringt nervös die Hände. „Miriam!“ ruft sie außer sich. „Wissen Sie denn überhaupt, wer dieser Mann ist?“
Miriam: „Natürlich. Mein Onkel Till – Till Torsten – kennen Sie ihn denn?“
„Er ist nicht ihr Onkel, Miriam – er ist...“ Lissy beißt sich verzweifelt auf die Lippen. Sie sieht, dass es keinen Weg gibt, Miriam zu warnen, ohne ihr die Wahrheit zu sagen. Aber das bringt sie nicht über sich.
Miriam geht an ihr vorbei in die Küche. „Stimmt“, sagt sie ruhig. „Es ist gar nicht mein Onkel. Aber hat das was zu sagen?“
Lissy: „Er ist ein – ein schlechter Mensch, Miriam.“
Miriam: „Warum sagen Sie mir das?“
Lissy: „Aber Miriam, begreifen Sie denn nicht, dass dieser Mann Sie ins Verderben bringen kann?“
Miriam: „Dazu gehören immer zwei, Frau Ackermann.“
Lissy: „Versprechen Sie mir, dass Sie ihn nie wiedersehen werden?“
Miriam: „Wie kann ich denn das? Ich bin sicher, dass er noch mal versuchen wird, mich abzupassen.“
Lissy: „Was wollte er von Ihnen, Miriam? Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit.“
„Das würde Ihnen gar nichts nützen“, gibt Miriam ruhig zurück, öffnet den Kühlschrank und legt ihre Einkäufe hinein. „Ich begreife gar nicht, warum Sie sich überhaupt so aufregen. Glauben Sie wirklich, er könnte mir am helllichten Tage auf der Straße etwas antun?“
Lissy: „Miriam – hat Ihnen Isabella denn nie erzählt...?“
Miriam dreht sich ruckartig um. „Sie kennen also – meine Adoptivmutter?“
Lissy: „Ja. Wir waren Schulfreundinnen.“
Miriam: „Sehr interessant. Sie haben es niemals für nötig gehalten, mir etwas davon zu sagen.“
Lissy: „Warum sollte ich denn?“
Miriam: „Sie verlangen von mir Vertrauen, Frau Ackermann, und haben mich seit dem Tage, an dem wir uns zu erstenmal gesehen haben, andauernd angelogen.“
Lissy: „Das ist nicht wahr, Miriam! Ich habe Sie nie belogen. Sie haben mich ja nicht gefragt!“
Miriam: „Dann tu ich es jetzt. War das zwischen Ihnen und Isabella Schneider eine abgekartete Sache, dass Sie mich zu sich genommen haben?“
„Darauf kann ich nicht antworten“, sagt Lissy verstört.
Miriam: „Wissen meine Adoptiveltern, dass ich bei Ihnen bin?“
Lissy: „Miriam – was würde denn das an Ihrer Situation ändern? Ich möchte mit Ihnen über Till Torsten reden und nicht...“
Miriam: „Na klar, daran hätte ich mich inzwischen schon gewöhnen müssen. Ihr erwartet von uns jungen Leuten, dass wir euch die Wahrheit sagen und euch vertrauen – aber ihr selbst – ach, verdammt.“
„Till Torsten ist ein Verbrecher, Miriam“, sagt Lissy eindringlich. „Er – er hat nie im Leben etwas Nützliches getan. Er ist ein Hochstapler und Heiratsschwindler, mehrmals hat er schon deswegen gesessen ... Er schreckt vor nichts zurück, glauben Sie mir doch.“
Miriam lacht. „Sie meinen also, dass ich ein geeignetes Objekt für einen Heiratsschwindler bin?“
Lissy: „Was er auch immer mit Ihnen vorhat, Miriam, es kann nichts Gutes sein. Er ist ein durch und durch böser Mensch.“
Miriam: „Soll ich jetzt die Kartoffeln abschälen, Frau Ackermann?“
Lissy: „Tun Sie, was Sie wollen – aber hören Sie mich doch an!“
„Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie es mit Isabella Schneider abgesprochen haben, mich zu sich zu nehmen?“ fragt Miriam und nimmt ein Messer aus der Schublade.
