Oxana - Wege des Gewissens

  • Kapitel 159: Staub, Ruß und Gestank




    Ich wusste nicht, wie lange wir in diesem Keller ausgehart hatten. Ich hatte mein Zeitgefühl vollkommen verloren. Das Licht im Keller blieb aus. Immer wieder hörten wir dumpfe Einschläge, mal weiter weg, mal näher und von Zeit zu Zeit erbebte das gesamte Gemäuer. Doch dann blieb es still. Wir warteten lange, sehr lange, bis wir uns ins Freie wagten. Und ich wünschte mir fast, wir wären im Keller geblieben, denn der Anblick der Stadt verschlug mir die Sprache und trieb mir fast die Tränen in die Augen.




    Um uns herum brannte es lichterloh. Dichter Qualm durchzog die Straßen und nahm uns den Atem. Die Schule war zum Glück weitestgehend unbeschädigt geblieben. Lediglich direkt vor dem Klassenzimmer von Sky befand sich ein tiefer Krater in der Straße. Die Scheiben der Fenster waren zersprungen und Asphaltstücke hatten sich in das Gebäude gebohrt. Doch die Schule war aus Stein erbaut worden. Ein der Raketen hätte direkt in das Gebäude einschlagen müssen, um es ernsthaft zu beschädigen. Die kleinen Geschäfte aus Holz in der Umgebung der Schule hatten hingegen sofort Feuer gefangen und die Flammen griffen rasend schnell um sich. Entsetzt blickten meine Kinder und ich auf den brennenden Friseursalon, der einstmals Ingrid, Skys leiblicher Mutter gehört hatte. Selbst wenn die Feuerwehr sofort einträfe, das Gebäude war nicht mehr zu retten.




    "Los Kinder, steigt schnell in den Wagen", wies ich Klaudia und Sky an, nachdem ich mich wieder halbwegs gefasst hatte. Mein Pickup war wie durch ein Wunder unbeschädigt geblieben. Ich konnte den Anblick der brennenden Stadt kaum ertragen. Der Langhorn-Saloon, das Café, das Stadtzentrum... alles stand in Flammen. Klaudia weinte hemmungslos. Die Stadt in der sie geboren wurde, sie lag in Trümmern.




    Heute Morgen war Klaudia noch durch eine heile Kleinstadt zur Schule gefahren und diese Stadt gab es auf einmal nicht mehr. Sie wurde überraschend und ohne Vorwarnung von einem unbekannten Feind in Schutt und Asche gelegt. Der Regen prasselte unaufhörlich auf die Erde herab, versuchte mit aller Kraft, die Flammen zu löschen, doch es war ein aussichtsloser Kampf. In mir wuchs die Angst. Was war mit Grünspan? Stand mein kleines grünes Haus noch oder war es wie der Rest der Stadt denn Flammen zum Opfer gefallen?





    Ich drückte aufs Gaspedal. Die Geschwindigkeitsbegrenzungen interessierten mich nicht mehr, ich wollte nur noch zu meinem Haus. Ein tiefer Seufzer der Erleichterung entfuhr meiner Brust als ich sah, dass die Außenbezirke der Stadt offenbar nicht von Raketen getroffen worden waren. Das Haus meines Bruder, das Haus von Klaudias und Skys Großeltern und auch Grünspan, sie alle standen unversehrt.




    Doch meine Freude währte nur kurz. Ich war noch nicht ganz aus dem Auto gestiegen, als ich Sky Schreien hörte. "Feuer! Es brennt!" Klaudia und ich liefen in seine Richtung. Entsetzt schrie ich auf und raufte mir panisch die Haare, als ich die Flammen erblickte, die an der Veranda züngelten. "Oxana, einen Feuerlöscher, schnell", hörte ich meine ebenfalls panische Nachbarin Sandra Monschau brüllen. Es war offensichtlich, aber genau diese Worte hatte ich gebraucht, um mich aus meiner Panik zu reißen.




    Ich rannte ins Haus und riss den Feuerlöscher aus dem Küchenschrank unter der Spüle. In mir stieg die Wut auf. Dieses Feuer würde nicht mein Haus zerstören. Es würde mir und meinen Kindern nicht das Zuhause nehmen. Ich richtete den Schaumstrahl auf die Flammen und schrie all die Angst, das Entsetzen und die furchtbare Wut, die sich in mir aufgestaut hatte, aus mir heraus. Ich schrie noch lange weiter, selbst als die Flammen bereits erloschen waren.






    Die Sonne ging langsam unter. Mit der einkehrenden Dunkelheit wurde deutlich, dass der Strom nicht nur im Schulkeller ausgefallen war. Auch in unserem Haus gab es kein Licht. Sky ist fast augenblicklich in einen tiefen Schlaf gefallen, sobald wir endlich die Sicherheit unserer vier Wände erreicht hatten. Klaudia hatte sich wieder beruhigt, aber sie wollte um keinen Preis allein sein. Und ich wollte meine Kinder nicht aus den Augen lassen, also beschlossen wir, alle gemeinsam in meinem Zimmer zu übernachten. Doch bevor es ins Bett ging, brauchte ich dringend eine Dusche. Der Geruch von Pferden, Rindern, Schweiß und Feuer klebte an mir und ich wollte nur noch raus aus diesen Klamotten.




    Klaudia legte sich zu Sky ins Bett und war eingeschlafen, noch ehe ihr Kopf das Kissen richtig berührte. Ich ging hinüber ins Badezimmer. Automatisch tastete ich nach dem Lichtschalter, bis mir wieder einfiel, dass es keinen Strom gab. Ich ließ die Tür zum Wohnzimmer offen, um wenigstens etwas Licht in den fensterlosen Raum zu bekommen, zog mich aus und stellte mich unter die Dusche. Doch das ersehnte Nass kam nicht. In den Leitungen ertönte ein lautes Gurgeln, gefolgt von einigen Spritzern trüben Wassers. Dann blieb es trocken. Der Stromausfall betraf natürlich auch die Wasserpumpen. Somit hatten wir nicht nur kein Strom, sondern auch kein Wasser mehr.




    Wütend schlug ich mit der Faust gegen die Fliesen. Doch dann fiel mir die manuelle Wasserpumpe ein, die hinter dem Haus installiert war. Die Wanne wurde sonst nur zum Baden von Goya benutzt, aber das war mir in diesem Augenblick egal. Ich pumpte so lange, bis die Wanne voll war und stieg in das, zugegebenermaßen kalte, Wasser um mich von Staub, Ruß und Gestank zu befreien.




    Anschließend war ich sauber, aber ich war so müde, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Ich wollte zu den Kindern ins Schlafzimmer und mich auf das Sofa legen. Ich verzichtete darauf, meinen Schlafanzug anzuziehen und zog stattdessen normale Kleidung an. Wer konnte wissen, was in dieser Nacht noch alles gesehen würde? Vielleicht wurde es nötig, dass wir das Haus schnell verließen? Ich wollte auf alles vorbereitet sein.




    Da klopfte es an der Tür. Erschrocken riss ich den Kopf zur Seite. Doch vor der Tür stand kein Feind, sondern Anan, Dominiks Vater, den ich durch die Scheibe der Eingangstür hindurch erkannte und der ins Haus hinein lugt. Erleichtert lief ich ins Freie und warf mich dem Großvater meiner Kinder in die Arme.




    Doch Anan, der mich nach meiner Scheidung von Dominik immer noch wie seine eigene Tochter behandelt hatte, war nicht allein gekommen. Auch Dominiks Mutter Glinda war da. Uns beide verband ein schwieriges Verhältnis. Ihrer Meinung nach war ich nie gut genug für Dominik gewesen und sie hatte unserer Ehe keine Träne nachgeweint. Doch zum ersten Mal in all den Jahren, in denen ich diese Frau schon kannte, schien sie sich ernsthaft darüber zu freuen, mich wohlauf zu sehen.




    "Den Kindern geht es gut", versicherte ich den beiden, noch ehe sie fragen konnten. Ich konnte sehen, wie ihnen ein Stein vom Herzen fiel. Schnell führte ich sie ins Wohnzimmer und zündete ein Feuer im Kamin an, damit wir wenigstens ein wenig Licht hatten. Glinda bat um etwas zu Essen. Ich konnte ihr allerdings nur eine Packung trockener Asia-Snacks anbieten, die sie dennoch dankbar annahm. Dann berichtete ich von den Ereignissen des heutigen Tages und wie die Kinder und ich uns im Schulkeller versteckt hatten. "Und euch ist nicht passiert?", fragte ich besorgt. "Wurde niemand verletzt?"




