Lest euch das mal durch und lasst es auf euch wirken. Mich interessieren einfach mal eure Meinungen und Kommentare was ihr davon hält:
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Anke Voigt:
Deutsch sein im Ausland
"Are you a Nazi?"
Deutsch? Abgestempelt!
Alle Deutschen sind dick, blond, tragen Trachten und sind Nazis. Das stimmt zwar nicht,
aber dieses Klischee hält sich hartnäckig — vor allem jenseits des großen Teiches.
Während meines fünfmonatigen Aufenthaltes als "foreign exchange student" in Kalifornien wurde ich allzuoft mit der deutschen Vergangenheit konfrontiert, als trüge ich eine Mitschuld daran.
Als ich 1992 im August zum ersten Mal in die kalifornische High School kam und dort den Geschichtsunterricht besuchte, wurde ich natürlich gleich gefragt, wo ich herkomme. "From Germany" hatte ich kaum herausgebracht, als mich mein Lehrer scharf ansah und ohne Umschweife fragte: "Are you a Nazi?". Wahrscheinlich hätte ich sofort zurückfragen sollen, ob denn er ein Nazi sei, doch in dem Moment war ich einfach zu verblüfft, um noch irgendwie schlagfertig zu sein. Ich verneinte lediglich und registrierte den zufriedenen Gesichtsausdruck meines Lehrers. Er, ein sechzigjähriger Kriegsveteran wie aus dem Bilderbuch (endlich mal eines meiner Vorurteile, das nicht enttäuscht wurde), machte keinen Hehl aus seiner Meinung über die Deutschen. Witzchen über Hitler waren seine besondere Freude. Allerdings hätte er wohl nicht damit gerechnet, daß ich mitlachen und sein Witzrepertoire erweitern würde.
In den folgenden Wochen und Monaten war ich immer wieder überrascht und amüsiert, wie wenig die Amerikaner über die Deutschen wissen und wie viele Vorurteile es gibt. Ich wurde tatsächlich gefragt, ob ich mit dem Auto angereist wäre und ob es in Deutschland Fernseher gäbe. Zu dumm, daß ich kein Dirndl trug — und meine dunklen Haare paßten auch so gar nicht in die Vorstellung meiner Mitschüler vom typischen deutschen Mädchen. Von der Wiedervereinigung hatten die meisten noch gar nichts mitbekommen. Ach, Deutschland war mal geteilt? Sag bloß! Von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, grenzte das Wissen meiner Mitschüler über die Welt außerhalb der Vereinigten Staaten an komplette Ignoranz. Um so trauriger, daß sich trotzdem in ihren Köpfen die Assoziationskette "Deutschland - Nazis - Hitler - Juden - Auschwitz - mal lieber auf Distanz gehen" abspulte, sobald sie von meiner Herkunft erfuhren. Ich merkte ja, wie sie reagierten; ein farbiger Mitschüler fragte mich ganz schüchtern: "Do you hate blacks?" ("Haßt du Schwarze?"). Manchmal beneidete ich meine schwedische Mitschülerin, deren Herkunft viel Neugier und keinen Argwohn auslöste.
Klischeebildung durch die Medien
Das alles waren ja noch Harmlosigkeiten, die man durch Gespräche aufklären konnte. Richtig Angst und Bange wurde mir angesichts der US-Berichterstattung über Deutschland. Als es im Herbst 1992 zu mehreren rechtsradikalen Übergriffen auf Asylanten kam, sah ich im amerikanischen Fernsehen den Ausbruch eines neuen Dritten Reiches auf Deutschland zukommen. Szenen, die auf den Straßen herumlärmende Neonazis zeigten, waren in schneller Folge aneinandergereiht worden. Es wirkte, als seien in Deutschland nur noch Nazis unterwegs, die alle ausländischen Einrichtungen in Brand steckten.
