Ist etwas viel Text in dieser FS, sorry, aber das musste sein!
„...damit du nicht mehr böse Träume hast und nicht mehr müde bist?“ vervollständigte Sabrina den Satz.
„Ja, ganz genau. Und dann kann ich auch wieder fröhlich sein und Lachen und mit dir etwas unternehmen, gell!“
„Und du bist dann auch nicht mehr traurig und du musst ganz sicher nicht sterben?“ Sabrinas Augen blickten unsicher in diejenigen ihrer Mutter.
„Nein, ich muss nicht sterben, ganz bestimmt nicht! Das versprech ich dir, Liebes!“
„Mama?“
"Ja?“
„Ich brauche keine diese Tabletten wie du, denn ich bin nämlich gar nicht traurig, sondern ich bin sehr glücklich!“ Sie stand auf und tanzte im Wohnzimmer herum.
Lächelnd schaute ihre Mutter ihr zu. Ach, wie unschuldig sie ist! Dachte sie und seufzte.
„Mama und zwar bin ich verliebt!“
„Ja, ich weiss: in Tom von Tokio Hotel!“
„neeeeeein! Ganz falsch! Und zwar heisst er Tobias und er ist soooo süss und er hat mir schon einen Liebesbrief geschrieben!“
„Und woher kennst du Tobias?“
„Aus dem Internet!“ Noch immer hüpfte sie verzückt lächelnd um den Tisch herum.
„Aus dem Internet!“ wiederholte sie erschrocken aber sie riss sich zusammen und fragte: „wie alt ist Tobias denn?“
„Er ist siebzehn....“ sie machte eine Pause und sah auf einmal nachdenklich aus. „Mammi ist das schlimm, wenn man einen Freund hat, der älter ist?“
„Nun, das kommt ganz darauf an. Nein, schlimm ist das nicht, aber du....“
„Gut!“ Sie strahlte bereits wieder übers ganze Gesicht. „Wir wollen uns nämlich treffen. Am Samstag!“
„Ah ja?“ Regula war erstmal perplex. Sabrina hatte zwar viele Freunde, weibliche und männliche, denn sie war sehr kontaktfreudig und es war nicht das erste Mal, dass sie sich mit anderen traf, aber bisher waren das Klassenkameraden oder den Eltern gut bekannte Nachbarskinder gewesen, und meist waren Sophia oder Eric dabei gewesen, wenn sie ins Kino oder mal in eine Disco gegangen waren. Aber das hier war ja wohl ganz was anderes. Und dann noch mit einem Jungen, den sie noch nie gesehen hatte! Nein, das konnte und durfte sie auf gar keinen Fall erlauben. Jedoch, im Moment ertrug sie einfach kein Geschrei und Gezeter, wie es von Sabrina bei einem 'Nein' zu erwarten gewesen wäre, und beschloss deshalb, vorerst einmal zu versuchen, mehr über diesen Jungen herauszufinden.
„Und woher kommt Tobias?“
„Aus Roggenfeld, und ich weiss wo das ist, das ist dort, wo wir immer ins Hallenbad gehen, das ist gar nicht weit, dann kommt er mit dem Fahrrad hat er gesagt und wir gehen ins Kino und schauen den Shrek!“
Unmerklich schüttelte Regula den Kopf und seufzte innerlich. Es war so schwierig. Sabrina sah so „normal“ aus wie jede andere 16jährige, körperlich voll entwickelt und noch dazu ein besonders anziehendes, hübsches Mädchen mit ihrem langen, seidigen braunen Haar und den schönen, braunen Rehaugen. Wie sollte man es einem Jüngling in der Pubertät übel nehmen können, wenn er sich dann mehr erhoffte als nur Händchen zu halten? Und wie würde er reagieren, wenn er merkte, dass Sabrina's Verhalten in vielerlei Hinsicht eben nicht dem einer 16jährigen sondern einer 6jährigen entsprach? Sie kannte ihre Tochter gut genug, um zu wissen, wie offen sie ihre Zuneigung zeigen würde, wie anhänglich, ja geradezu klammernd sie werden konnte, wenn sie jemanden mochte. Das musste ja ein Mann missverstehen! Es durfte nicht sein. Schon spürte sie, wie wieder diese Panik in ihr aufstieg. Sie fühlte sich so hilflos, so schwach. Warum hatte man ihr bei der Geburt von Sabrina nicht gleich eine Bedienungsanleitung für geistig behinderte Kinder mitgeben können? Dachte sie, und schämte sich sofort ihrer absurden Gedanken.