    "Uns geht es allen gut", antwortete Glinda. "Mark und Kira haben uns sofort ins Auto gescheucht, als die ersten Raketen in der Nähe der Stadt einschlugen. Wir haben uns so schnell und so weit es ging von den Bohrtürmen und der Stadt entfernt und haben uns draußen in der Wüste versteckt. Siana und ihr Mann und auch Dennis, Stev und die Kinder haben sich selbst in Sicherheit gebracht. Es ist zum Glück niemanden etwas passiert. Allerdings haben Dennis und Stev kein Dach mehr über dem Kopf. Ihr Haus ist komplett niedergebrannt." Ich keuchte entsetzt auf. Wie viele meiner Freunde hatten wohl noch ihr Zuhause verloren? Auch Glinda wirkte unglaublich müde und erschöpft. Sie schien in den letzten Stunden um Jahre gealtert und wirkte nun wie eine gebrochene, alte Frau.




    "Aber wer waren diese Aggressoren?", fragte ich weiter. Es war eine Frage, die mich schon seit Beginn des Angriffes beschäftigte. "Wer hätte einen Grund unsere friedliche Stadt ohne Vorwarnung anzugreifen und zu zerstören?"




    Ich hatte nicht mit einer Antwort gerechnet, aber Anan überraschte mich und antwortete sofort. "Simnistrien!" Ich runzelte zweifelnd die Stirn. "Simnistrien ist tausende Kilometer weit entfernt auf der anderen Seite des Atlantiks. Ich glaube wirklich nicht..." Doch Anan ließ mich nicht weiter aussprechen. "Ich sage dir Oxana, das war das Werk von Simnistrien." Um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen, schlug er mit seinen Mittel- und Zeigefinger in seine offene linke Handfläche. "Simnistrien hasst uns, seit dem Krieg zwischen unseren beiden Nationen vor über 40 Jahren. Die SimNation mag diesen Krieg inzwischen überwunden haben, aber in Simnistrien ist kein Tag vergangen, an dem die Regierenden dieses Landes nicht Rache geschworen hätten."




    "Ach, Anan", unterbrach ihn seine Frau müde. "Für dich ist Simnistrien doch am gesamten Leid der Welt schuld. Selbst wenn unser Hund schief Pupst, dann war es Simnistrien. Wir sollten erst einmal den morgigen Tag abwarten. Lass die von der Regierung kommen und alles gründlich aufklären. Es bringt doch nichts, wenn wir wild mit haltlosen Anschuldigungen um uns werfen." Obwohl ich Glindas Hunde-Bemerkung mehr als unpassend fand, musste ich ihr doch zustimmen. Wir wussten einfach zu wenig, um die Ereignisse beurteilen zu können.




    "Es war Simnistrien", schrie Anan nun wütend. Ich zuckte erschrocken zusammen, denn ich war eine solch heftige Reaktion von meinem Ex-Schwiegervater nicht gewohnt. Er erkannte seinen Fehler und senkte die Lautstärke seiner Stimme wieder. Dennoch blieb er hoch erregt. "Ich habe vor 40 Jahren in Simnistrien gekämpft. Es war ein furchtbarer, sinnloser Krieg, und ich schäme mich dafür, dass die SimNation diesen Krieg damals heraufbeschworen hat. Aber dadurch kenne ich das simnistrische Militär. Genau diese Hubschrauber haben sie auch schon vor 40 Jahren eingesetzt. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Simnistrien uns angegriffen hat. Und nach all den Spannungen zwischen unseren Ländern in den letzten Jahren, überrascht es mich nicht einmal."

  • Kapitel 160: Opfer




    Anan klang felsenfest überzeugt von seiner Aussage, dass Simnistrien uns angegriffen hätte. Vielleicht stimmt es ja sogar. Zumindest würde es erklären, warum ich seit Wochen Dominik nicht mehr erreichen konnte, der für einen privaten Wachdienst in dem südamerikanischen Land arbeitete. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht bemerkte, dass jemand das Haus betreten hatte. Erst, als der Mann in den Schein des Kamins trat, erkannte ich meinen jüngeren Bruder Orion.




    Sofort sprang ich aus dem Sessel auf und drückte meinen Bruder fest an mich. Ihm ging es gut, und auch Desdemona war bei dem Angriff nicht verletzt worden. Auch der Rest der Kappes war nicht zu Schaden gekommen. Gerda, ihr Mann Volker, Hans, Mika und Elvira hatten alle Zuflucht in einem alten unterirdischen Lagerraum inmitten der Maisfelder gesucht. Die Farm der Kappes, Norman, stand noch unversehrt. Meine Familie hatte bei dieser Katastrophe sehr viel Glück gehabt. Gott musste seine schützende Hand über uns gehalten haben.




    "Können wir kurz ungestört sprechen?", bat mich Orion und winkte mit dem Kopf in Richtung Küche. Ich runzelte die Stirn, nickte aber und wir entfernten uns von Dominiks Eltern, die zwar neugierig hinübersahen, aber keine Fragen stellten. Fragend sah ich meinen Bruder an. "Deine Schwiegereltern wissen doch nichts von Justice?" Darum ging es als! Ich schüttelte den Kopf. "Natürlich nicht. Nicht einmal Dominik weiß Bescheid." Ich senkte meine Stimme, soweit ich es vermochte, dennoch befürchtete ich, dass Glinda und Anan etwas von dem Gespräch aufschnappen können. Besorgt sah ich zu den beiden hinüber. Meine Ex- und Hoffentlich-bald-wieder-Schwiegereltern mussten nicht erfahren, dass meine Schwester die Patin der Mafiaorganisation Justice in SimCity war.




    "Joanna hat mich gewarnt, dass in den nächsten Wochen oder Monaten großer Ärger anstehen könnte", erklärte Orion. "Es gab Gerüchte in der Unterwelt, aber niemand konnte genaueres sagen. Joanna hatte mir bereits Anweisungen gegeben, dich und deine Familie nach SimCity zu bringen, aber der Angriff kam früher als erwartet." "Wer hat uns angegriffen?", fragte ich nun meinen Bruder, denn er schien mehr zu wissen, als wir anderen. "Laut Joannas Informationen, und die sind nun auch einige Wochen alt, plante wohl Simnistrien diesen Überfall. Diese Informationen waren allerdings nicht sehr zuverlässig."




    Also hatte Anan recht. Es war unglaublich befreiend, dem Feind endlich ein Gesicht geben zu können. Gleichzeitig stieg die Angst in mir auf. Wenn der Angreifer wirklich Simnistrien war, dann befand sich die SimNation im Krieg mit ihrem schlimmsten Feind. Und dieser Krieg würde morgen nicht vorbei sein. Er würde vermutlich noch Wochen andauern.




    "Tut mir leid, dass ich keine besseren Nachrichten habe, Oxana", entschuldigte sich mein Bruder bei mir. "Mein Kontakt zu Joanna ist mit den Angriffen abgebrochen. Das gesamte Handy- und Telefonnetz ist zusammengebrochen. Außerdem scheinen die Simnistrier Störsignale auszusenden. Es ist mir nicht gelungen, Fernseh- oder Radionachrichten zu empfangen. Wir sind zurzeit isoliert vom Rest der SimNation und ich habe keine Ahnung, welches Ausmaß diese Angriffe hatten. War nur Sierra Simlone Stadt betroffen? Oder waren es gezielt Angriffe auf alle Stadt der Sierra Simlone oder gar des ganzen Landes? Du solltest in jedem Fall schon mal die notwendigsten Sachen packen. Es könnte sein, dass wir jeden Tag nach Norden aufbrechen und versuchen werden, uns nach SimCity durchzuschlagen. Allerdings können wir nur dich und die Kinder mitnehmen. Dein Mitbewohner Tristan wird hier bleiben müssen."




    Oh Gott, Tristan! Bei all der Aufregung hatte ich meinen Mitbewohner vergessen. Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen. "Ich habe Tristan seit dem Angriff nicht gesehen", erklärte ich meinem Bruder, der mich verwirrt anstarrte. "Ich war so in Sorge um die Kinder und so unendlich müde, dass es mir nicht in den Sinn gekommen war, nach Tristan zu sehen. Oh Gott, Orion, er arbeitet doch auf den Ölfeldern, dort wo die Angriffe begonnen haben."




    Ich lief sofort zu Tristans Zimmer und riss die Tür auf. Doch wie nicht anders zu erwarten, fand ich das Zimmer leer vor. Die Bettdecke war noch so zerwühlt, wie Tristan sie am Morgen zurückgelassen hatte. Tristan durfte nichts passiert sein. Das durfte einfach nicht sein! Und was war ich für eine Freundin, die nicht einmal daran dachte sich zu vergewissern, dass ihr Mitbewohner, der nun schon seit 20 Jahren das Haus mit ihr teilte, bei einem verheerenden Angriff auf die Stadt nicht zu Schaden gekommen war?




    Ich musste ihn suchen gehen! "Anan, Glinda, bleibt bitte hier und passt auf die Kinder auf", bat ich meine Ex-Schwiegereltern im Vorbeilaufen und griff nach den Autoschlüsseln, die im Regal neben dem Kamin lagen. "Wo willst du suchen?", fragte Orion. "Auf den Ölfeldern", antwortete ich gehetzt. "Vielleicht liegt Tristan dort irgendwo verletzt. Ich muss einfach nachschauen." Orion überlegte einen Moment, ob er mich aufhalten sollte, doch dann nickte er nur und ich lief hinaus und durch den anhaltenden Regen hindurch zu meinem Wagen.