Besorgt rief ich meine Familie an und fragte, was los sei. Ich war beruhigt, als ich erfuhr, daß es sich bei den vermeintlichen Heerscharen von Nazis "nur" um eine relativ kleine Gruppe durchgeknallter Rechtsextremer handelte. Schlimm genug! Doch ein dermaßen verzerrtes Bild der innerdeutschen Angelegenheiten wirkt alles andere als aufklärend.
Kein Wunder also, wenn wir Deutsche im Ausland sofort als Nazis verdächtigt werden! Diese einseitige Berichterstattung hätte ich früher nie für möglich gehalten, aber sie festigt perfekt das Klischee der Nazis, das zugleich auf alle Deutschen paßt. Wir gelten als strenge und sehr effiziente Arbeiter mit hartem Charakter.
Zum Vergleich: Vom Putsch gegen Gorbatschow erfuhr ich erst in Deutschland, weil davon im US-Fernsehen wohl kaum die Rede war. Die Bilder der brennenden Asylantenheime wurden dagegen immer wieder gezeigt.
A propos Medien: In vielen Hollywood-Filmen taucht der böse deutsche Nazi auf, der Befehle erteilt und an Gefühlskälte nicht zu übertrumpfen ist. Oftmals werden diese Typen von Deutschen gespielt, und ich vermute, daß viele Leute den Unterschied zwischen gespieltem und echtem Deutschen nicht erkennen. Woher auch?! Vor kurzem wurde eine Folge der US-Serie "Millennium" ausgestrahlt, die in Deutschland spielte und in satirischer Weise die Deutschen aufs Korn nahm. Ein Polizeihauptkommissar wurde von Gottfried John, einem wahren Charakterdarsteller, herrlich ironisch karikiert. Nach dieser Folge blieb bei mir ein übler Nachgeschmack, denn ich wußte, daß wir Deutschen im Ausland tatsächlich ein dermaßen spießbürgerliches, humorloses und vor allem ausländerfeindliches Image haben.
Offenbar fällt es manchen Deutschen tatsächlich etwas schwer, sich des Lebens zu freuen. Oder kann mir jemand erklären, warum es in Frankreich eine Uhr gibt, die seit zehn Jahren die Zeit rückwärts bis zum Jahr 2000 zählt - ein durchaus freudiger Anlaß -, während in Deutschland eine Uhr die steigenden Staatsschulden versinnbildlicht? Auch wenn ich diesen Umstand angesichts des oben beschriebenen Klischees als wahre Tragikomödie bezeichnen würde, läßt sich daraus wohl kaum eine zutreffende Charakterisierung der Deutschen ableiten.
Zurück in die Staaten. Glücklicherweise hatte ich die Möglichkeit, im Geschichtsunterricht ausführlich über Deutschland und die Zeit des Dritten Reiches zu berichten. Immerhin war dieses Thema schon oft Gegenstand unseres Geschichtsunterrichts gewesen. Meine amerikanischen Mitschüler wußten jedoch fast gar nichts darüber und löcherten mich mit Fragen, von denen ich zwar nicht alle, dennoch einen Großteil beantworten konnte. Eines Tages brachte meine Tischnachbarin ein Album mit zahlreichen alten Fotos mit, die ihr Großvater im deutschen KZ Buchenwald aufgenommen hatte. Auf ihnen waren übereinandergestapelte Leichen zu sehen, an denen Offiziere achtlos vorübergingen. Obwohl ich derartige Bilder aus vielen Dokumentationen kannte, war ich geschockt. Einerseits, weil dieser Anblick niemals an Schrecken verliert, auch wenn man noch so viele Bilder und Dokumentationen aus dem Zweiten Weltkrieg gesehen hat. Andererseits stieß mich der Gedanke ab, daß sich vielleicht Dutzende in Deutschland stationierter Besetzungssoldaten nach ihrer Heimkehr Bilder wie diese ins Album geklebt hatten. Man stelle sich ein gemütliches Nachmittags-Kaffeekränzchen vor, bei dem die Familienalben durchgeblättert werden: "Guck' mal, das ist Opa mit Papa auf dem Arm. Und hier, das sind alles Menschen, die von den Deutschen hingerichtet wurden. Grauenhaft! Ach, und das ist ein besonders schönes Bild von Opa in Uniform (...)"
