„Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind.“
(Johann Wolfgang von Goethe, Erlkönig)
Während der Fahrt sprach ich nicht mit Joe. Es war nicht etwa so, dass ich nicht mit ihm reden wollte, denn ich wünschte mir nichts sehnlicher als den unbekannten Vertrauten an meiner Seite besser kennen zu lernen, aber ich wusste nicht, wie ich mich gegenüber ihm zu verhalten hatte. Es war einer jener Momente, in denen ein Hüsteln schon fehl am Platze, aufdringlich, übertrieben wirkt. Ich hatte Angst davor, was geschehen könnte, wenn ich jetzt den Mund aufmachte und dem Fahrer des Wagens, in dem ich saß, sagte, was ich von ihm hielt. Ein inneres Verlangen drängte mich zwar dazu, ihm all das was ich empfand an den Kopf zu werfen, doch ich wollte ihn gleichzeitig nicht verletzen, war er doch der einzige Mensch auf Erden, den ich noch hatte. Dennoch war meine Wut unbändig und es hätte keine bessere Gelegenheit gegeben, sie jetzt und hier an Joseph auszulassen.
Ich gab schon eine gewisse Zeit vor, ihn nicht anzusehen, doch verstohlen musste ich ihn dann doch mustern. Aus den Augenwinkeln heraus betrachtete ich sein markantes Profil. Auf den Gedanken, dass er gut aussah mit seinen neunundzwanzig Jahren kam ich nicht. Ich hätte mir keinen unattraktiveren Menschen als Joseph Foster vorstellen können. Auch wenn sein dunkles, hochgegeltes und doch immer noch kräftig erscheinendes Haar, die ebenmäßigen Gesichtszüge, die von reiner Haut waren, und seine wachsamen braunen Augen auf sein weibliches Umfeld wohl das ein oder andere Mal anziehend gewirkt hatten, ließ ihn das nicht weniger Objekt meiner angestauten Wut sein!
Während ich – Kühle vortäuschend – mich in den Mantel der Verschwiegenheit hüllte, war der Blickwinkel Josephs für die Tatsachen offensichtlich anders verlagert, denn schon seit geschlagenen drei Stunden versuchte er sich immer wieder an zaghafter Kontaktaufnahme.
»Und wie läuft es in der Schule?«, hatte er gefragt.
- Wenn du da gewesen wärst, hättest du selbst miterlebe können, wie ich von ganzen drei Schulen geflogen bin, wie ich mein familiäres Umfeld mit meiner Untauglichkeit in die Verzweiflung getrieben habe und wie sie sich schließlich einer solchen Dimension von Problemen entgegen sah, dass sie sich nicht mehr anders zu helfen wussten, als mich abzuschieben! Und man hatte mich ausgerechnet zu ihm abschieben müssen. Es war wohl noch nicht grausam genug, dass man mich als genauso verdorben wie Joe bezeichnet hatte und mich somit auf ein Level mit diesem Kerl stellte: man war der Ansicht, dass ich zu ihm gehörte.
Alle hatten mich aufgegeben, hatten die Hoffung in mich verloren. Gewiss ließ sich meine Unschuld an der Sache anzweifeln. Aber suchte ich mir die Situation schönzureden, öffneten sich doch ganz neue Dimensionen für mich: ich konnte Joseph leicht die Schuld an der Misere geben und diese kleine Genugtuung gönnte ich mir stillschweigend.
»Ich kann dich besser verstehen, als du denkst«, fing Joseph schon wieder an, mir mit seiner Freundlichkeit auf die Nerven zu gehen. Aber er ließ sich absolut nicht durch meinen eisigen Blick unterkriegen, mit dem ich ihn nun traktierte. Für gewöhnlich reagierte man irritiert, wenn ich nur lange genug starrte und nicht auf die gesprochenen Worte einging. Joe aber war eine harte Nuss! Den Gedanken, dass er es gut mit mir meinen könnte, und deshalb mein bockiges Verhalten ignorierte, wollte ich nicht zulassen.
Joseph faselte irgendwas von seiner schweren Jugendzeit unter dem Mann, den ich Jahre lang für meinen Erzeuger gehalten hatte und den ich mit Vater, nicht mit Dad anzusprechen pflegte. Ich musste mir das bei Zeiten abgewöhnen. Schließlich wusste ich jetzt Bescheid über die Verschwörung, die man vor mir geheim gehalten hatte. Ich wollte mit keinem von denen weiter zu tun haben! Der Hacken an der Sache war nur, dass sie das wohl auch nicht wollten und ich sie nicht sehr damit treffen würde, wenn ich ihnen ebenfalls den Rücken zuwandte. Wenn ich ihnen mit einem Wutanfall – der sich langsam, aber sicher in mir anbahnte – gekommen wäre, dann hätten sie sich nur bestätigt gefunden und diesen Triumph gönnte ich keinem aus diesem Kleinstadtnest.
Aber diese Kleinstadt würde ich ohnehin nicht mehr wiedersehen, es war zu dem Zeitpunkt nur noch nicht wirklich zu mir durchgesickert. Ich war – notgedrungen – mit Joseph gegangen, den ich vielleicht gute fünfzehn Mal in meinem Leben getroffen hatte. Ich wusste so gut wie nichts von ihm und ich war mir sicher, dass es ihm nicht anders ging. Wir waren vertraute Fremde, entfremdete Vertraute.