Wenn man es ihr erklären könnte, was ihr Verhalten bewirkte. Aber vermutlich könnte sie es nicht verstehen. Noch lebte ihre Kleine unbeschwert und sich ihrer eigenen Behinderung nicht wirklich bewusst fröhlich vor sich hin, und ihr das zu nehmen, konnte doch auch nicht richtig sein? Zwar hatten sie und ihr Mann mit Sabrina immer schon offen und ehrlich darüber gesprochen, dass sie ein „besonderes“ Kind war und ihr auch erklärt, dass sie während der Geburt zu wenig Sauerstoff erhalten hatte und deshalb einige Dinge für sie nicht möglich waren. Bisher hatte Sabrina sich nie wirklich etwas daraus gemacht, iim Gegenteil! Wenn sie merkte, dass etwas nicht ging, sagte sie in solchen Situationen jeweils mit einem ganz natürlichen Selbstbewusstsein: „ich kann das nicht, weil ich zu wenig Sauerstoff habe.“ Damit hatte sie schon so manchen verständnislosen Jugendlichen oder Erwachsenen dermassen verblüfft, dass keine weiteren Erklärungen mehr gefordert und dies einfach so akzeptiert wurde.
Regula Winter dankte Gott, dass ihre Jüngste von Natur aus relativ „hart im Nehmen“ und keinesfalls so sensibel wie Sophia war. Natürlich hatte es immer wieder Situationen gegeben, in denen Sabrina von gedankenlosen Kindern oder Jugendlichen ausgelacht und veräppelt worden war, aber irgendwie hatte sie sich dadurch nie unterkriegen lassen.
„Ich darf doch, Mammi, gell?“ wurde Regula in ihren schweren Gedanken unterbrochen.
Wie hartnäckig Sabrina war!
„Wir sprechen noch darüber mit Papi. Und natürlich wollen wir den Jungen zuerst kennen lernen!“
„Warum? Sophia geht auch immer mit Dani weg!“ maulte sie. Es hatte keinen Sinn, diese Diskussion jetzt weiter zu führen und zum Glück war Sabrina leicht ablenkbar.
„Komm, lass uns in die Küche gehen und zusammen Omeletten backen, okay? "
Kommt Eric nicht?“
„Nein, Eric bleibt bei Helga.“
„Ich finde Helga doof.“
„Du kennst sie doch noch gar nicht!“
„Doch, ich habe ein Foto gesehen, sie ist überhaupt nicht hübsch! Seine anderen Freundinnen waren viel hübscher!“
Nach dem Abendessen hatte Regula mit ihrem Mann über die Internetbekanntschaft Sabrina's gesprochen und wie nicht anders zu erwarten gewesen war, hatte er den Wunsch seiner Tochter kategorisch abgelehnt, mit der Begründung, dass „diese Chatter doch alle ein krankes Hirn haben“ und gleichzeitig versprochen, mit Sabrina klar und deutlich darüber zu sprechen.
Das war ja alles gut und recht, aber Regula fragte sich bekümmert, ob ein schlichtes Verbot überhaupt etwas nützen würde und ob es nicht besser wäre, Sabrina wenigstens irgend eine Alternative anzubieten. Sie selber wäre bereit gewesen, den Jungen zu sich nach Hause einzuladen, um ihn besser kennen zu lernen und Sophia und ihren Freund zu bitten, die beiden anschliessend ins Kino zu begleiten. Jedoch konnte sie jetzt beim besten Willen nicht die Kraft für eine Diskussion mit ihrem Mann aufbringen. Sie nahm sich vor, am nächsten Tag das Thema noch einmal anzuschneiden, sobald er besserer Laune war.
Natürlich hatte sich heute auch keine Gelegenheit mehr ergeben, über ihre Depressionen zu reden, da sich Clemens wie meistens nach dem Abendessen nachdem er die Tagesschau gesehen hatte, sich in sein Heimbüro verzogen hatte, um noch irgendwelche Sitzungsunterlagen vorzubereiten.
Niemand schien von ihr Notiz zu nehmen. Eric verbrachte die Nacht bei seiner Helga, Sophia hatte sich mit dem Telefon in ihr Zimmer verzogen, vermutlich
um mit ihrer Freundin zu quatschen, Sabrina sass hingebungsvoll vor dem Fernseher und verfolgte mit halboffenem Mund irgendeinen Liebesfilm und ihr Ehemann kam nur noch Hause um zu essen und zu schlafen. Ja, die Kinder wurden erwachsen und zurück blieb nichts als eine sinnlose Leere. Sinnlose Leere? War denn eine Leere nicht immer sinnlos? Gab es auch sinnvolle Leeren? Um sich nicht wieder in irgendwelchen Grübeleien zu verlieren, beschloss sie, sofort schlafen zu gehen.