Einzelfall oder verbreitetes Symptom?
Natürlich könnte man mir nun vorwerfen, dies seien nur meine persönlichen Erlebnisse und spiegelten auch nur die Situation in einem eingeschränkten Umfeld wider. Aber derartige Berichte bekam ich von diversen Leuten, die von den verschiedensten Ländern erzählten. Um nur einige Beispiele zu nennen:
Ein in Kanada lebender Deutscher wurde von einer jüdischen Nachbarin übel als Nazi beschimpft und bespuckt, weil er beim Zeitung holen "Guten Morgen" sagte. Kurze Zeit später erfuhr die Nachbarin, daß dieser Deutsche selbst ein Jude ist, dessen Vater im KZ gefoltert worden war. Über ihre Reaktion ist mir leider nichts bekannt.
Diesen Bericht bekam ich von einem kanadischen Freund, der zwar deutsche Eltern hat, aber selbst in Kanada geboren wurde und dort aufwuchs. Trotzdem akzeptierten ihn seine Mitschüler an der kanadischen Waldorfschule nicht als Kanadier, vielmehr bekam er schon als Kind Ausdrücke wie "Nazi" oder "Deutsches Schwein" hinterhergerufen. Da frage ich mich, woher Waldorfschüler (die ja eigentlich besonders toleranzorientiert erzogen werden) solche Vorurteile aufschnappen?! Wenn schon Kinder so reden, dann will ich nicht wissen, was ihre Eltern für Meinungen vertreten.
In England erlebte ich selbst, daß englische Jugendliche "Heil!" brüllend durch die Straßen zogen. Aber uns spuckten sie vor die Füße, als sie uns Deutsch sprechen hörten.
Während eines Schüleraustauschs mußten sich deutsche Kinder blöde Sprüche ihrer gleichaltrigen französischen Austauschpartner anhören.
Der Fairneß halber muß ich zugeben, daß solche Vorfälle natürlich nicht zwangsläufig passieren, sobald Deutsche ausländischen Boden betreten. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß im Ausland unverhältnismäßig mehr Ressentiments gegen Deutsche als gegen Angehörige anderer Nationen gehegt werden. Jedenfalls kann ich das aufgrund meiner und anderer Leute Erfahrung behaupten.
Eine Kommilitonin schilderte mir eine Unterhaltung, in der sie einer französischen Freundin gesagt hatte, wie furchtbar sie die Übergriffe deutscher Rechtsradikaler auf Asylanten fand. Daraufhin sagte die Französin sinngemäß: "Wieso furchtbar? Sowas passiert in Frankreich ständig, das ist doch nichts Besonderes."
Was ich nicht kapiere, grundsätzlich und hinsichtlich des eben genannten Beispiels: Andere Länder sind in der Vergangenheit nicht gerade zimperlich mit bestimmten Volksgruppen umgegangen, also warum trägt man denen das nicht nach? Mit Sicherheit stellt der Holocaust einen ethischen Schandfleck unvergleichbar großen Ausmaßes dar, doch sind deshalb gleich alle Deutschen Nazis? Auch mehr als fünfzig Jahre nach dieser Schreckenszeit lastet eine Kollektivschuld auf unseren Schultern, die meiner Meinung nach für ein krankes Nationalbewußtsein der Deutschen verantwortlich ist. Wie auch Christiana Uhlenbruch in ihrem Beitrag darlegt, wird Nationalstolz von vielen Angehörigen unserer Generation sogar als moralisch verwerflich betrachtet.
Nationalstolz - ist das etwas Schlimmes?