Lissy: „Weil Isabella es nicht wollte. Es ist Ihre eigene Schuld, Miriam. Sie hatten sich geweigert, irgend etwas von Ihren Eltern anzunehmen – aber Isabella wollte Ihnen helfen. Sie wollte Sie aus dem Heim herausholen. Und weil Sie Angst hatte...“
Miriam: „Wer bezahlt meinen Lohn?“
Lissy: „Das Geld, das Sie bekommen, ist ehrlich verdient.“
Miriam: „Ich weiß. Aber wer bezahlt es?“
Lissy senkt den Kopf. „Sie würden es von uns bekommen ... Aber wir können es uns nicht leisten, eine Hausangestellte zu halten.“
„Aha. Ich habe mich also wie ein Trottel hereinlegen lassen.“ Miriam schält die Kartoffeln mit solcher Heftigkeit, dass Lissy befürchtet, sie würde sich jeden Augenblick in den Finger schneiden.
Lissy: „Ich hätte es nicht verraten dürfen, ich hatte es Isabella fest versprochen.“
Miriam: „Glauben Sie, dass ich nun wieder davonlaufen werde? Nein, so blöd war ich nur einmal. Deshalb brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.“
„Ich habe Angst um Sie, Miriam. Entsetzliche Angst!“ sagt Lissy, aber in ihrem Inneren weiß sie, dass sie um ihr eigenes Glück zittert. Sie muss etwas unternehmen. Isabella Schneider scheint ihr der einzige Mensch, der ihr jetzt noch helfen kann.
Sie lässt Miriam mit ihrer Arbeit in der Küche allein, geht zum Telefon und ruft das Kurhotel in Bad Simsheim an. Aber es stellt sich heraus, dass Isabella Schneider nicht im Hotel ist. Lissy erfährt, dass Isabella schon am Morgen nach Simburg gefahren ist und erst in der Nacht zurückerwartet wird.
„Kann ich etwas ausrichten, Frau Ackermann?“ fragt der Herr vom Empfang beflissen.
Eine Sekunde überlegt Lissy, dann sagt sie: „Danke, nein, vielen Dank – ich werde schreiben.“
Sie legt den Hörer auf.
Fast ist sie dankbar, dass das Gespräch mit Isabella Schneider nicht zustande gekommen ist. So viel ist geschehen, seit sie sie das letzte Mal gesprochen hat, es wäre am Telefon kaum möglich gewesen, ihr die Situation wirklich klar zu machen.
Lissy setzt sich an den Schreibtisch ihres Mannes und beginnt einen Brief zu schreiben, einen langen, sehr ausführlichen, ziemlich verworrenen Brief, in dem sie alles erzählt, was sie bedrückt. Nachher liest sie ihr Schreiben noch einmal durch – es ist ein einziger Hilfeschrei geworden, und das ist gut so. Isabella muss eingreifen, sofort. Sie muss Miriam zu sich zurücknehmen, sie muss sie vor Till Torsten schützen.
Lissy klebt den Umschlag zu, findet eine Briefmarke und frankiert ihn.
Sie steckt ihren Kopf zur Küche hinein und ruft: „Ich hole nur eben Paul vom Kindergarten ab, Miriam – ich bin gleich wieder zurück!“
Das ist bisher Miriams Aufgabe gewesen, aber sie scheint keineswegs verwundert. Sie nickt nur gleichgültig.