    Als ich im Auto saß, kam mir der Gedanke, dass Tristan womöglich bei Frank und damit in Sicherheit war. Eilig fuhr ich in die Dustlane, doch niemand reagierte auf mein beharrliches Hämmern gegen die Tür. Offenbar war das Haus verlassen. Also hetzte ich zurück zum Wagen und fuhr eiligst zum Bohrturm Nr. 5, Tristans Arbeitsstelle. Der Anblick der brennenden Anlage verschlug mir die Sprache. Der Bohrturm war in sich zusammengebrochen. Die Gebäude waren zerstört, offenbar direkt von einer Rakete getroffen. Die Hitze schlug mir ins Gesicht und der dichte Qualm nahm mir die Luft zum Atmen.




    Der grelle Schein der Flammen nahm mir die Sicht, sodass ich das Zelt in direkter Nachbarschaft zur brennenden Ruine zunächst nicht bemerkte. Ein Krankenwagen stand daneben und ich erkannte, dass es sich wohl um eine Art Lazarett handeln musste. Eilig lief ich darauf zu. Als ich näher kam, erblickte ich Frank, der zusammengekauert mit gesenktem Kopf vor dem Eingang des Zeltes hockte. Dieser Anblick ließ mich das Schlimmste befürchten und ich wurde unweigerlich langsamer, um die schreckliche Gewissheit noch einige Sekunden länger hinauszögern zu können.




    Er hörte meine Schritte und blickte zu mir auf. Sofort sprang er von der Holzkiste auf. Trotz der Dunkelheit konnte ich genau erkennen, dass er geweint hatte. Oh Gott, nein, das durfte nicht wahr sein. Ich wollte in das Innere des Zeltes hineinschauen, doch Frank hielt mich zurück. "Oxana, es ist etwas passiert", begann er mit bebender Stimme zu sprechen. "Die Rakete...alles explodierte...er…er…"




    Ich konnte nicht länger zuhören, ich musste es mit eigenen Augen sehen. Ich riss mich von Frank los und schaute ins Innere des Lazarettzelts. Und da sah ich ihn. Ich brauchte keinen Arzt um zu wissen, dass er tot war. Niemand konnte solche Verletzungen überlebt haben. Die Tränen schossen mir in die Augen. Die ersten Tränen, die ich an diesem Tag vergoss.




    Benny! Eingetrocknetes Blut bedeckte sein ganzes Gesicht. Niemand hatte offenbar bis jetzt die Zeit gefunden, es zu waschen. Aber immerhin waren seine Augen geschlossen. Ich streckte meine Hand aus und strich eine Haarsträhne zurück, die sich auf seine Stirn geklebt hatte. Doch ein schauer durchfuhr meinen Körper, als ich seinen kalten Leichnam berührte. Benny musste sofort beim ersten Angriff ums Leben gekommen sein.




    Nun kam auch Frank ins Zelt und legte mir tröstend den Arm auf den Rücken. "Ich glaube nicht, dass er lange leiden musste", versuchte er mich zu beruhigen. Vermutlich stimmte das sogar, doch das war kein Trost für mich. Ich hatte Benny geliebt, auch wenn das nun schon viele Jahre zurück lag. Er war der erste Mann für mich gewesen und unsere Trennung war schmerzhaft verlaufen, insbesondere für ihn. Wir hatten nie die Gelegenheit gehabt, uns auszusprechen und ein freundschaftliches Verhältnis aufzubauen. Wie schon bei meinen Vätern hatte ich die Chance zur Wiedergutmachung verpasst.




    "Ich hab ihn direkt neben Tristan gefunden", erklärte Frank, "aber ich konnte nichts mehr für ihn tun. Ich bin zu spät gekommen." "Tristan, was ist mit ihm?", bedrängte ich Frank, da ich noch immer nichts über das Schicksal meines Mitbewohners in Erfahrung gebracht hatte. "Er ist schwer verletzt, aber er lebt. Ich konnte ihn gerade noch aus den Trümmern ziehen, bevor der Turm über ihm zusammenbrechen konnte. Er liegt gleich hinter dem Vorhang."




    Frank schob mich mit seiner Hand auf meinem Rücken um den Vorhang herum. Und dort lag mein Mitbewohner, leichenblass, aber das langsame Heben und Senken seiner Brust verriet eindeutig, dass er noch am Leben war. Doch auch er zeigte deutliche Spuren von Verletzung im Gesicht und ein Schlauch steckte in seiner Nase, um ihm das Atmen zu erleichtern. Frank beugte sich zu Tristan hinüber und küsste ihn auf die Stirn. Tristan versuchte die Augen zu öffnen, doch mehr als ein kurzes Flackern gelang ihm nicht und er verlor umgehend wieder das Bewusstsein.




    Landschwester Mphenikohl trat an uns heran. "Bitte, Herr Linse braucht jetzt sehr viel Ruhe. Es ist sehr schön, dass es so viele Menschen gibt, die um ihn besorgt sind, aber wenn er wieder zu Kräften kommen soll, dann muss er sehr viel Schlafen. Viel mehr kann ich für ihn nicht tun. Er müsste ins Krankenhaus, aber das wird in der jetzigen Situation nicht möglich sein. Wir haben versucht mit dem Krankenwagen zum Hospital nach Seda Azul zu fahren, doch die Brücke über den Rio Seco wurde ebenfalls von Raketen zerstört. Wir mussten wieder umkehren und haben dann dieses Lazarett hier errichtet."




    "Ich wünschte bloß, Dr. Reichardt wäre in der Stadt. Aber er befand sich zum Zeitpunkt des Angriffes offenbar im Krankenhaus von Seda Azul. Ich bin eine einfache Landschwester und meine Fähigkeiten sind für eine solche Katastrophe einfach nicht ausreichend. Aber ich werde tun, was in meiner Macht steht, um ihren Freund und den anderen verletzten zu helfen. Gehen sie nach Hause, Kindchen. Gehen sie zurück zu ihren Kinder, denn die werden sie jetzt dringender brauchen, als Herr Linse. Und er ist ja nicht alleine." Mit einem Nicken deutete sie auf Frank und lächelte. Ich nickte schweigend. "Danke, Schwester Mphenikohl. Möge Gott sie beschützen." Ich verabschiedete mich noch von Tristan und Frank und fuhr dann auf direktem Weg zurück in die Simlane.

  • Kapitel 161: Im Anmarsch




    Der Regen wurde wieder stärker, als ich mich auf dem Weg zurück in die Simlane machte. Vielleicht würde der anhaltende Schauer dafür sorgen, dass die letzten lodernden Brände in der Stadt bald erloschen. Zuhause angekommen versicherte ich Anan, der bei den Kindern geblieben war, dass wir drei in dieser Nacht alleine zurechtkommen würden und schickte ihn nach Hause zu seiner Frau und Dominiks jüngeren Geschwistern. Anschließend ging ich ins Schlafzimmer. Die Kinder schliefen bereits. Ich setzte mich auf den Nachttisch und beobachtete schweigend Sky und Klaudia. Sie sahen so friedlich aus und schienen die Schrecken des Tages fast vergessen zu haben. Und das war auch gut so, denn sie brauchten Kraft für die kommenden Tage. Wer konnte schon wissen, was noch alles auf uns zukäme?




    Klaudia und Sky waren in Sicherheit, zumindest vorerst. Doch ich hatte noch ein weiteres Kind und ich wusste nicht, wie es ihm ging. Ich ging wie mechanisch in Kingas altes Zimmer, in dem nun Sky zuhause war. Vielleicht hoffte ich so, meiner Tochter näher zu sein. Obwohl Orion mir bereits gesagt hatte, dass die Telefonverbindungen unterbrochen waren, nahm ich mein Handy und wählte Joannas Nummer. Ich hatte meine Tochter in die Obhut meiner Schwester gegeben und ich musste mich einfach versichern, dass es ihr gut ging, dass es in SimCity zu keinem Angriff gekommen war und Kinga nicht verletzt wurde. Doch alle meine Versuche waren vergebens. Mein Handy hatte einfach keinen Empfang und das Festnetz war ebenfalls tot.




    Da mir nichts anderes blieb, betete ich zu Gott, dass er Kinga beschützen, dass er seine schützende Hand über uns alle halten möge. Auf einmal übermannte mich die Müdigkeit. Den ganzen Tag hatte ich sie nicht gespürt, doch jetzt merkte ich, dass auch ich am Rande meiner Kräfte war. Ich überlegte erst, mich auf das Sofa zu legen. Doch ich wollte so nah wie möglich bei meinen Kindern sein. Also legte ich mich zwischen die beiden und war eingeschlafen, sobald ich die Augen geschlossen hatte.




