Kapitel 29: Tarnung
"Nein!" entfuhr es Richard, nachdem Lina ihm und den anderen Beiden von ihrem Plan erzählt hatte.
"Aber es ist notwendig," Lina schüttelte den Kopf. "Was sollte ich sonst tun? Weiter mit euch durch den Wald streifen und mich irgendwann in Schwierigkeiten bringen? Ich muss dem Abt helfen, um mir selbst zu helfen. Verstehst du das denn nicht?"
"Ich verstehe nur, dass du dich damit in Teufels Küche bringst," entgegnete er bissig. "Du hast doch keine Ahnung was dich da erwartet. Was ist, wenn du dich verrätst? Dann bist du verloren."
"Ich weiß, aber wenn ich nichts tue, bin ich ebenso verloren. Gott Richard, du hast keine Ahnung wie schlimm es um meine Zunft steht." Sie senkte den Blick beklommen. "Und genau deshalb muss es sein. Ich kann nicht tatenlos zusehen, wie Unschuldige hingerichtet werden, nur weil sie den Menschen helfen wollen. Und das alles nur, weil so ein Wahnsinniger an Macht gekommen ist. Ich muss herausfinden, wie sehr der Fürst von diesem Priester beeinflusst wird, für mich und für die Anderen." Sie blickte ihm wieder in die Augen und merkte, dass er langsam kippte. Also beschloss sie ihren letzten Trumpf aus zu spielen. "Was ich noch gar nicht erwähnte ist, dass ihr aus der Zelle hier herauskommt, wenn ich an den Hof gehe. Ihr könnt euch frei im Kloster bewegen, wenn auch nicht die Anlage verlassen."
"Pah, das ist aber auch das Mindeste," kam es von Henry, der sich bislang zurückgehalten hatte.
"Ruhe und lass mich überlegen," fuhr ihn Richard an und blieb eine Weile still. Man sah ihm an, dass er angestrengt nachdachte und niemand wagte es ihn dabei zu unterbrechen. Nach einer Weile, die Lina wie eine Ewigkeit vor kam, nickte er schließlich langsam. "Wahrscheinlich hast du Recht und es ist eine Möglichkeit, aber ich an deiner Stelle würde es nicht tun. Aber ich kenne dich lange genug um zu wissen, dass du dich nicht mehr umstimmen lässt. Und ich will verdammt sein, wenn ich noch einen Tag länger hier mit den Beiden in diesem Loch verbringe." Er beugte sich verschwörerisch zu ihr rüber. "Sie stinken nämlich, musst du wissen."
Lina lachte leise und der Stein auf ihrem Herzen fiel endlich. Sie fühlte sich befreit und war froh, dass Richard sie gehen ließ. Sie hatte daran gezweifelt, denn sie wusste, dass er sie beschützen wollte. Aber vor dem Priester kannst du mich nicht beschützen Richard, dass muss ich alleine schaffen.
Kurze Zeit später öffnete der Abt die Zellentür und die Gruppe trat hinaus ins helle Tageslicht. Abt Leopold schüttelte Richard die Hand und hieß ihn ohne spöttisch zu wirken willkommen im Kloster. Richard erwiderte das Lächeln matt und fragte sich leise, ob er wirklich das Richtige tat. Sicher hatte Lina nicht ganz unrecht, aber er machte sich trotzdem Sorgen um sie. Die Tage in der Zelle hatten ihm einige Einsichten gebracht, denn er hatte viel Zeit gehabt nachzudenken. Er wusste inzwischen, was Lina ihm bedeutete, aber er hatte nicht vor ihr das jetzt noch zu sagen. Sie schien so entschlossen und voller Tatendrang, dass er sie nicht damit belasten wollte. Trotzdem fiel es ihm wahnsinnig schwer sie gehen zu lassen und selbst im Kloster zu bleiben, aber er hoffte, dass er den Abt noch umstimmen konnte in der Hinsicht.
Zusammen mit seinen Freunden folgte er Lina und dem Abt ins Kloster. Henry und Jacob blieben allerdings lieber in dem großen Speisesaal und so ging nur Richard mit ins Arbeitszimmer des Abtes. Dort hieß Leopold die Beiden sich zu setzen, um mit ihnen noch die letzten Details zu besprechen. Innerhalb kürzester Zeit stand fest, dass Lina sich am nächsten Morgen aufmachen sollte. Mit einem entschuldigenden Lächeln zog der Abt ein einfaches Kleid für Lina unter seinem Schreibtisch hervor.
"Du kannst ja schlecht in deinen, entschuldige, Lumpen dort erscheinen, außerdem solltest du dir die Haare zurück binden. Das lässt dich nicht so wild erscheinen und deine Chancen vergrößern sich, eine Arbeit am Hof zu bekommen. Ansonsten sei höflich und still. Das mögen die Herrschaften besonders gern. Sonst weißt du ja, was du zu tun hast." Er nickte ihr aufmunternd zu und sie lächelte zurück, auch wenn sie die Aufmunterung gar nicht brauchte. Sie fühlte sich endlich nicht mehr so hilflos und brannte darauf endlich etwas sinnvolles zu tun.
Richard lächelte nicht, aber hielt sich zurück mit seinen Bedenken. Kurze Zeit später verließen sie zusammen das Arbeitszimmer und begaben sich zu Jacob und Henry in den Speisesaal.
Lina und Richard verbrachten ihren letzten Abend in fröhlicher Runde, denn selbst die sonst so staubtrockenen Priester waren einem gelegentlichen Umtrunk nicht abgeneigt. Trotz aller Sorgen und Aufbruchspläne trank Lina mit den Räubern und Priestern zusammen ein paar Gläser Wein. Nach einer Weile fühlte sie sich so locker und ausgelassen wie noch nie zuvor, allerdings war sie nach zwei Bechern auch hundemüde und konnte kaum noch die Augen offen halten. Sie rückte näher an Richard heran, lehnte sich müde an seine Schulter und schloss die Augen. Etwas verwundert über die plötzliche Nähe, aber keineswegs abgeneigt, legte Richard ihr vorsichtig den Arm um die Schultern, damit sie nicht plötzlich von der Bank fiel, falls sie fest einschlief.
Gegen Mitternacht beendete der Abt das fröhliche Treiben mit einem belustigten Schmunzeln und alle suchten sich ihre Schlafplätze. Richard weckte Lina sanft und wies auf die vorbereiteten provisorischen Betten in der Halle. Sie nickte verschlafen und wankte zu dem ihr zugewiesenen Schlafplatz. Richard, inzwischen auch auf seiner Decke liegend, rieb sich über die noch warme Schulter und seufzte so leise, dass es keiner seiner Kumpel mitbekam, obwohl sie direkt neben ihm lagen.
Früh am nächsten Morgen schnappte sich Lina das neue Kleid, verschwand an einen unbeobachteten Ort und zog sich um. Dann band sie sich die langen Haare zusammen und versuchte in einem Eimer voller Wasser ihr Spiegelbild zu erkennen. Aber irgendwie wollte das Wasser nicht stillstehen und sich seufzte leise. Also würde sie sich auf das Urteil des Abtes verlassen müssen. Entschlossen ging sie zu ihm und stolperte in der Halle über Richard, der sie erschrocken auffing. Einen Moment länger als nötig hielt er sie fest und ließ sie dann so plötzlich los, dass Lina fast wieder das Gleichgewicht verlor. Allerdings ließ sie sich nicht von ihm aufhalten und stolzierte erhobenen Hauptes und ohne auf das leise Gelächter der anderen Räuber zu achten zur Tür.
*geht gleich weiter*