Ein kleiner Beitrag zum heutigen Tage...
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Media Vita in Morte Sumus
Der Spätsommer nach der Jahrtausendwende war der unbeschwerteste, den wir je erlebt hatten. Eure Firma schrieb zum ersten Mal schwarze Zahlen, Laura hatte ihr erstes Jahr an der Realschule erfolgreich hinter sich gebracht, und mir wurde ein zweijähriger Sponsorenvertrag von unserer Sportjugend angeboten, sodass die finanzielle Belastung des Eiskunstlaufes zum ersten Mal komplett von euren Schultern genommen war.
Ich war darüber so glücklich gewesen, dass ich sogar angeboten hatte, den Transporter für euch zu waschen – es war natürlich schnell abzusehen, dass daraus nichts mehr werden würde, nachdem Laura sich dazugesellt hatte. Aber ich glaube, das konnte euch an diesem sonnigen Tag nicht die Laune trüben.
Unser fröhliches Kinderlachen hatte auch euch zum Schmunzeln gebracht, und irgendwann habt ihr lieber mit uns gespielt, als euch um den Wagen zu kümmern. Papa war ganz neugierig geworden und hatte die arme Laura ausgefragt, ob es denn einen Jungen gäbe, den sie nett fände. Mir wäre das schrecklich peinlich gewesen, aber Laura hatte doch tatsächlich genickt und war dann sogar rot geworden!
Obwohl sie gerade mal vierzehn war, kam mir meine Schwester plötzlich schrecklich erwachsen vor. Dabei gab es eigentlich auch einen Jungen, den ich furchtbar nett fand – meinen besten Freund Fabian nämlich. Danach hatte mich allerdings nie jemand gefragt, und damals dachte ich wohl noch, ich wäre einfach zu jung für solche Fragen.
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Der Herbst des folgenden Jahres war dann von einer dunklen Wolke überschattet. Die Welt hatte den Atem angehalten, nachdem in Amerika schreckliche Dinge geschehen waren. Obwohl ich zu jung war, um das wirklich alles zu verstehen, hatte ich in diesem Herbst fast jeden Tag Albträume.
Ich war oft weinend aufgewacht, und du warst fast immer schon da, als hättest du gewusst, dass etwas nicht stimmte.
Du hast mich in die Arme genommen, meine Haare gestreichelt – sie erinnerten dich immer an deine Oma Florentina aus Spanien, sagtest du – und versucht, die Welt extra für mich schönzureden.
Natürlich habe ich dir nicht mehr alles glauben können, denn in der Schule sprach man schon lange nicht mehr von einer schönen Welt. Aber in deiner Nähe klang das alles doch nicht mehr so bedrohlich, wie alleine hoch oben auf dem Bett, von wo aus man den kalten Mond durchs Fenster scheinen sehen konnte.
Während Laura friedlich schlief, hast du geflüstert, dass ich dir immer alles sagen könnte, was mich bedrückt. Natürlich nickte ich; du warst schließlich meine Mama. Aber ich glaube, es war dieser Herbst, in dem ich aufhörte, dir wirklich alles zu erzählen, was mich bedrückte – nur merkte ich es lange Zeit selbst nicht.
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Es vergingen drei Jahre voller Geheimnisse, bis du eines Abends von selbst entdeckt hast, was ich mir selbst gerade erst eingestanden hatte: es gab nicht nur für Laura, sondern auch für mich Jungs, die ich nett fand. Ich glaube, das hatte sich seit der Grundschule nicht geändert, und ich hatte angefangen, mir heimlich Magazine zu kaufen, in denen mehr darüber stand.
Als ich endlich soweit war, es meinem noch immer besten Freund Fabian zu gestehen – er war zudem derjenige, für den mein Herz am heftigsten schlug – und es unbedachterweise gleich durch einen spontanen Kuss zeigte, kamst du mit Papa zur Tür herein... ich glaube, ich war der einzige im Raum, der nicht schockiert war.
Wenn ich mich richtig erinnere, hatte mein Herz in diesem Moment kurz aufgehört zu schlagen. Fabian hatte mich schweigend und ohne eine Miene zu verziehen angeschaut, und ihr hattet beide in der Tür verharrt. Ich dachte, ich müsse sterben, bis du plötzlich auf mich zu kamst und mich zögerlich in den Arm nahmst. Es war das erste Mal seit drei Jahren, dass ich wieder weinte.
Während ich mir im Bad das Gesicht wusch, saß Fabian auf dem Klodeckel und blickte mich nachdenklich an. Dann gestand er mir, dass er nicht schwul war – das war mir eigentlich klar gewesen – und dass er mich zwar lieben würde, aber auf brüderliche Art. Ich nickte und fing erneut an zu heulen, doch von diesem Tag an hatten wir keinerlei Geheimnisse mehr voneinander.
Als wir wieder ins Wohnzimmer kam, hattet auch ihr euch wieder gefasst. Ich weiß nur noch, dass wir danach alle am Tisch gesessen und bis tief in die Nacht geredet haben...
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Danach folgte wieder eine unbeschwerte Zeit, auch wenn durch meinen immer intensiver werdenden Sport keine Zeit hatte, auszugehen und endlich einen Freund zu finden. Doch als das fünfte Jahr des neuen Jahrtausends anbrach, brachtest du uns die Nachricht, die unser Weltbild für immer in sich zusammenstürzen ließ.
Dabei warst du eigentlich nur auf den Rat einer Freundin hin überhaupt zum Arzt gegangen. Du hattest deine ständigen Kopfschmerzen einfach auf die Arbeit oder Migräne geschoben und dich lange damit abgefunden. Am Morgen vor dem Arztbesuch hattest du sogar noch Witze über diese unsägliche Zeitverschwendung gemacht – doch als du an diesem kalten Wintertag zurückkamst, konnten wir schon von Weitem erkennen, dass etwas nicht stimmte.
Sie hatten etwas in deinem Kopf gefunden; etwas, das so schnell wie möglich untersucht werden musste. Du solltest bereits am nächsten Tag ins Krankenhaus, so schnell musste alles gehen. Jedes deiner Worte war wie eine Faust, die sich in Lauras und meinen Magen rammte.
Bereits bei deinen ersten Worten waren Laura Tränen in die Augen gestiegen, als hätte sie so etwas kommen sehen. Du musstest ebenfalls weinen, und als auch ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, nahmst du mich so liebevoll in den Arm wie zu jenen Zeiten, als ich von Albträumen geplagt worden war. Doch dein Streicheln konnte den Schmerz diesmal nicht lindern.
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