Lissy läuft aus der Wohnung und auf die Straße.Wenn euch die Fortsetzung gefallen hat, schreibt kräftig, und wenn nicht, auch
-
heute gehts mal wieder weiter:
Till Torsten hat, nachdem Miriam ihn hat stehen lassen, seinen Beobachtungsposten in dem Café gegenüber wieder angetreten. Von seinem Platz aus kann er das Haus gut im Auge behalten, ohne dass er selbst gesehen wird. Er ist sicher, dass Miriam an diesem Tag noch einmal auf die Straße kommen wird, er ist überzeugt, dass sein Angriff um so wirkungsvoller sein wird, je intensiver er ihn unternimmt. Er raucht eine Zigarette nach der anderen und langweilt sich. Er darf das Haus nicht aus den Augen lassen, sonst hat sein ganzes Warten keinen Sinn.
Es sind verschiedene Leute ein und aus gegangen, während er da saß und wartete, aber Miriam ist nicht unter ihnen gewesen. Er beobachtet die Hausbewohner und Besucher scharf, denn er weiß, dass oft unscheinbar belanglose Beobachtungen plötzlich wichtig werden können.
Till erkennt Lissy Ackermann, als sie das Haus verlässt. Vielleicht wäre sie ihm in einer anderen Umgebung nicht aufgefallen, aber jetzt, da er weiß, dass Miriam in diesem Haus wohnt, wird ihm sofort klar, dass es nur seine erste große Liebe sein kann, die mit hastigen Schritten über die Straße zum Briefkasten eilt. Anne Degerndorf.
Er wundert sich selbst, dass er seiner Sache so sicher ist. Es ist gute 17 Jahre her, seit er sie zum letzten Mal gesehen hat und sie hat sich verändert. Ihr Haar ist nicht mehr so blond, wie damals, aber er sieht sofort, dass sie gefärbt sind, und ihr Gesicht, das er frisch und voller Übermut in Erinnerung hat, ist matt und müde geworden. Ihre Figur hat sich kaum verändert, ihre Bewegungen, ihre Art zu gehen, sind unverkennbar.
Sie wirft einen weißen Umschlag in den Postkasten und eilt weiter.
Plötzlich wird es Till mit einem Schlag klar, warum er seiner Sache so sicher ist. Anne Degerndorf, nur unter diesem Namen kennt er sie, hat ihn an Miriam erinnert. Er wundert sich plötzlich, wieso er nie gemerkt hat, wie stark die Ähnlichkeit Miriams mit Anne ist. Vielleicht hat er sie sogar unbewusst wahrgenommen und sich nichts dabei gedacht. Vielleicht ist das der Grund, warum er sich so sehr für Miriam interessiert.
Er weiß es nicht, aber er begreift, dass Miriam Annes Kind ist. Deshalb hat ihm Isabella nie etwas von der Adoption erzählt, deshalb hat sie Miriam, als sie glaubte, nicht mehr mit ihr fertig werden zu können, zu ihrer wirklichen Mutter gegeben. Wenn das stimmt, muss Lissy Degerndorf die Frau jenes Alex Ackermann sein, bei dem Miriam als Hausangestellte arbeitet. Das ist hochinteressant.
Till wartet noch, bis Anne zurückkommt, den kleinen Paul an der Hand, der kaum mit seiner Mutter Schritt halten kann und den sie mit sichtbarer Nervosität hinter sich herzieht.
Ahnt sie schon oder weiß sie, dass er wieder aufgetaucht ist? Hat Miriam ihr von ihm erzählt? Weiß Miriam, dass sie Annes Kind ist? Weiß sie, dass er ihr Vater ist? Weiß vor allem Alex Ackermann um die Vergangenheit seiner Frau?
Das alles sind höchst interessante Fragen und Till ist entschlossen, die Antwort darauf herauszubekommen.Einleitung für den nächsten Teil:
Miriam ist über die Tatsache, dass sie ihren Platz bei der Familie Ackermann Isabella verdankt, keineswegs so schockiert, wie sie selbst erwartet hat.