Ich käme nie auf die Idee zu sagen: "Ich bin stolz, Deutsche zu sein". Eine Deutschlandflagge würde ich mir nie ins Zimmer hängen, und sei sie noch so klein. Denn in meiner Generation stimmt etwas nicht mit unserem Nationalbewußtsein.
Erst aus einem gesunden Nationalbewußtsein kann sich ein Nationalstolz entwickeln. Wenn man in dem Bewußtsein lebt, daß die eigene Nation Gutes geleistet hat und noch leistet, darf man auch stolz auf sie sein. In Deutschland gibt es sogar sehr viel Gutes, man denke nur an die Dichter und Denker und an die Fortschritte in der Technologie. Doch der Schatten des Holocaust liegt über all dem Positiven. Er läßt uns nicht stolz auf uns sein.
Es scheint, als könnten wir nicht so selbstverständlich mit unserem Deutschsein umgehen wie andere Nationen mit ihrer Identität. Wir werden schief angeguckt – hier in Deutschland in gleichem Maße wie im Ausland –, wenn wir unabhängig von einem Fußballspiel die deutsche Nationalhymne singen. Ganz zu schweigen davon, daß nicht alle Strophen gesungen werden dürfen (was auch nicht in meinem Interesse läge). Die Farben Rot, Gelb und Schwarz sollte man besser nicht in Kombination tragen, weil man sonst unter Umständen provozierende Sprüche oder Schlimmeres riskiert. Ein ungünstigerer Geburtstag als der 20. April (Hitlers Geburtstag) ist nicht denkbar — denn wenn man an diesem Tag feiert, kommt dummerweise gleich die Polizei dazu und fragt nach dem Grund der Fröhlichkeit. Kein Witz; das ist einem Bekannten von mir tatsächlich passiert.
Die Vorstellung, in jeder Schule die deutsche Flagge zu hissen und sich morgens zum Singen der Nationalhymne dort zu versammeln, wäre in Deutschland ebenfalls undenkbar — in den USA ist dieser Brauch fast überall an der Tagesordnung. In der Marching Band "meiner" kalifornischen High School mußte ich zuallererst die Hymne "Star Spangled Banner" auswendig lernen. In Deutschland käme es mir seltsam vor, wenn ausländische Schüler die Deutsche Nationalhymne lernen müßten.
Nun soll es nicht so klingen, als fordere ich diese Optionen für uns ein. Ebensowenig halte ich die ausländische Berichterstattung für den Grund unseres verkorksten Umgangs mit der eigenen Nationalität. Dafür tragen wir allein die Verantwortung.
Was ich mir wünsche, ist ein unverkrampfte(re)s deutsches Selbstverständnis. Wir sollten auch stolz sein dürfen, ohne uns zwangsläufig gleichzeitig schuldig fühlen zu müssen. Und ich glaube, das gelingt uns nur, wenn wir uns darüber klar werden, daß der Holocaust nicht "typisch deutsch" war.
Liegt der Holocaust in der Natur des Menschen?
Es ist doch belegt, daß nicht Deutschland allein in seiner Vergangenheit Genozid verübt hat. Wer sagt, daß so etwas nicht mehr passieren kann, weil man ja aus der Geschichte lernt, lügt sich meiner Meinung nach selbst etwas vor. Die Frage, wie es denn zur Massenvernichtung menschlichen Lebens kommen konnte, wurde seit Auschwitz immer aufs Neue gestellt. Soziologen, Kriminologen und Psychologen widmeten dieser Frage einen Großteil ihrer Arbeit. Eine Untersuchungsserie des Sozialpsychologen Stanley Milgram in den Jahren 1965 bis 1974, die in Amerika mit ca. 2000 Menschen durchgeführt wurde, hat mich auf grausige Art fasziniert: Der Versuchsleiter wies die Versuchsperson an, einem im Nebenraum an einen "elektrischen Stuhl" fixierten "Schüler" per Mikrofon Aufgaben zu stellen und ihm für falsche Antworten per Knopfdruck Stromstöße zu verabreichen. Dabei wußten nur der Versuchsleiter und der "Schüler", daß die Situation gespielt war. Die fingierten Stromstöße reichten von einer leichten bis zu einer tödlichen Dosis, auf die der "Schüler" mit geschauspielerten Schmerzensschreien reagierte. Nach jeder falschen Antwort wurde die Versuchsperson aufgefordert, die Dosis zu steigern. Entgegen aller Erwartungen betätigten zwei Drittel aller Versuchspersonen den Knopf, der im realen Fall den Tod des "Schülers" zur Folge gehabt hätte! Dabei widersprachen sie zwar kurzfristig, doch sie widersetzten sich nicht.