    In den ersten Sekunden nach dem Aufwachen hatte ich die vage Hoffnung, dass alles nur ein böser Alptraum gewesen war. Doch der Geruch von verbranntem Holz lag schwer in der Luft und erinnerte mich daran, dass die halbe Stadt Opfer der Flammen wurde. Klaudia musste schon länger wach im Bett gelegen haben, denn sie schlüpfte aus dem Bett, sobald ich die Decke anhob, um selbst aufzustehen. Als wir in die Küche kamen, schlug uns bereits ein unangenehmer Geruch entgegen, und ein Blick in den Kühlschrank genügte um festzustellen, dass einige der Lebensmittel bereits schlecht geworden waren. Das einzige essbare waren die trockenen China-Snacks, die ich auch schon Glinda angeboten hatte.




    "Sky und du, ihr geht heute nicht zur Schule. Ich will euch nicht aus dem Augen lassen", erklärte ich ihr. Klaudia nickte bloß und aß stumm weiter. "Solange wir nicht genau wissen, was geschehen ist, verlasst ihr beide nicht das Haus." Wieder nickte Klaudia. Sie hatte ganz offensichtlich den Ernst der Lage erkannt. Dann musste ich schlucken, denn ich hatte ihr noch nichts von Tristans Verletzung erzählt. Aber Klaudia war alte genug, um über alles informiert zu werden.




    Sie nahm es besser auf, als ich vermutet hatte. Zwar konnte ich genau erkennen, dass sie geschockt war, aber sie blieb ruhig. Es gab kein Geschrei und keine Tränen. "Aber Onkel Tristan wird wieder gesund, ja?", fragte sie schließlich nach einer längeren Pause, in der wir beide auf unseren trockenen Nudeln herum kauten. "Schwester Mphenikohl ist sehr zuversichtlich", versicherte ich ihr. "Und Frank kümmert sich gut um ihn. Tristan ist also in besten Händen."




    Draußen regnete es immer noch. Doch das änderte nichts daran, dass es immer wärmer wurde. Es war Sommer und wir befanden uns in der Sierra Simlone. Dieses schwülwarme Klima war die ideale Voraussetzung, damit Lebensmittel besonders schnell verdarben. Bevor der Gestank in der Küche noch schlimmer werden konnte, schnappte ich mir einen großen Müllsack und schmiss alles hinein, was in unserem abgetauten Kühlschrank bereits verdorben war oder kurz davor stand zu verderben.




    Die asiatischen Snacks würden erst einmal für eine Weile reichen, aber ich musste mich dennoch dringend nach etwas richtigem zum Essen umsehen. Da weder Herd noch Mikrowelle funktionierten, war der Grill die einzige Möglichkeit, etwas Warmes zuzubereiten. Nur war alles was man hätte grillen können, verdorben. Das fehlende fließende Wasser machte unsere Leben zusätzlich schwierig. Aber immerhin hatten wir noch die Wasserpumpe hinter dem Haus und eine Gießkanne neben der Toilette verrichtete ebenfalls gute Dienste.




    Das Baden in der Holzwanne war hingegen für Klaudia und mich eher unangenehm. Sky hingegen hatte sichtlich Spaß daran. Ich wünschte mir, dass ich die Situation so leicht nehmen könnte wie er es tat. Kinder hatten dafür einfach eine Gabe, die mit dem Alter leider verlorenging.




    Der Tag ging ereignislos vorbei. Ich hatte versucht, im zerstörten Stadtzentrum ein paare Lebensmittel zu besorgen, doch die nicht zerstörten Läden waren bereits restlos ausverkauft. Als die Sonne unterging, stellte ich Kerzen im Wohnzimmer auf, damit wir wenigstens etwas Licht hatten. Klaudia und Sky verbrachten den Abend damit, Schach zu spielen. Und trotz seines jungen Alters war Sky ein ernstzunehmender Gegner für Klaudia.




    Ich machte es mir mit einem Buch auf dem Sofa bequem. Es hätte in idyllischer Abend sein können, wäre am Tag zuvor nicht unsere Stadt angegriffen worden. Ich versuchte erst, einen Roman zu lesen, doch es gelang mir nicht, mich auf das Gelesene zu konzentrieren. Ich las zwar die Worte, aber mit meinen Gedanken war ich ganz woanders. Schließlich legte ich den Roman beiseite und holte ein Geschichtsbuch aus dem Regal. Anan und auch Orion waren überzeugt, das Simnistrien der Angreifer war. Der Krieg zwischen Simnistrien und der SimNation vor 45 Jahren war mir aus meiner Schulzeit zwar noch ein Begriff, aber ich wollte mehr über die Hintergründe erfahren und darüber, wie der Krieg damals geführt wurde. Und die Brutalität, mit der die SimNation damals gegen Simnistrien vorgegangen war, erschreckte mich. Ich konnte nur hoffen, dass die Simnistrier nicht auf Rache aus waren.




    Mit dem nächsten Tag kehrte wieder so etwas wie Normalität ein. Es war Samstag und der seit Tagen andauernde Regen hörte auf. Die letzten Flammen in der Stadt waren bereits letzte Nacht erloschen. Nur auf den Ölfeldern brannte es immer noch, allerdings trieb der Wind die Rauchschwaden weg von der Stadt. Sky nutzte das Wetter, um mal wieder im Pool zu planschen. Ich hielt ihn nicht davon ab. Sollte der Kleine ruhig etwas Spaß haben.




    Klaudia fand ihre eigene Zuflucht. Die Staffelei in ihrem Zimmer benutzte sie schon immer häufig. Doch in diesen Tagen malte sie ununterbrochen, solange das wenige kostbare Tageslicht es zuließ.




    Und für mich wurde es Zeit, mich wieder um die Farm zu kümmern. Die Rinder würden auch gut ein paar Tage ohne mich zu Recht kommen und das Pferd war sicherlich von alleine wieder auf die Weide zurückgekehrt. Durch den Regen der letzten Tage musste ich mir auch keine Sorgen um die Bewässerung der Felder machen. Zum Glück wurden die Wasserpumpen dort alle über einen Dieselgenerator angetrieben. Aber die Bäume auf der Plantage brauchten mal wieder etwas Pflege.




    Ich wusste selber, dass die Arbeit auf der Plantage auch eine Art Flucht für mich war. Sie hielt mich davon ab, mir zu viele Gedanken zu machen. Gedanken, über das, was noch auf uns zukommen mochte, Gedanken über den Tod von Skys Lehrerin und von Benny, Gedanken über die zerstörte Stadt, Gedanken über meine Tochter, von der ich nicht wusste, ob es ihr gut ging, oder nicht und Gedanken über Dominik, der in dem Land war, dass einen Krieg gegen uns angefangen hatte. Hier auf der Plantage, bei strahlendem Sonnenschein, schien die Welt noch in Ordnung.




    Doch das war sie nicht. Das wurde mir wieder bewusst, als ich Gerda völlig außer Atem auf dem Fahrrad die Straße entlang strampeln sah. Sie entdeckte mich in der Plantage und steuerte direkt auf mich zu. Flink sprang sie vom Fahrrad, lehnte es an einen der Orangenbäume und lief die letzten Meter auf mich zu. "Oxana, sie kommen", stieß sie schwer atmend aus. "Langsam, Gerda", beruhigte ich meine Freundin. "Wovon redest du? Wer kommt?" "Die Soldaten", keuchte Gerda. "Ein Konvoi ist unterwegs aus Richtung Süden. Es sind mindestens zwei Transportfahrzeuge. Hans hat sie von unseren Feldern aus gesehen. Und es sind nicht unsere Leute, Oxana. Hans schwört, dass er die Simnistrische Flagge auf den Jeeps gesehen hat."




    Entsetzt weiteten sich meine Augen. Nun war es also soweit. Die Ruhe vor dem Sturm war vorbei, das wusste ich instinktiv. "Hast du eine Ahnung, was sie vorhaben?", fragte ich Gerda, doch sie schüttelte verständlicherweise dem Kopf. Niemand konnte ahnen, was diese Invasoren vorhatten, doch mit Sicherheit war es nichts Gutes. "Gerda, bleibst du bitte bei mir und den Kindern?", fragte ich meine Freundin. "Wenn ich alleine bleibe und sie kommen, weiß ich nicht, was ich tun soll." Gerda verstand meine Ängste und versprach, mich nicht alleine zu lassen.

  • Kapitel 162: Noch ein Kind




    Die Simnistrier waren im Anmarsch. Ich rief sofort die Kinde zusammen und wies sie an, sich zusammen mit uns im Wohnzimmer aufzuhalten. Ich erzählte ihnen nicht, was los war. Aber da Gerda und ich ständig aus dem Fenster auf die Straße starrten und die Kinder sahen, wie nervös wir beide waren, merkten sie unweigerlich, dass etwas Bedrohliches bevorstand.