Das Bewusstsein, dass Isabella Schneider sich um sie sorgt, erfüllt sie mit Dankbarkeit und schmeichelt ihrer Eitelkeit. Es ist ihr klar, dass sie unter diesen Umständen nicht mehr bei den Ackermanns bleiben kann. Trotzdem erfüllt sie die Gewissheit, dass sie, solange Isabella lebt, niemals alleine auf der Welt sein wird, mit warmer Freude.
Auch das Wiedersehen mit Till Torsten hat Miriam nicht erschreckt. Sie empfindet es, ganz im Gegenteil, als Genugtuung, dass sie ihm endlich hat heimzahlen können, was er ihr angetan hatte. Sie hat ihn immer gern gehabt, um so gekränkter war sie gewesen, als er sie so gewissenlos hereingerissen und später bei ihrer Begegnung sogar verleugnet hatte.
Die Erinnerung an diese Demütigung hat wie ein Stachel in ihrer Seele gesessen.
Jetzt fühlt sie sich befreit. Es tut ihr wohl, dass er sich noch immer für sie zu interessieren scheint, während er ihr vollkommen gleichgültig geworden ist. Zum erstenmal in ihrem Leben darf sie glauben, einen erwachsenen Menschen völlig durchschaut zu haben.
Als Miriam an diesem Abend das Haus verlässt, hofft sie fast, dass Till auf sie warten wird – nicht, weil sie sich mit ihm versöhnen will, sondern nur, damit sie ihm ihre Verachtung noch deutlicher aussprechen kann. Aber Till lässt sich nicht blicken.
Sie geht mit raschen Schritten durch die Bibliothek, fühlt, wie bewundernde männliche Blicke sich auf sie richten.
Sie tut so, als wenn sie es nicht bemerkt, sucht sich einige Bücher heraus und setzt sich.
Mehr als das Aufsehen, dass sie erregt, freut sie es, dass es ihr gelingt, sich auf ihre Lektüre – eine Abhandlung des amerikanischen Psychologen William James – zu konzentrieren.
Wie immer, steht sie erst knapp bevor die Bibliothek geschlossen wird, auf, um ihre Bücher, bis auf eines, das sie später noch im Café lesen will, zurückzugeben. Die psychologische Abhandlung, in der sie blättert, die Augen gesenkt, tritt sie auf die Bibliothekarin zu.
Unversehens prallt sie mit einem jungen Mann zusammen.
Das Buch von William James fliegt zu Boden, der junge Mann sagt: „Au, verdammt – entschuldigen Sie bitte!“ Er bückt sich und hebt es auf.Und jetzt könnt ihr mal raten, wer dieser junge Mann ist
-
danke donnibärchen und keira für eure comments
heute wirds romantisch:
Es ist Gregor. Erst als er sich aufrichtet, erkennen sie sich. Beide erröten unwillkürlich.
Miriam gewinnt als erste ihre Fassung zurück: „Hallo, Greg“, sagt sie scheinbar gleichgültig.
„Was machst du denn hier?“ fragt er, immer noch verwirrt.
Miriam: „Dasselbe könnte ich dich fragen!“
„Bitte, beeilen Sie sich“, mahnt die Bibliothekarin, „es wird in wenigen Minuten geschlossen!“
Miriam und Gregor erledigen die Formalitäten, dann verlassen sie nebeneinander die Bibliothek.
„Ich muss jetzt mächtig Englisch büffeln“, erzählt er. „Ich haue am ersten September ab. Nach Amerika.“
Sie verhält für eine Sekunde ihren Schritt und sieht ihn an. „Für immer?“
Gregor: „Ach wo. Bloß für ein Jahr. Austausch, weißt du. Ich komme in eine amerikanische Bank, und die schicken dafür einen anderen zu uns.“
„Na fabelhaft“, sagt Miriam und geht wieder weiter. „Ich gratuliere!“
„Dir macht das wohl gar nichts aus?“ fragt er.