Das Ergebnis dieses Experiments ist umso erschreckender, als die Versuchspersonen jederzeit die Möglichkeit hatten, von dem Versuch zurückzutreten. Doch allein die vermeintliche Autorität des Versuchsleiters im weißen Kittel reichte aus, wildfremden Menschen tödliche Stromstöße zu verabreichen.
Wie es scheint, liegt es in der Natur des Menschen, die Verantwortung für das eigene Handeln auf andere zu übertragen. Angesichts dieser Tatsache würde ich den Menschen eher auf der untersten als auf der obersten Entwicklungsstufe ansiedeln; offensichtlich lag Thomas Hobbes mit seinem Ausspruch "Der Mensch ist des Menschen Wolf" richtig.
Als ich das erste Mal von besagter Versuchsreihe hörte, war ich außerordentlich bestürzt. Meine feste Überzeugung geriet ins Wanken, daß über die Vergangenheit aufgeklärte Menschen zu solchen Greueltaten nicht fähig seien. Eine kleine Stimme meldete sich in mir: "In dem Versuch wurden nur Amerikaner getestet, keine Deutschen". Ob das einen Unterschied macht? Ich bezweifle es.
Mein Standpunkt ist und bleibt, daß ich lieber selbst sterben als einen anderen Menschen töten würde, denn mit der Schuld könnte ich niemals fertig werden. "Ja, aber wenn dir damit gedroht wird, deine Familie zu ermorden?" entgegnete mir eine Freundin, als wir dieses Thema diskutierten. Verdammt nochmal, ich weiß es nicht.
Keineswegs will ich damit den Holocaust verharmlosen! Ganz im Gegenteil: Der Holocaust ängstigt und erschreckt mich noch viel mehr, weil er eben kein "einmaliger Ausrutscher" der Menschheitsgeschichte war.
Die Geschichte ist keine Geschichte
Doch je mehr ich mich mit unserer Erinnerung an den Holocaust auseinandersetze, desto deutlicher kristallisiert sich der Zwiespalt heraus, den unsere Generation erlebt. Wir wollen zwar nicht die Erbschuld unserer Vorfahren übernehmen, weil wir nunmal nicht die Schuld an der Vergangenheit tragen, aber vergessen wollen wir trotzdem nicht. Zu groß – und allem Anschein nach berechtigt – ist die Angst davor, der Holocaust könne sich eines Tages wiederholen.
Mir erging es wie Christopher Gohl, als wir Buchenwald besuchten. Die dort herrschende Atmosphäre und der Gedanke, wieviel Leid diese Stätte deutscher Grausamkeit einst hervorbrachte, bedrückten mich unerwartet intensiv. Ich mußte unwillkürlich an die Debatte um das Holocaust-Mahnmal in Berlin denken. Wenn man den Platz nun einfach so ließe, wie er ist? Drückt die Leere nicht am besten das aus, was wir angesichts der grauenvollen Erinnerung empfinden? Uns fehlen Antworten, die wir nie bekommen werden.
Es ist leicht, das Vergangene von sich zu schieben mit der Begründung, es sei aus und vorbei und nicht wiederholbar. Sehr oft schon habe ich mich selbst bei solchen Gedanken ertappt und gemerkt, daß ich den wichtigsten Aspekt der Vergangenheit außer Acht gelassen habe. Wir müssen uns vergegenwärtigen, "daß Geschichte keine Geschichte ist, sondern wirklich stattfindet." So drückt es der deutsche Jude Jakob Rosenzweig im Film Rosenzweigs Freiheit aus, in dem sein Bruder fälschlicherweise beschuldigt wird, einen Rechtsradikalen ermordet zu haben.