Die Reise würde gegen Norden gehen, wo Joseph derzeit seine Zelte aufgeschlagen hatte und, so wurde es mir erzählt, nun auch schon einige Jahre lebte. Nach allem, was ich erfahren hatte, war es keine sonderlich gute Gegend und das nicht nur wegen des verkorksten Wetters. Diese Tatsche schreckte mich aber viel weniger ab, als der Gedanke, mit Joe eine Unterkunft teilen zu müssen. Meine Sachen waren schon gepackt und lagen gut verstaut im Kofferraum. Was würde mich daran hindern, in einer Nacht und Nebelaktion aus seinem Haus zu flüchten, wenn wir erst einmal da waren? Joseph kennen lernen, wollte ich schlichtweg nicht, hatte ich mir auf der Fahrt erfolgreich eingeredet. Die Antwort auf diese Frage war einfach: ich hatte niemandem, zu dem ich flüchten konnte.
»Fiona, ich kann dir nicht versprechen, dass alles besser wird, nur weil du jetzt bei mir bist.« Welch Wunder! Da erzählte mir Joe ja etwas ganz Neues! Mein Zorn, der sich gerade erst etwas gelegt hatte, war erneut angefacht worden. »Ich weiß, wie schwer es ist, wenn man so umgetopft wird.« Elender Lügner! Er hatte ja keine Ahnung! Er war schließlich freiwillig gegangen und hatte mich in der Höhle des Löwen zurückgelassen. Vermutlich hatte er ich das fein zurechtgelegt: ich hatte dran glauben sollen für seine Fehler. Und das Schlimmste war, dass Joes Pläne sich wohl einfacher in Tatsachen wandeln ließen, denn ich hatte wirklich alles abbekommen, was ich ihm jetzt an den Hals wünschte! »Du bist ganz schön sauer auf mich, oder?« Erwartest du nach Stunden des Schweigens wirklich eine Gegenantwort, oder hörst du dich so gerne reden, dass du noch nicht bemerkt hast, dass ich dich so gut es geht ignoriere? »Ich habe es mir auch nicht leicht gemacht…« Natürlich nicht, wie konnte man das auch nur von Einem wie ihm annehmen? »Aber ich habe mich dazu entschieden und ich stehe auch dazu« Das bezweifelte ich zutiefst. Seine Entscheidung, mich in den weiteren Kreis der Familie abzuschieben hatte er auch nur fünfzehn Jahre durchgehalten und das nicht einmal durchgehend.
Er hatte so viel aus meinem Leben verpasst. Joe hatte mich nicht aufwachsen sehen. Er hatte meine ersten Schritte nicht bejubelt, genauso wenig wie er mir das Märchen von der Zahnfee erzählt hatte oder sich daran erfreut, wie ich vor Erfurcht vor dem Weihnachtsmann erstarrte. Er hatte meine Rosa-Phase verpasst und meine andauernde Warum-Fragerei im Alter von vier bis sechs Jahren. Er war es nicht gewesen, dem ich erzählt hatte, dass ich Ärztin werden wollte, nachdem ich vom ersten Tag in der Vorschule nachhause kam. Er hatte mir also nicht erklären können, wieso der Himmel blau ist oder wieso Vögel fliegen können, wir Menschen aber dazu verdammt sind, auf der Erdkugel herumzuirren. Und das Schlimmste war, dass er sich bewusst dagegen entschieden hatte, an meinem Leben teilzuhaben. Er hatte mich nicht einmal in dieser Welt, in die er mich gesetzt hatte, willkommen geheißen. Vielleicht wusste er nicht, was er damit angerichtet hatte. Dass er mich belogen und betrogen hatte, war schon allein als Tatsache untragbar für unser instabiles Verhältnis, aber dass es keine Lüge war, die man gerne glaubte, das nahm ich ihm wirklich übel … denn Joseph hatte nicht nur die schönen Augenblicke verpasst, die einem das Leben als Vater zwangsweise bietet.
Mittlerweile war Joes Redefluss versiegt. Vielleicht hatte er doch endlich gemerkt, dass es mich nicht interessierte, was er zu sagen hatte.
Ich schaute aus dem Fenster der Beifahrerseite des Wagens und starrte in den wolkenlosen Himmel. Wir waren bereits in den frühen Morgenstunden von dem Ort aufgebrochen, den ich jahrelang als mein zuhause bezeichnet hatte. Einige wortkarge Pausen an Raststätten hatte Joe eingelegt, aber viel mehr war nicht passiert. Vielleicht hätte es mir gefallen, wie sich die Landschaft um mich herum veränderte, durch die wir fuhren, wäre ich nur etwas mehr auf die Reise konzentriert gewesen. Vor einigen Stunden hatte es gedunkelt und das gab mir wiederum eine gute Ausrede, mich nicht weiter umzuschauen. Jetzt lag alles in der kohlrabenschwarzen Nacht verborgen. Nur schemenhaft konnte man die Bäume und Sträucher am Rande der asphaltierten Straße erkennen. Blickte man jedoch in den Himmel empor, erkannte man das Meer von Sternen, das sich über das gesamte Zelt des blau-samtenen Himmelszelt ausbreitete. Ich machte mir einen Spaß daraus die kleinen, funkelnden Dinger zu zählen, und das nicht nur um ihrer Schönheit Willen, sondern viel mehr um mich von meinem eigentlichen Gedankengut – derzeit eher eine Last – abzulenken. Zu meinem Verdruss funktionierte diese Taktik nicht. Mein Plan ging nicht auf.
Fortsetzung folgt
...