Der letzte Sommer mit Julian
Liebe Leser,
ich erzähle Ihnen in meiner Geschichte von dem letzten Sommer mit meinem besten Freund Julian. Ich war damals, als es passierte, sechs Jahre alt. Es war ein sehr einschneidendes, schmerzhaftes Erlebnis, das ich lange verdrängt habe. Ich möchte Ihnen erzählen, wie er war, der letzte Sommer mit Julian...
Julian ist mein bester Freund. Und ich bin seine beste Freundin. Wir wohnen ganz nah beieinander. Neben mir und meiner Oma in dem kleinen gelben Reihenhaus wohnt Julian mit seinen Eltern. Wie fast jeden Morgen kommt Julian auch an diesem Morgen zu mir herüber getrabt.
"Wollen wir draußen spielen?", fragt er schon an der Tür. Und ich laufe ins Haus und zieh mir meine Spielschuhe an. Er kommt noch kurz mit rein.
"Seid vorsichtig!", ruft Oma uns noch nach.
"Haltet Euch von den Bahngleisen entfernt!"
Genau dorthin wollen wir.
Gestern haben wir uns dort schon ein Baumhaus bebaut, im Wald hinter den Gleisen. Heute wollen wir es einrichten. Julian hat Nägel mit dabei, damit wir hier und da noch ein paar Ausbesserungen vornehmen können. Wenn wir groß sind, wollen wir heiraten und Mama und Papa werden. Dann können wir im selben Haus wohnen und jeden Tag zusammen Mittag essen. Und Julian geht hinaus in den Wald, um wilde Tiere zu jagen, und ich koche und beschäftige mich mit Nähen und den Kindern. Zwei Kinder werden wir haben, ein Mädchen für mich, die ich frisieren kann, und einen Jungen für Julian, mit dem er angeln gehen kann, wie sein Papa es mit ihm macht. Das wollen wir jetzt spielen.
"Du musst mich in den Arm nehmen, bevor ich zur Jagd gehe!", sagt Julian zu mir. Das machen Mama und Papa auch immer.
"Klar, mach ich!" Und schon legt Julian seinen Arm um mich und gibt mir ganz schnell einen Kuss auf die Backe. Wir lächeln uns an.
"Bis bald!", ruft er. "Pass gut auf unser Haus auf, während ich weg bin!"
"Auf Wiedersehen, Julian!" rufe ich, und als ich winke, fällt mir mein Ring auf den Boden. Ich kann ihn nicht wiederfinden und fange an zu Weinen. Julian hilft mir beim Suchen, und findet ihn als Erster.
Er gibt ihn mir, lächelt mich wieder an und verschwindet. Ich sehe ihm noch nach, wie er im Wald verschwindet. Auf meiner Backe fühle ich einen kleinen nassen Fleck. Das ist der Kuss, denke ich. Nach einer Weile ist Julian immer noch nicht zurück. Ich rufe: "Julian! Wo bist Du?"
Doch keine Spur von ihm. Da erschreckt er mich plötzlich von hinten. Ich fliege voll auf die Nase und sehe ihn böse an. "Das war aber gar nicht nett. Ich hab mir Sorgen gemacht!" Er lacht mich aus. Wir streiten und ich laufe nach Hause. Es wird sowieso schon dunkel. Ich weine auf dem Nachhause-Weg. Meine Oma fragt mich, was passiert ist. "Nichts!", sage ich und laufe in mein Zimmer.
[align=center]Stunden vergehen, als ein Anruf kommt. Es ist Julians Mutter. Meine Oma telefoniert mit ihr, fragt mich unter dem Gespräch, ob ich weiß, wo er ist.
Ich weiß, dass Oma schimpft, wenn ich ihr sage, dass wir oben bei den Bahngleisen gespielt haben, und schüttle den Kopf. Sie unterhalten sich noch kurz und das Gespräch endet. Ich denke nach. Was soll ich nur tun?