Geschichte hat sich niemand einfach nur ausgedacht und niedergeschrieben, sie ist eine uns alle in sich einschließende Wirklichkeit. Deswegen bin ich davon überzeugt, daß es in Deutschland nie einen endgültigen Schlußstrich unter der Erinnerung an den Holocaust geben wird, besser gesagt: geben kann. Wie bei einem einzelnen Menschen, der in seiner Jugend ein schweres Trauma erleiden mußte, das ihn sein Leben lang verfolgen wird, so ist auch in Deutschland die Vergangenheit stets präsent.
Traumata können allerdings ein stückweit bewältigt werden, damit man für ein "normaleres" Leben befähigt wird. Ganz normal wird dieses Leben freilich auch durch größte Anstrengungen nicht, doch immerhin kann es etwas unbeschwerter sein.
Mut zur Selbstreflektion
Deutschland schien bis vor kurzem auf einer Stufe der Vergangenheitsbewältigung stehen geblieben zu sein. Es wurde immer wieder an den Holocaust erinnert, sei es durch Konzerte, Lesungen oder Kranzniederlegungen, doch fand kein reflektierter Umgang mit der Erinnerung statt. Erst die Debatte, ausgelöst durch die Rede des Herrn Walser, legte das Bedürfnis vieler Menschen nach einem Austausch über die Art des Erinnerns offen dar. Die Angst vor den Folgen, die eine kritische Äußerung bezüglich der deutschen Schande nach sich ziehen könnte, wurde erstmals öffentlich angesprochen.
Für die einen war dies ein Skandal, weil sie rechtradikale Propaganda witterten. Die anderen waren erleichtert, weil endlich jemand in aller Öffentlichkeit das gesagt hatte, was sie selbst nie auszusprechen gewagt hätten. Wenn auch die Wortwahl an mancher Stelle mißverständlich erschien und einen Nährboden für rechtsextremistische Auslegungen bot,
so brachte Herr Walser immerhin eine wichtige Diskussion in Gang.
Es geht doch nicht darum, die Erinnerung an den Holocaust abzuwürgen oder für unsinnig zu erklären. Vielmehr könnten wir in Deutschland andere Wege suchen, die der Vergangenheit gerecht werden und uns gleichzeitig den moralischen Maulkorb abnehmen. Wenn zum Beispiel in der Schule das dritte Buch über dieses Thema durchgekaut wird, sollte ein Schüler auch sagen dürfen "bitte, nicht schon wieder!". Wie bei jedem anderen Thema auch, das schon oft angesprochen wurde und langsam einen Überdruß erzeugt. Das macht den Holocaust doch nicht zwangsläufig unwichtiger, sondern fordert nur einen anderen Umgang mit ihm ein.
Hervorragend fand ich beispielsweise die Idee eines Musiklehrers an meiner Schule, 1995 das Musical "Anatevka" aufzuführen. Es handelt von den Einwohnern eines jüdischen Dorfes und vermittelt viel von der jüdischen Tradition. An diesem Musical mitzuwirken gab mir sehr viel tiefere Einblicke in die jüdische Lebensweise, als es normaler Geschichtsunterricht jemals ermöglichen könnte.
Wenn wir Erinnerung lebendig gestalten und ab und zu hinterfragen, entwickelt sie sich auch weiter. Dann müssen wir Deutschen auch nicht länger befürchten, ewig im Ausland als die Bösen dazustehen, denn ein verändertes Selbstbewußtsein unserer Nation dringt mit Sicherheit früher oder später nach außen. Dazu fehlt uns Deutschen nur noch ein wenig Mut zur selbstkritischen Betrachtung.