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„Sehr gut! Genauso hab ich mir das vorgestellt!“
Zufrieden sah sich Lady Alice um. Wie die meisten anderen Räume von Ravensdale Hall war
der Große Speisesaal nicht wiederzuerkennen. Unzählige fleißige Hände hatten in den
vergangenen Wochen daran gearbeitet, ihn in der ursprünglichen alten Pracht wiedererstehen
zu lassen. Fenster waren geputzt, die Vertäfelung gesäubert, das Parkett neu aufpoliert
worden. Etliche Tage hatte ein Großteil der Dienerschaft damit zugebracht, das angelaufene
Familiensilber wieder zum Strahlen zu bringen.
Unmengen an kostbarem Stoff waren geliefert worden, um die schadhaften Vorhänge zu
ersetzen und die unzähligen reichlich dünn gewordenen oder gar zerschlissenen Polstermöbel
neu zu beziehen.
Nun, da die Septembersonne ihre Wärme durch die weitgeöffneten Läden in jeden Raum
schicken konnte, erinnerte kaum noch etwas an den alten, düsteren Kasten, den sie bei ihrer
Ankunft im Frühjahr hier vorgefunden hatten. Das ganze Schloss war erfüllt von Leben, von
geschäftigem Treiben und von Lachen.
Fehlten nur noch die Kinder!
Kinder! Lady Alice seufzte. Das würde wohl noch eine ganze Weile dauern.
Dabei hatte Patrick entgegen all ihrer Befürchtungen die Saison in London doch genossen,
und einen großen Anteil daran schien die verwitwete Lady Worthington zu haben. Man sah
ihn oft in ihrer Gesellschaft, er begleitete sie in die Oper, tanzte auf den Bällen mit ihr, ritt mit
ihr aus oder ging mit ihr spazieren. Natürlich alles in einem durchaus schicklichen Rahmen
und so, dass weder der Ruf der Dame noch sein eigener Schaden nahmen. Dennoch hatte
nicht nur Lady Alice den Eindruck, ihr Sohn könnte, zum ersten Mal in seinem Leben,
ernsthaft Feuer gefangen haben. Ihn selbst kümmerte es nur wenig, dass halb London ihn mit
Argusaugen beobachtete, noch scherte er sich um die oft recht bissigen Kommentare jener
[FONT="]Mütter, deren farblose Töchter unbeachtet blieben.[/FONT]
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Patrick zuliebe hatte Lady Alice während dieses Sommers sogar das unaufhörliche
Geschnatter von Agatha Fenton, Percivals Mutter, weitaus öfter ertragen, als sie sich das für
gewöhnlich zumutete. Immerhin wohnte Lady Worthington bei ihnen und jede Einladung an
die Fentons schloss sie automatisch mit ein. Lady Alice konnte nicht umhin, während so
mancher kleinen Gesellschaft Lady Isobels virtuoses Spiel auf dem Klavier zu bewundern,
mit einem kleinen Anflug von Neid, da sie doch selbst solche Schwierigkeiten mit dem
Instrument hatte. Nur... wenn sie sich ihren Sohn ansah, wie er da neben ihr stand, die Noten
umblätterte oder applaudierte, wenn er mit ihr tanzte, ihr galant in den Sattel half, verspürte
sie immer wieder diesen kleinen Stich in ihrem Herzen. Im Gegensatz zu ihrem Sohn blieb sie
nicht ganz taub gegenüber dem Geschwätz in der Gesellschaft und so manches, was ihr da zu
Ohren kam, bereitete ihr Sorgen. Dennoch begann sie sich darauf einzurichten, dass er sie
womöglich am Ende der Saison mit einer Verlobung überraschen würde.
Er überraschte sie in der Tat, aber nicht so, wie sie es erwartet hatte. Kaum waren sie von
Ascot zurück, erklärte er ihr, dass er wegen dringender Geschäfte nach Frankreich reisen
müsse und so den Rest der Saison versäumen würde. Er wirkte verschlossen, viel mehr als
sonst, und ließ sich auf keinerlei Gespräche bezüglich dieser ominösen unaufschiebbaren
Geschäfte ein, sodass Alice sich des unguten Gefühls nicht erwehren konnte, hinter seinem
plötzlichen Aufbruch stecke weitaus mehr, als er ihr sagte. Da war so ein seltsam
melancholischer Ausdruck in seinen Augen, als er sich von ihr verabschiedete. Und sein
reichlich verunglücktes Lächeln, bevor er in die Kutsche stieg, war auch nicht gerade dazu
geeignet, ihre Besorgnis zu mindern. Mit einem tiefen Seufzer hatte sie sich abgewandt, um
ins Haus zurückzukehren. Trotz des vielversprechenden Anfangs konnte man diese Saison
kaum als erfolgreich bezeichnen. Und das lag nicht zuletzt auch an dem bösen Zerwürfnis mit
Elizabeth.
Himmel, wie sehr hatte sie die harschen Worte auf dem Ball bei Almacks bereut. Die alte
Dame war ihr immer eine Freundin gewesen und ihr war es bisher doch auch nie schwer
gefallen, deren gelegentliche Wunderlichkeit mit Humor zu nehmen. Lady Alice konnte es
kaum fassen, dass sie sich durch diese düsteren Prophezeiungen dazu hatte hinreißen lassen,
Patricks Großtante derart vor den Kopf zu stoßen. Gut, dass der Junge davon nichts wusste.
Also hatte sie Briefe geschrieben, in denen sie Elizabeth um Verzeihung gebeten hatte, doch
sie kamen alle ungeöffnet zurück. Auf den zahlreichen Abendveranstaltungen verstand es die
Dowager Countess stets, ihr aus dem Weg zu gehen, als wüsste sie genau, welche
Veranstaltungen Alice und ihr Sohn besuchten und welche nicht.
Selbst als sie bei ihrer Londoner Residenz vorsprach, erklärte ihr der Butler jedes Mal mit
steinerner Miene, dass seine Herrschaft bedauerlichweise nicht im Hause sei. Lady Alice aber
wusste es besser. Elizabeth schien nicht gewillt zu sein, ihr zu vergeben und ließ sich
verleugnen. Konnte sie es ihr verübeln? Wohl kaum. Doch nachdem Patrick abgereist war und
Alice den Entschluss gefasst hatte, ebenfalls auf den Rest der Saison zu verzichten und
stattdessen lieber auf Ravensdale Hall nach dem Rechten zu sehen, beschloss sie, noch einen
letzten Versuch zu unternehmen, mit Elizabeth zu sprechen.
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geht noch weiter