    Und dann sahen wir den Jeep, der mit hoher Geschwindigkeit die Straße herunter raste. In meinem Inneren keimte die Hoffnung auf, dass er unser Haus einfach ignorieren würde, dass er vorbei brauste und nur eine Staubwolke zurückließ. Doch mit einem Schlag schob sich eine dunkle Wolke vor die gleißende Sonne und im selben Augenblick verlangsamte der Jeep seine Fahrt und bog in die Simlane ein. Gerda und ich liefen hastig zum Fenster, das zur Veranda hinaus ging. Immer noch hatte ich die Hoffnung, dass der Jeep einfach weiter fahren würde, dass er nur zufällig in die Simlane eingebogen war. Doch meine Hoffnungen wurden jäh enttäuscht. Mit quietschenden Reifen hielt der Jeep vor meinem Haus und drei bewaffnete Soldaten sprangen heraus und setzten ihren Fuß auf Grünspans staubigen Boden.




    Die drei liefen auf das Haus zu. "Oh Gott, Gerda, sie kommen", rief ich aufgeregt. "Was sollen wir jetzt tun? Sollen wir weglaufen? Uns verstecken?" Doch Gerda konnte mir keine Rat geben. Sie war ebenso verängstigt und erschrocken wie ich. Ich konnte nicht einschätzen, wie sich die simnistrischen Soldaten verhalten würden. Aber wenige Tage zuvor hatten sie große Teile unserer Stadt ohne Vorwarnung in Schutt und Asche gelegt. Das ließ nichts Gutes hoffen.




    Gerda und ich liefen eilig vom Fenster weg und ich scharte die Kinder dicht um mich. Im nächsten Moment flog die Tür mit einem lauten Knall auf. Einer der Soldaten hatte sich mit einem kräftigen Tritt Zugang zu meinem Haus verschafft. Dabei war die Tür nicht einmal verschlossen gewesen. Gerda, Klaudia und ich schauten voller Angst zu dem Mann hinüber, doch wir blieben halbwegs ruhig. Nur Sky konnte sich einen Angstschrei nicht verkneifen und klammerte sich fest an mich.




    Die drei stürmten in das Haus hinein. Wir standen verängstigt in der Ecke. Ein der drei Soldaten brüllte uns an. "Auf den Boden! Auf den Boden!" Er richtete seine Pistole auf uns, doch dieser zusätzlichen Drohung hätte es gar nicht bedurft. Keiner von uns zögerte, sich hinzuhocken. "Kopf nach unten", brüllte er weiter. "Und ich will keinen Mucks hören!" Es kam mir so vor, als ob er diese Worte gezielt zu Sky gesagt hätte. Und auch der Junge hatte diese Warnung offensichtlich verstanden, denn augenblicklich verstummt sein Schluchzen und wurde zu einem kaum hörbaren Wimmern.




    Der Typ, der auch schon die Tür eingetreten hatte, machte sich umgehend daran, das Haus zu demolieren. Er schmiss alles um, was ihm in den Weg kam. Er griff den Schachtisch und schleuderte ihn in die Mitte des Zimmers. Die darin aufbewahrten Schachfiguren ergossen sich über den Boden. Wild trat er auf die Korbsessel ein, die seinem festen Stiefeln keinen ernsten Widerstand bieten konnten. Und auch vor den Schränken machte er keinen Halt, die mit lautem Getöse auf den Holzboden krachten und ihren Inhalt freigaben.




    Der dritte Soldat hatte sich aufgemacht, um das Haus nach weiteren Bewohnern abzusuchen. "Hier ist niemand mehr", teilte er seinem Kumpel mit, als er wieder in das Wohnzimmer kam. "Die Frauen und Kinder sind hier offensichtlich ganz allein." Die beiden Soldaten sprachen Simnistrisch miteinander, allerdings waren die Unterschiede zwischen unseren beiden Sprachen so gering, dass ich die Soldaten problemlos verstehen konnte.




    Der Soldat, der soeben noch mein Haus zertrümmert hatte, grinste fies. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber es lief mir auch so kalt der Rücken hinunter. "Das heißt also, keiner ist da, der diese Schlampen beschützen könnte. Für mich klingt das so, als ob wir hier unseren Spaß haben könnten." Der Typ begann dreckig zu lachen und der dritte Soldat stimmte mit ein.




    Der Soldat mit den schwarzen Haaren, die ihm in die eine Hälfte des Gesichtes hingen, schritt auf den älteren der drei Soldaten zu, der weiterhin die Waffe auf uns vier Gerichtet hielt, und klopfte ihm auf die Schulter. "Na, Bran, mit welcher willst du anfangen?", fragte er. Das dreckige Grinsen in seinem Gesicht wurde nur noch breiter. Obwohl sie es uns verboten hatten, blickte ich flehentlich auf. Ich richtete meinen Blick auf den älteren Soldaten, da ich die Hoffnung hatte, dass er der Vernünftigste von den dreien sein könnte. Doch ich hatte mich ganz offensichtlich geirrt. "Ich schnappe mir die kleine Dicke", sagte er uns grinste Klaudia an. "Du kannst dann die Alte in dem karierten Fummel haben. Adrian, du passt solange auf die verkniffene Schachtel und den kleinen Bastard hier auf", sagte er zu den dritten Soldaten. "Wir rufen dich dann, wenn wir fertig sind. Wird auch nicht lange dauern."




    Das könnte ich nicht zulassen! Ich konnte nicht zulassen, dass diese Widerlinge sich an meiner Tochter vergingen. Ungeachtet der Warnungen und der auf mich gerichteten Waffen sprang ich auf. "Machen Sie mit mir was sie wollen, aber lassen sie meine Tochter in Ruhe", flehte ich die beiden Soldaten an. "Sie ist doch noch ein Kind!"




    Doch die Soldaten zeigten nicht das geringste Mitgefühl. Ganz im Gegenteil. Der Typ mit den langen schwarzen Haaren machte zwei eilige Schritte auf mich zu und schlug mir mit seiner Pistole mitten ins Gesicht. "Halt dein dreckiges Maul, Schlampe", schrie er mich an. "Keiner sagt uns, was wir zu tun oder zu lassen haben. Und jetzt setzt dich wieder hin. Los, auf den Boden mit dir!"




    Ich blieb stehen. Es war egal, ob er mich schlug. Ich würde nicht zulassen, dass diese Typen meinen Kindern etwas antaten. Das erkannte wohl auch der Soldat. Denn er nahm seine Waffe herunter und richtete sie direkt auf Gerdas Kopf. "Du setzt dich jetzt sofort hin oder ich blase der verkniffenen Alten den Schädel weg und das direkt vor deinen Kindern. Hast du mich verstanden?!" Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte Klaudia schützen, ich musste sie schützen. Aber ich konnte nicht zulassen, dass Gerda erschossen wurde. Ich blickte zu Gerda hinunter. Sie blickte nicht auf, aber ihre Augen waren weit geöffnet. Und sie betete. Man konnte zwar nichts hören, aber ihre Lippen bewegten sich stetig und formten ein "Ave Maria" nach dem anderen. Meine Hände zitterte vor hilfloser Wut.




    Nein, ich konnte nicht zulassen, dass Gerda starb. Sie hat meinetwegen so viel durchmachen müssen und dennoch war sie mir immer eine gute Freundin gewesen. Selbst heute ist sie zum mir geeilt, um mich vor den anrückenden Soldaten zu warnen. "Bitte", flehte ich den Soldaten ein letztes Mal an, "nicht meine Tochter." Doch der fasste mich nur an den Schultern und drückte mich zu Boden. Meine Knie leisteten keinen Widerstand. Der ältere Soldat, Bran, fasste Klaudia am Ellbogen und riss sie hoch. "Gleich zeige ich dir was eine echter simnistrischer Mann ist", lachte er und musterte Klaudia dabei gierig. Meine Tochter versuchte sich zu wehren, doch gegen die Muskelkraft dieses Mannes kam sie einfach nicht an.




    Ich fühlte mich so machtlos. Meine Tochter war in größter Not und ich konnte ihr nicht helfen ohne Gerdas oder Skys Leben zu gefährden. Ich brauchte ein Wunder. Gott, schick mir ein Wunder! Noch nie hatte ich Gottes Hilfe so nötig gehabt, wie in diesem Augenblick. Er musste eingreifen. Er musste Klaudia einfach vor diesem Schicksal bewahren. Er durfte es nicht zulassen, er durfte einfach nicht!




    Und dann hörte ich IHRE Stimme. "Soldaten Abromawitsch, Jukow und Dabratsch, was ist hier los?" Ich wagte es aufzublicken und obwohl das Sofa mir die Sicht auf die Frau versperrte, erkannte ich, dass sich das Verhalten der drei Soldaten mit einem Schlag verändert hatte. "Wir, ähm...", stotterte Bran, der älteste der drei, doch die Frau ließ ihn gar nicht erst aussprechen. "Ihr solltet nach einem geeigneten Hauptquartier Ausschau halten und es beanspruchen. Von mehr war nie die Rede gewesen." Die drei Soldaten ließen betroffen die Köpfe sinken. "Geht mir aus den Augen", herrschte die Frau sie an. "Kehrt zum Lager bei Seda Azul zurück und kommt mir in den nächsten Tagen lieber nicht mehr unter die Augen." "Jawohl, Frau Kommandantin", stammelten die drei und verließen eiligst das Haus.