Miriam: „Nö.“
Gregor: „Das habe ich mir gedacht.“
Miriam schlägt die Straße zum Park ein, und Gregor läuft an ihrer Seite, obwohl er sich eigentlich in den letzten Wochen fast gewaltsam bemüht hat, sie zu vergessen, aber jetzt, als er neben ihr hergeht, begreift er, dass er sie nie aus seiner Erinnerung streichen kann. Er würde ihr brennend gerne sagen, wie viel sie ihm bedeutet, aber er kann nur hilflos nach Worten suchen.
„Weißt du, Greg“, ihre Stimme klingt nachdenklich, „vielleicht ist es ganz gut, dass wir uns noch mal getroffen haben.“
„Ja!“ sagt er hoffnungsvoll.
„Ich muss dir nämlich sagen – ich weiß jetzt, dass ich mich blöd benommen habe!“ Sie sieht ihn offen an.
„Der eine merkts nie und der andere später“, sagt Gregor, bemüht, um keinen Preis zu zeigen, wie glücklich ihn ihre Worte machen.
Miriam: „Ich habe es jedenfalls gemerkt.“
Gregor: „Immerhin. Wieso ist dir das denn eingefallen?“
Sie beantwortet seine Frage nicht. „Hast du gewusst, dass Isabella das mit Ackermanns arrangiert hat?“
Gregor: „Nein. Ich habe es mir gedacht.“
Miriam: „Warum hast du es mir dann nicht gesagt?“
Gregor: „Minky! Dann wärst du doch bloß noch wütender geworden.“
Miriam: „Kann schon sein. Ich war eben sehr blöd.“
Gregor: „Und nun? Ich meine – was wirst du nun machen?“
Miriam: „Bei Ackermanns kann ich natürlich nicht bleiben. Ich habe herausgekriegt, dass – dass meine Adoptivmutter alles für mich bezahlt. Dann hätte ich ja genauso gut zu Hause bleiben können.“
Gregor: „Eben. Warum gehst du nicht einfach zurück?“
Miriam: „Das kann ich nicht, Greg.“
Gregor: „Ich gebe zu, dass es vielleicht peinlich wäre, aber...“
Miriam: „Das ist es nicht, Greg. Ich kann erst zurück, wenn sie mir sagen, wer meine wirklichen Eltern sind.“
Gregor: „Und da hätte ich dir fast schon geglaubt, du wärst wirklich vernünftig geworden! Was um Himmels willen versprichst du dir eigentlich davon, Minky?“
Miriam: „Man muss wissen, woher man kommt“, erklärt Minky, „kannst du das nicht begreifen? Wie kann man sich denn selbst kennen, wenn man nicht weiß, wer einen geboren hat?“
Gregor: „Es gibt bestimmt Tausende von Kindern, die...“
Miriam: „Das interessiert mich nicht. Für mich geht es nur um mein eigenes Schicksal. Wenn ich sicher wäre, dass sie es nicht wüssten – dass sie es mir beim besten Willen nicht sagen könnten, dann – ja, dann würde ich klein beigeben. Aber sie wissen es doch, nicht wahr, Greg?“
Gregor: „Ich glaube schon.“
Miriam: „Na also. Du kannst sagen, was du willst, ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren.“
Gregor: „Weißt du eigentlich, dass das, was du tust, Erpressung ist?“
Sie stutzt eine Sekunde.
„Von mir aus“, sagt sie dann. „Wenn es kein anderes Mittel gibt, zum Ziel zu kommen...“
Gregor: „Also, Minky, du kommst mir vor wie ein kleines Kind, dem die Eltern keinen neuen Wintermantel kaufen wollen, und jetzt geht es einfach ohne und sagt: ‚Das geschieht ihnen recht, wenn ich mich erkälte!’ – Begreifst du denn nicht, dass du mit diesem Irrsinn nur dir selbst schadest?“
Miriam: „Wieso? Ich komme ganz gut allein zurecht.“
Gregor: „Wirklich? Du bist ja bisher nicht mal eine richtige Hausangestellte.“
Miriam: „Weil Isabella sich eingemischt hat. An meinem nächsten freien Nachmittag geh ich zum Dorotheenheim und lass mir eine richtige Stellung vermitteln.“
Gregor: „Und dann?“
„Ich habe mich für einen Abendkurs eingetragen, Greg – ich werde mein Abitur machen!“ In Miriams Stimme schwingt Stolz.
