Denn niemand ist unsterblich

Wer sich an andere hält, dem wankt die Welt. Wer auf sich selber ruht, steht gut.
Paul von Heyse

Prolog

"Emily? Mama muss dir etwas sagen."

Mama wollte ihre Stimme stark.
Das kleine Mädchen mit den zwei Zöpfen hob den Kopf. Sie las gerade.
"Komm, setz dich neben mich."

Erschöpft liess sich ihre Mutter auf das kleine graue Sofa nieder und winkte Emily zu sich.
"Was Mama dir jetzt sagt, musst du nicht weitererzählen, ja? Das ist eine Sache zwischen uns beiden, Schatz."

Energisch nickte Emily. Sie setzte sich. Seit Papa vor einem Jahr gestorben war, mochte Mama nicht mehr, dass Emily anderen von "unserem Privatleben", wie Mama es nannte, erzählte. Obwohl sie das nie getan hat. Wem auch? Sie hatte keine beste Freundin, nicht einmal eine normale Freundin. Man lachte sie wegen ihrer Frisur aus, fand sie langweilig. Doch das war egal. Emily mochte sich und Mama auch. Die anderen zählten nicht.
Mamas weiche Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
"Mama ist krank, Emily. Nicht so wie du, wenn du erkältet bist. Mama ist schwer krank. Meine Krankheit geht nicht so schnell weg, verstehst du? Mamas Krankheit heilt sich nicht."

[I]Das Mädchen schaute sie an. Eine Krankheit, die nicht weggeht?[/I]
„Mama hat Krebs, Emily.“

Mit dem Wissen wächst der Zweifel
Johann Wolfgang von Goethe

Kapitel 1

Emily lag auf ihrem Bett und blätterte die Fotoalben durch. Langsam streifte sie mit dem Zeigefinger über dem Buchdeckel und öffnete das Erinnerungsstück, bereit, sich darin zu vertiefen.

Sie schmunzelte, als sie das erste Foto sah. Es war aufgenommen worden, als Emily fünf war. Vor neun Jahren sah ihre kleine Welt noch ganz anders aus. Mama da, Emily da. Alle glücklich und gesund. Mama hatte an ihrem neuen Buchprojekt gearbeitet. Dieser Roman, über den sie sich wochenlang geärgert hatte, weil sie mit ihm nicht zufrieden war. Schlussendlich hat sie ihn aber doch beendet, hat ihn gemocht und einen Herausgeber dafür gesucht. Als Erste hat aber Emily die Geschichte gelesen bekommen - auch wenn sie nicht sonderlich viel davon verstanden hatte. Als ihre Mutter endlich einen Verlag gefunden hatte, der ihr Buch produzieren wollte, war sie völlig aus dem Häuschen. Und erst recht, als sie ihr Buch in den Regalen sah. Selbst wenn sie sich ärgerte, dass sie auf ihrem Foto schlecht getroffen war, die Sache, ihren Namen auf dem Buchumschlag zu sehen glich alles aus.

Mamas Stimme hallte durch die Wohnung. "Emily? Wo bist - ah, da."
Ihre Mutter öffnete die Tür. Beim Anblick des Fotoalbums lächelte sie. "Bei welchem bist du gerade?"
"Beim Dritten." erwiderte Emily.
"Dann nehme ich mal den sechsten." grinste sie und nahm ein weiteres Album vom Regal. Die Familie Wing hat zwölf Fotoalben, die immer mehr Verstärkung bekamen.

"Schau mal das hier an."
Nun war es an Emily zu lächeln. So ein Grinsen konnte wirklich nur sie aufbringen. "Das ist schön." Einen Moment lang wurde es still im Zimmer. Beide wussten, wann das Foto entstanden und warum Kathrin so niedergeschlagen wirkte.

Emily fasste sich als Erste wieder. "Mama, schau mal, hier ist auch ein Foto von Papa dab -"
"So Emily", schnitt sie ihr das Wort ab, "wenn wir noch weiter herumtrödeln, verpassen wir die Hälfte unserer Serie."
Unserer Serie. Friends, besser gesagt. Jeden Freitagabend hatten Emily und Kathrin* zugesehen, wie Ross Rachel oder Rachel Ross betrog und geraten, nach wievielen Sendeminuten sie sich wieder glücklich in die Arme fallen würden.

Mama stand auf, versorgte das Album und ging ins Wohnzimmer. Nach kurzer Überlegung, ob Friends das wert war, klappte auch Emily das Buch zu und tat es ihrer Mutter nach.
Mama sass bereits auf dem Sofa vor dem eingeschalteten Fernseher.

Schon erklang die Titelmelodie der Serie und die Beiden konzentrierten sich darauf, möglichst richtig zu raten, wenn Emily auch etwas abwesend war...