    Die Frau gehörte offensichtlich zu der simnistrischen Armee. Dennoch hatte sie uns gerade gerettet und dafür würde ich ihr auf ewig dankbar sein. Wir spürten alle intuitiv, dass wir nun in Sicherheit waren. "Mami", schluchzte Klaudia laut und warf sich mir um den Hals. Bis eben war sie tapfer geblieben. Trotz ihrer Angst und bei vollem Bewusstsein, was sie erwartet hätte, hatte sie ihre Tränen unterdrückt. Doch jetzt ließ sie alles heraus und mir erging es nicht anders. "Es ist alles gut, mein Schatz", flüsterte ich ihr immer wieder zu und drückte ihren vor Weinkrämpfen bebenden Körper fest an mich.




    Und dann trat ER durch die Tür. Kasimir! "Ich danke ihnen noch einmal vielmals, für ihre Unterstützung, Kommandantin Ermanowa." Die Frau nickte Kasimir knapp zu. "Halten sie sich bereit, wenn wir ihre Unterstützung brauchen, Herr Tellermann", erwiderte sie. Dann sah sie sich kurz im Haus um. "Dieses Gebäudes scheint wirklich geeignet, genau so, wie sie es beschreiben haben, Herr Tellermann. In zwei Tagen werden wir hier unser Hauptquartier einrichten. Ich würde ihnen und ihrer Familie", sie blickte zu mir und den Kindern herüber, "raten, dann nicht mehr hier zu sein. Ich werde meine Männer nicht immer zurückhalten können und ich habe nicht vor, rund um die Uhr ein Auge auf sie zu haben. Wir sind im Krieg und wir alle wissen, was das bedeutet." Damit drehte sie sich um und sie und ihre zwei verbliebenen Soldaten verließen das Haus.




    Im ersten Moment war ich zu verdutzt, um zu reagieren. Ich verstand nicht, wieso Kasimir plötzlich aufgetaucht war. Aber er hatte uns gerettet. Als mir das klar wurde, gab es kein Halten mehr für mich. Ich lief auf ihn zu und warf mich ihm um den Hals. Kasimir war überrascht von solch einem Gefühlssaubruch. Doch nachdem die erste Schrecksekunde verklungen war, schloss er mich fest in seine Arme. Und zum ersten Mal seit Tagen fühlte ich mich sicher. Jetzt war es nicht mehr ich, die stark sein musste für die Kinder. Jetzt konnte ich mich fallen lassen und Kasimir war da, um mich aufzufangen.

  • Kapitel 163: Einfach ein guter Freund




    Kasmir war da. "Alles in Ordnung, Perle", beruhigte er mich. Dabei strich er über meine Wange und wischte die letzten Tränen weg. Ich genoss diese Berührung. Zu lange hatte ich niemanden mehr gehabt, der mich auf diese Art berührt hätte. "Wieso bist du hier?", fragte ich flüsternd. "Wegen dir", antwortete er ohne Umschweife. "Ich musste einfach wissen, wie es dir geht." Ich lächelte ihn an. Es tat so gut zu wissen, dass es jemanden gab, der sich um einen sorgte. "Ich habe Kommandantin Ermanowa gebeten, mich nach Sierra Simlone Stadt mitzunehmen. Die simnistrische Armee hat in Seda Azul ihr vorläufiges Lager aufgeschlagen."




    "Und sie hat dir einfach so geholfen?", fragte ich ungläubig. Kasimirs Mine wurde mit einem Schlag ernst. "Nein, nicht einfach so. Ich hab ihr angeboten, sie mit Informationen über Sierra Simlone Stadt zu versorgen. Unter anderem habe ich ihr dein Haus als Kommandozentrale in der Stadt vorgeschlagen."




    Ich traute meinen Ohren nicht. "Du hast was getan? Kasimir, dazu hattest du kein Recht!" Kasimirs Mine blieb regungslos. "Ich lasse doch nicht zu, dass diese dreckigen simnistrischen Schweine mein Haus als Kommandozentrale nutzen. Womöglich wird hier der Feldzug gegen die restliche SimNation geplant. Wie konntest du so etwas nur tun?" "Ich habe es getan, um dich zu beschützen", antwortete er. "Ohne mein Eingreifen, hätten diese Soldaten dir und den Kindern wer weiß was alles angetan. Und ich bin mir nicht sicher, ob euer Schicksal Kommandantin Ermanowa auch nur im geringsten interessiert hätte, wenn ich nicht mit ihr zusammenarbeiten würde."




    Wütend wand ich mich von ihm ab und stützte mich auf die Rückenlehne des Sofas. "Ich verstehe deine Wut, Oxana", sagte er behutsam und legte seine Hand auf meine Schulter. "Aber die Simnistrier sind im Land. Und sie sind stark. Wir müssen uns auf diese neue Situation einstellen. Wenn mir Widerstand leisten, dann können wir nur verlieren. Ich habe einfach versucht, das Beste aus dieser Situation zu machen." Kasimirs Worte hatten durchaus ihre Logik. Aber ich konnte und wollte diese Logik nicht teilen. Simnistrien war gnadenlos in unser Land eingefallen. Ich würde bis zum letzten Kämpfen, um sie wieder zu vertreiben. Und Dominik würde das auch tun, wenn er hier wäre. Dominik war nicht so wie Kasimir. Er kämpfte immer für das Richtige, so ausweglos es auch scheinen möchte. Deshalb war er auch schon seit Jahren im Simnistrien. Und deshalb liebte ich ihn und nicht Kasimir. Das wurde mir in diesem Augenblick deutlicher als jemals zuvor.




    Aber Dominik war nicht hier. Ich atmete tief durch und wand mich Kasimir wieder zu. "In zwei Tagen werden die Simnistrier ihr Quartier also in meinem Haus aufschlagen?", fragte ich müde. Kasimir nickte. "Du und die Kinder, ihr könnt mit mir nach Seda Azul kommen. In meiner Wohnung ist…" Ich stoppte Kasimir mit einem Handzeichen. "Nein, die Kinder und ich werden nicht nach Seda Azul gehen. Du und ich...das würde einfach nicht gut gehen." Ich sah, wie Kasimir in sich zusammen sackte. "Du weißt, dass ich dich immer noch liebe?", flüsterte er mehr, als dass er sprach. "Und ich liebe Dominik", antwortete ich ruhig.




    Kasimir atmete schwer, aber schließlich begann er zu nicken. "Gut, meine Aufgabe ist hier dann getan. Ich musste es einfach noch einmal versuchen, Perle." Mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen drehte er sich um und griff nach der Türklinke. "Bitte geh nicht", rief ich ihm hinterher. "Ich will nicht alleine mit den Kindern zurück bleiben. Ich habe Angst, Kasimir. Wenn du hier bleiben würdest, als guter Freund, ich würde mich gleich viel sicherer fühlen." Kasimirs Hand verharrte für mehrere Sekunden regungslos auf der Klinke, doch dann ließ er sich los, ohne die Tür zu öffnen. "In Ordnung. Ich bleibe für die nächsten Tage hier. Als Freund, einfach als ein guter Freund."




    Mir fiel ein Stein vom Herzen. Dann wand ich mich Gerda zu, die blass wie ein Leichentuch bei den Kindern stand. "Geht es dir gut?", fragte ich besorgt und merkte, wie mir selbst wieder die Tränen kamen. Gerda kam langsam auf mich zu. Sie wollte nicken, aber gleichzeitig schüttelte sie auch mit dem Kopf. Ich konnte diese Reaktion nur zu gut verstehen. Mir ging es nicht anders Schrecken und Erleichterungen lagen einfach zu dicht beieinander.




    Also nahm ich sie einfach in den Arm. Gerda klammerte sich regelrecht an mir fest und ich spürte, dass sie immer noch am ganzen Körper zitterte. "Soll dich Kasimir nach Hause begleiten?", fragte ich meine Freundin und sie bejahte diese Frage mit einem zögerlichen Nicken. "Wir stehen das alles gemeinsam durch", flüsterte ich ihr zum Abschied zu. "Wir werden uns nicht unterkriegen lassen."




