Als Regula am Abend Christoph im Aufenthaltsraum vorfand, setzte sie sich zu ihm und liess ihn etwas an ihrer neu gewonnenen Kraft teilhaben.
In den letzten Tagen hatte sie viel mit ihm gesprochen. Offenbar war es ihm ganz ähnlich ergangen wie ihr selber, auch wenn ihre beiden Leben unterschiedlicher nicht hätten sein können. Und doch, letztlich war auch Christoph an seinen eigenen übersteigerten Erwartungen an sich selber gescheitert. Er hatte jahrelang geschuftet, und sich schliesslich zusammen mit seiner Frau ein erfolgreiches Architekturbüro aufgebaut. Und gerade als er sich etwas hätte zurück lehnen können, war der schreckliche Unfall mit seiner kleinen Tochter Mirjam passiert - damals erst sechs Jahre alt - welche seitdem von der Hüfte abwärts gelähmt im Rollstuhl sass. Gleichzeitig hatte sich sein älterer Sohn mit grossen schulischen Problemen gequält, sich von seinen Eltern - zu Recht, wie er gegenüber Regula zugab - vernachlässigt gefühlt.
„Meine Frau war mit der Doppelbelastung Arbeit und Kinder überfordert und sehnte sich nach ihrem erlernten Beruf als Krankenschwester zurück. Sie wurde immer unzufriedener, die Arbeit in meiner Firma langweilte sie. In der Folge stürzte ich mich nur noch mehr in die Arbeit, auch weil ich mit dem Schicksal unserer kleinen Mirjam haderte. Tja, und dann hat meine Frau eines Tages verkündet, dass sie die Möglichkeit hätte, für ein paar Monate als Krankenschwester in Burkina Faso zu arbeiten, und hat beinahe Hals über Kopf beschlossen, so bald wie möglich abzureisen, um endlich mal wieder etwas Sinnvolles zu tun........"
"...... aus den ursprünglich geplanten drei Monaten sind sechs und schliesslich ein ganzes Jahr geworden. Die Besuche bei uns in der Schweiz wurden immer seltener, die Kinder entfremdeten sich von ihr und ich blieb praktisch als allein erziehender Papa zurück. Vor einigen Wochen hatte ich dann einen totalen Nervenzusammenbruch mit Kreislaufproblemen, Schwindel und völliger Erschöpfung. Ich war schon seit einiger Zeit so müde gewesen, dass ich Morgens kaum mehr aus dem Bett kam und meinen Tag nur mit Hilfe von unzähligen starken Espressi durchbrachte. Als dann noch Herzrasen und Angstzustände dazu kamen, bin ich endlich zum Arzt gegangen, welcher sofort einen Burnout diagnostizierte und mich einweisen liess......“
Christoph war normalerweise kein Mensch, der seine Probleme gerne mit anderen besprach, jedoch strahlte Regula etwas so vertrauenserweckendes für ihn aus, dass er sich immer mehr mit ihr austauschte.
„Und? Wie geht es Jonas inzwischen?“ fragte sie ihn.
„Ah, mein armer Junge! Er hat sich gut erholt von dieser hartnäckigen Grippe, sagt Maja, und Mirjam ist froh, ihren grossen Bruder als Spielkameraden wieder zu haben. Es sind ja Ferien, und ihre Freundinnen sind fast alle in Urlaub gefahren, so dass sie sich manchmal etwas langweilt. Ah, übrigens habe ich jetzt endlich die Fotos hier!“ Er zog einen Umschlag hervor und legte ihn vor Regula auf den Tisch. Als sie zögerte, nickte er ihr aufmunternd zu und sie zog ein paar Fotos raus.
Das erste zeigte eine Frau mit schmalem Gesicht, braunem, zu einem Pferdeschwanz zusammen gebundenem Haar und schönen hellblauen Augen. Insgesamt machte sie einen zarten, fast zerbrechlichen Eindruck, strahlte aber gleichzeitig auch eine innere Kraft und Entschlossenheit aus.
Schweigend legte sie das Foto auf den Tisch und widmete sich dem nächsten.
„Und das ist sicher Mirjam!“ stellte sie fest und betrachtete das hübsche, etwa neunjährige Mädchen mit den grossen, dunklen Augen. „Sie kommt ganz nach dir!“
„Ja, da hast du Recht,“ bestätigte Christoph und man sah den Stolz in seinen Augen. Ein drittes Foto zeigte schliesslich Jonas, seinen sechzehnjährigen Sohn. Ein dunkelhaariger Teenager mit einem ernsten Ausdruck in den blauen Augen und demselben schmalen, feinen Gesicht wie seine Mutter.
„Jonas hasst es, für Fotos zu posieren!“ bemerkte Christoph und grinste. „Er ist in vielerlei Hinsicht genau so wie ich in seinem Alter war.“
Auf weiteren Bildern sah man eine glückliche Familie an einem kleinen Holztisch, inmitten von Bäumen und farbiger Blumenpracht.
„Das ist in unserem Garten, letztes Jahr im Herbst. Meine Frau war für einen ganzen Monat in der Schweiz und wir haben es alle genossen.“
„Eine schöne Familie hast du!“ sagte Regula und spürte eine unglaubliche Sehnsucht nach ihren eigenen Lieben zu Hause.
„Ja, wenn es denn noch immer eine wäre.“ meinte er traurig.
„Ihr werdet eine Familie bleiben, auch wenn ihr nicht zusammen lebt.“ versuchte Regula ihn zu trösten.
„Maja wird wieder weg sein, sobald ich aus der Klinik entlassen werde. Diesmal geht sie nach Rio de Janeiro, ein Projekt für Strassenkinder..... aber wir werden sie nächstes Jahr dort besuchen. In den Sommerferien. Nun ja, wenigstens ein Gutes hat mein Zusammenbruch, nämlich, dass sich meine Kinder wieder mehr meiner Frau annähern konnten. Vor allem mein Sohn vermisst seine Mutter sehr, obwohl er sie oft besucht hat und sie ihn. Aber das ist halt nicht dasselbe....“
geht gleich weiter!