Er enttäuscht sie. „Das hättest du zu Hause auch so gut gekonnt.“
„Du verstehst mich nicht“, sagt sie bitter.
Gregor: „Na wenn schon. Jetzt bist du mich ja bald los.“
Miriam drückt Gregor ihr Buch in die Hand. „Bitte, halt das einen Augenblick ... Ich will mir nur eben die Schuhe binden.“
Als Miriam sich bückt, streichelt ihr Haar sein Kinn und der Duft ihres Körpers steigt ihm in die Nase – er kann der Versuchung nicht widerstehen, als sie sich wieder aufrichtet, sie an sich zu ziehen.
„Miriam“, sagt er, und es ist das erste Mal, dass er ihren Namen voll ausspricht. „Miriam!“
Sie wehrt sich nicht, spürt seine Küsse auf ihrem Kinn, auf ihrer Wange, auf ihrem Hals. „Ach! Greg“, sagt sie, „warum ist das Leben nur so kompliziert?“
Er sagt, sein Gesicht sehr nahe an ihrem: „Wenn du willst, Miriam ... Ich brauche nicht fortzufahren! Sag nur ein Wort und ich bleibe.“
Miriam: „Nein, Greg – nein. Das hat doch keinen Sinn!“
Gregor: „Magst du mich gar nicht mehr?“
Miriam: „Nein – doch – ich weiß es nicht!“
Er nimmt ihren Kopf in beide Hände. Seine Lippen finden ihren Mund. Miriam spürt, dass er sie noch nie so geküsst hatte wie heute. Ein ungeahntes Glücksgefühl überkommt sie und nimmt ihr fast den Atem.
Es ist ihr, als wenn die Knie unter ihr nachgeben.
Nur mit Anstrengung kann sie sich von ihm losreißen.
„Nicht!“ sagt sie mit erstickter Stimme. „Nicht!“
Er lacht, ein jungenhaftes, triumphierendes Lachen. „Miriam“, sagt er und kostet den Klang ihres Namens aus, „nun ist alles gut! Ich bleibe hier. Wir werden...“
„Nein“, sagt sie und hat ihre Stimme wieder in der Gewalt. „Nein. Du musst fahren. Du musst!“
Gregor: „Aber warum? Willst du mich los sein?“
Miriam: „Ich liebe dich, Greg – gerade deshalb. Wir sind noch zu jung. Wir müssen erst aus unserem Leben etwas machen. Hast du denn vergessen, was du mir immer gesagt hast? Bitte, nein, widersprich mir nicht – du weißt genau, dass ich recht habe.“
Gregor: „Für dich würde ich alles aufgeben, Minky – meine Stellung in der Bank – alles. Ich könnte – ich könnte zum Beispiel als Vertreter arbeiten. Wir könnten heiraten – Minky! Jetzt! Sofort! Du brauchst nur zu wollen.“
Sie streicht ihm durch sein zerzaustes Haar. „Sei nicht traurig, Greg. Was ist schon ein Jahr? Wir werden uns schreiben – oft. Wer werden uns alles erzählen, was wir erleben, ja?“
Er nimmt ihre Hand und legt sie an seine Wange. „Willst du wenigstens auf mich warten?“
„Warten?“ Sie lacht glücklich. „Ich habe so viel zu tun, dass ich gar nicht zum Warten kommen werde.“Würde mich über viele Meinungen von euch freuen!