    Keine Sekunde, nachdem Kasimir und Gerda das Haus verlassen hatten, brach Klaudia in Tränen aus. All die Angst und der Schrecken der letzten Tage und Stunden hatten sich in ihr aufgestaut und jetzt brachen alle Dämme. Sky ließ sich von diesem Gefühlsausbruch anstecken und weinte ebenfalls bitterlich. Und so sehr ich die strake Schulter für die Kinder sein wollte, auch ich musste meinen Tränen freien Lauf lassen. Wir saßen auf dem Sofa, inmitten unseres demolierten Wohnzimmers, und hielten uns gegenseitig fest. Der Kampf mit den Tränen schien mehr als einmal fast gewonnen, doch es reichte ein Schluchzen, um die Gefühle übermannten uns erneut. So saßen mir zusammen, bis es draußen dunkel wurde.




    Doch meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Sky und Klaudia waren sicher, zumindest für den Augenblick. Sie waren bei mir und ich konnte sie beschützen, wenn es notwendig war. Aber was war mit Kinga? Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie es meiner ältesten Tochter ging. Ich konnte nur beten, dass Joanna für ihre Sicherheit garantierte. Und Dominik? Ich hatte immer noch kein Lebenszeichen von ihm.




    Nachdem die Kinder im Bett waren und ruhig schliefen, versuchte ich noch einmal Joanna zu erreichen. Doch ohne Strom funktionierte unser Haustelefon nicht und mein Handy hatte nach wie vor keinen Empfang, was Sinn machte wenn man bedenkt, dass die Funkmasten ebenfalls keinen Strom mehr hatten.







    Die Ereignisse des vergangenen Tages hatten die Kinder zum Glück nicht zu stark traumatisiert. Zumindest rein oberflächlich schien es ihnen wieder gut zu gehen. Klaudia kümmerte sich vorbildlich um ihren Bruder und las ihm aus seinem Lieblingsbuch „Das kleine Haus“ vor. Allerdings war ich mir sicher, dass der Schreck Klaudia tief in den Knochen saß. Ich konnte nur hoffen, dass sie diese Beinahe-Vergewaltigung würde überwinden können.




    Sky war hingegen noch zu jung um überhaupt zu begreifen, was die Soldaten uns gestern angedroht hatten. Ich beneidete ihn beinah um seine kindliche Einstellung zu den Dingen. Es kümmerte ihn wenig, dass eine fremde Armee in unser Land einmarschiert war, denn von Politik verstand er noch nichts. Und selbst der Stromausfall war für ihn eher ein Spaß, eine Abwechslung, durch die er neue und alte Spielchen entdeckte, wie etwa das Herumspritzen in einer Pfütze.




    Er entdeckte, dass man mit Seifenblasen auch wunderbar im Regen spielen konnte. Man musste sich einfach nur vorstellen, die Blasen seinen Ufos, und die Regentroffen Laserstrahlen, die die fremden Eindringlinge vom Himmel schossen.




    Goya wurde als Spielkameradin wiederentdeckt, die nicht so vorhersehbar war, wie die Figuren in seinen Computerspielen.




    Und wenn man ganz tief in Klaudias alter Spielzeugkiste wühlte, dann entdeckte man(n) sogar das ein oder andere "doofe Mädchenspielzeug", mit dem man durchaus sehr viel Spaß haben konnte.




    Aber ich konnte den Krieg nicht ausblenden. Zudem musste ich bereits morgen das Haus für die simnistrische Armee räumen und ich wusste nicht, wohin ich mit den Kindern gehen sollte. Natürlich boten sich Dominiks Eltern oder mein Bruder an. Und da ich selbst in einer solchen Kriese meine Ex-Schwiegermutter Glinda nicht um einen Gefallen bitten wollte, war mein Bruder die erste Wahl. Ich brauchte noch nicht einmal nach ihm zu rufen, denn er kam selbst herüber und bat mich, ihn auf die Plantage zu begleiten, wo wir uns ungestört unterhalten konnten.




    Ich tat ihm den Gefallen. Bereits auf dem Weg hinter das Haus erzählte ich ihm, von dem Überfall durch die simnistrischen Soldaten und dass ich mein Haus bis morgen räumen müsste. "Ich habe gehofft, ich und die Kinder könnten bei Desdemona und dir unterkommen. Ich weiß, euer Haus ist nicht gerade groß, aber bei Dominiks Eltern ist noch weniger Platz", plapperte ich direkt drauf los. Doch Orion schien gar nicht zuzuhören.




    "Du wirst nicht bei mir und Desdemona wohnen!" Diese Worte waren wie ein Schlag in mein Gesicht. War das etwa Orions Ernst? Doch bevor ich nachhaken konnte, sprach mein Bruder weiter. "Du und die Kinder, ihr werdet noch heute Nacht die Sierra Simlone verlassen." "Aber die Farm...", warf ich ein, doch Orion unterbrach mich rigoros. "Die Farm ist jetzt vollkommen egal. Wir haben Krieg. Heute Nacht hat einer von Joannas Agenten Kontakt mit mir aufgenommen. Die Lage ist schlimmer, als du dir das vorstellen kannst. Joanna hat einen Transport organisiert. Du, die Kinder und Desdemona werdet nach SimCity gebracht."




    Ich war sprachlos. "Wie ich dir schon vor ein paar Tagen mitteilte, können wir deinen Mitbewohner Tristan leider nicht mitnehmen. Im Wagen ist nur Platz für vier Leute. Ich werde auch hier bleiben. Joanna braucht mich hier unten als wachsames Auge für "Justice". Der Norden der SimNation ist zurzeit noch frei von simnistrischen Invasoren. Ihr werdet in SimCity also vorerst sicher sein. Sollte die Lage sich weiter zuspitzen, dann wird Joanna euch ins Ausland schaffen. Und du, Schwesterchen, gehst jetzt ins Haus und packst das Notwendigste zusammen. Mehr als eine Tasche könnt ihr nicht mitnehmen. Und kein Wort zu niemandem! Hast du mich verstanden? Nicht einmal zu deinen Schwiegereltern. Wir können es nicht riskieren, dass die Simnistrier euch bei der Flucht ertappen."

  • Kapitel 164: Abschied




    Orions Anweisungen waren eindeutig gewesen. Eine Tasche, für mehr Gepäck war kein Platz. Ich eilte ins Schlafzimmer und begann die Schränke zu durchwühlen. Es hatte keinen Sinn Kleidung mitzunehmen. Die konnten wir ins SimCity neu kaufen. Also kramte ich Dokumente, wie unsere Reisepässe, Geburtsurkunden und die Sparbücher hervor. Etwas Bargeld und Schmuck nahm ich auch mit.




    Die ganzen Möbel, die Bücher, Fotoalben, alles musste hier bleiben. Vermutlich würde ich davon nichts mehr wiedersehen, sollte ich jemals in die Sierra Simlone zurückkehren. Aber von den Gemälden im Arbeitszimmer konnte ich mich einfach nicht trennen. Sie zeigten meine Kinder, Dominik, meine Mitbewohner und mein kleines grünes Häuschen, in dem alles begonnen hatte. Unter dem Teppich im Wohnzimmer war eine Luke verborgen, die zu einem winzigen Lagerraum führte. Viel mehr als die Gemälde passte dort nicht hinein. Vielleicht würden sie ja dort unten sicher vor den Simnistriern verborgen bleiben.




    Es fiel mir schwer mich mit dem Gedanken anzufreunden, alles zurücklassen zu müssen. Mein ganzes Hab und Gut, mein Haus, meine Farm. Aber noch viel schwere fiel es mir, alle meine Freunde, meine Familie zurückzulassen, ohne die Möglichkeit, mich richtig zu verabschieden. Orion hatte mir klar gemacht, dass ich niemandem etwas von unserer Flucht erzählen durfte. Ich würde mich daran halten, denn ich verstand, was für ein Risiko wir mit der Flucht eingingen. Aber ich musste mich einfach von einigen Leuten verabschieden, auch wenn diese nicht erfahren würden, dass es möglicherweise unser letztes Wiedersehen war. Meine Ex-Schwiegereltern gehörten zu diesem Kreis.Es passte wunderbar, dass Anan vorbeikam und mich und die Kinder herüberbat, gerade als ich die Portraits im Lagerraum verstaut hatte.




    Da es nicht danach aussah, als ob wir bald wieder Strom hätten, mussten die Lebensmittel, die nicht schon vor Tagen verdorben waren, schnellstens aufgebraucht werden. Also wurde mit der gesamten Familie gegrillt. Es regnete wie schon seit Tagen ohne Unterbrechung, dennoch saßen wir im Freien unter einem Baldachin. Glinda schaute immer wieder besorgt nach oben, denn das Wasser sammelte sich über unseren Köpfen und drückte den Baldachin gefährlich weit nach unten, aber wir blieben zum Glück trocken.




    Trotz des Regens war es ein wundervoller Nachmittag. Selbst Glinda unterließ jeden noch so kleinen Seitenhieb. Vermutlich saß auch bei ihr der Schock ob der Zerstörung unserer Heimatstadt zu tief. Doch ich war mir sicher, dass sie bald wieder die alte Hexe sein würde, die mir mein Leben schwer machte, die ich aber trotzdem nicht mehr missen wollte. Obwohl ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, entging es Anan nicht, dass mir sehr viel durch den Kopf ging. "Was beschäftigt dich, Tochter?", fragte er mich, als wir einen Moment ungestört waren. Sein Blick war so fürsorglich, so voller Zuneigung, dass ich ihm fast alles erzählt hätte. Ich war mir sicher, dass Anan niemandem auch nur ein Wort verraten würde, aber ich riss mich zusammen und schwieg.




    Er akzeptierte meine Ausflüchte, dass ich einfach nur aufgrund der Ereignisse der letzten Tage angespannt wäre. So abwegig war dies auch nicht, immer hin war die halbe Stadt niedergebrannt und viele Freunde und Bekannte wurden verletzt oder sind gar gestorben. Aber irgendetwas in Anans Blick ließ mich vermuten, dass er mich durchschaut hatte. Mein Schwiegervater kannte mich einfach zu gut.




    Die Kinder wollten noch etwas Zeit mit ihren Großeltern verbringen. Da ich nicht wusste, wann sie wieder die Gelegenheit dazu haben würden, ließ ich sie gewähren. Ich nutzte derweil die Zeit, um mich noch ein letztes Mal mit Gerda zu treffen. "Mutter, schau, Oxana kommt", bemerkte Miranda, als sie mich auf das Farmhaus der Kappes zukommen sah. Miranda hielt ihre Tochter Franziska auf den Arm und man konnte an ihrem dicken Kugelbauch erkennen, dass der nächste Nachwuchs nicht mehr lange auf sich warten ließ. Meine beste Freundin, die im Arm ihres Mannes Volker auf der Bank vor dem Haus saß, blickte auf.




    Es tat gut, Gerda so strahlen zu sehen. Offensichtlich hatte sie den gestrigen Vorfall mit den Soldaten gut überwunden. Gerda konnte sich auf ihre Familie verlassen, auf ihren Ehemann und auf ihre Kinder, die nicht zulassen würden, dass sie in Depressionen verfiel. Gerda war ebenfalls erleichtert mich wohlauf zu sehen. So wie ich mir Sorgen um sie gemacht hatte, hatte auch meine Freundin sich um mein Wohlergehen gesorgt.




    Und offensichtlich kam Gerda auch besser ohne Strom zurecht als ich. "Willst du einen Kaffee, Oxana", fragte sie mich. Als ich sie verwundert ansah, lachte sie nur und führte mich hinters Haus. Und dort stand eine alte Eisentonne, in der ein Feuer brannte und auf dem Rost stand eine Kanne, mit frisch gebrühten Kaffee. Mit dem heißen Kaffee in der Hand, dem ersten seit über fünf Tagen, setzten wir uns an den Küchentisch und unterhielten uns. Fast hätte ich vergessen, dass eine Invasionsarmee auf unsere Stadt zumarschierte und ich noch in dieser Nacht fliehen würde.




    Ich hätte stundenlang so mit ihr weiterreden können. Aber die Zeit drängt. Sobald die Sonne untergangen war, würde Joannas Kontaktmann kommen, um uns sicher nach SimCity zu bringen. "Pass auf dich auf, Gerda", sagte ich meiner Freundin zum Abschied. "Ich fürchte, dass ist unser letzter friedlicher Tag in Sierra Simlone Stadt. Sobald die Simnistrier einmal hier sind, wird sich alles ändern." Doch Gerad lächelte zuversichtlich. "Ich vertraue Gott, Oxana. Es wird sich alles zum Guten wenden. Das hat es bis jetzt noch immer getan." Dabei schaute sie zufrieden lächeln durch die Scheibe der Eingangstür zu Volker hinüber. In diesem Moment erkannte ich, wie sehr Gerda diesen Mann liebte. Er war ihre große Liebe.




    "Pass auch gut auf dich auf, Oxana", fuhr Gerda fort. "Und habe ein wachsames Auge auf Desdemona. SimCity ist eine große, aufregende Stadt, nicht zu vergleichen mit diesem kleinen Nest. Ich habe Angst, dass meine Mona sich in diesem Großstadtdschungel leicht verirren könnte. Sie braucht jemanden, der sie wieder auf den rechten Weg führt." Mir fiel die Kinnlade hinunter. Gerda wusste also von unserer Flucht und sie hat sich nichts anmerken lassen. Gerda grinste breit und zwinkerte mir zu. Dann hielt sie sich den Zeigefinger vor die dünnen Lippen um mir zu signalisieren, dass sie kein Wort verraten würde. Und ich vertraute meiner Freundin. Bei ihr war unser Geheimnis in guten Händen.







    Es fiel mir schwer, mich von Gerda zu verabschieden. Doch die Dämmerung setzte bereits ein und es wurde allerhöchste Zeit aufzubrechen. Auf dem Weg zurück zur Simlane, kam mir die gesamte Situation so surreal vor. Der Regen war in ein leichtes Nieseln übergegangen. Die ganze Stadt wirkte vollkommen ruhig. Nichts deutete darauf hin, was für eine Zerstörung wir in den letzten Tagen erlebt hatten. Selbst der beißende Geruch nach verbrannten Holz und brennendem Öl ist von dem Regen weggespült worden. Ich begann ernsthaft daran zu zweifeln, ob es nicht ein Fehler war, die Sierra Simlone zu verlassen. Und dann vernahm ich ein seltsames Geräusch. Es hörte sich an wie Feuerwerk, doch ich realisierte schnell, dass es sich vermutlich um das Knattern einer Maschinenpistole handeln musste. Das Geräusch kam aus dem Süden, aus Richtung Ganado Alegro. Ich konnte nicht einschätzen, wie nah die simnistrischen Soldaten schon sein mussten, aber der Lärm der Maschinengewehre war deutlich zu hören.




    Uns blieb keine Wahl, wir mussten so schnell es ging die Sierra Simlone verlassen. Aber es fiel mir so unendlich schwer. Als ich das Haus betrat und das verwüstete Wohnzimmer betrachtet, kamen mir unweigerlich die Tränen. Warum tat Simnistrien uns das an? Ich konnte es einfach nicht verstehen. Wie tief musste der Hass auf die SimNation sitzen, dass sie unser Land überfielen, unsere Häuser verwüsteten und unsere Leben zerstörten.




    Noch hatte ich die Kinder nicht über unsere Flucht informiert. Zum einen war die Gefahr zu groß, dass sie sich verplappert hätten. Zum anderen wusste ich auch nicht wie ich ihnen vermitteln sollte, dass wir unsere Heimat, möglicherweise für immer verlassen mussten. Sky lief mir zuerst in die Arme. Ich wischte mir hastig die Tränen aus dem Gesicht und hoffte, dass mein Sohn das feuchte Glänzen bei dem fahlen Kerzenschein nicht bemerken würde. "Geh in dein Zimmer und pack deine zwei Lieblingsspielsachen in deinen Rucksack, Schatz", wies ich ihn sanft an. "Und dann komm wieder ins Wohnzimmer."




    "Was ist los, Mama?" Klaudia hatte mein Gespräch aus der Küche heraus belauscht. An ihrem Tonfall erkannte, dass sie bereits etwas ahnte. Die Schüsse draußen waren inzwischen so laut, dass wir sie selbst im Haus hören konnten. "Gewehre?", fragte Klaudia ängstlich und ich nickte. "Du hast gerade gehört, was ich zu deinem Bruder gesagt habe", setzte ich mit zitternder Stimme an. "Packe zwei, drei Sachen ein, die du unbedingt mitnehmen möchtest. Ich habe schon alle Dokumente, also nimm mit, was du möchtest. Wir werden gleich abgeholt."




    "Dein Tante Joanna hat einen Transport nach SimCity organisiert, für Sky, dich, mich und Tante Desdemona. Der Wagen wird gleich hier sein." Mein Stimme begann sich zu überschlagen und die Tränen nahmen mir die Sicht. "Ich habe keine Ahnung, wann...und ob wir jemals zurückkommen werden." Klaudia biss sich auf die Lippen. Auch sie kämpfte mit den Tränen. Ich hatte die Sorge, dass sie widersprechen, sich mir widersetzen würde. Kinga hätte dies mit Sicherheit getan. Aber Klaudia erkannte den Ernst der Lage, hatte ihn vor wenigen Tagen am eigenen Leib zu spüren bekommen. Sie nickte stumm und eilte in ihr Zimmer.




    Klaudia war kaum in ihrem Zimmer verschwunden, als auch schon ein schwarzer Van vor dem Haus hielt. Durch die Scheibe hindurch erkannte ich Desdemona, die auf dem Beifahrersitz saß. Ich rief die Kinder und schickte sie hinaus zum Wagen, während ich mich noch ein letztes Mal im Haus umsah.




    "Du verschwindest also." Kasimir hatte sich von hinten an mich heran geschlichen und ich erschrak heftig. Gleichzeitig hatte ich ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil ich ihm nichts von meinem Weggang erzählt hatte. Daher nickte ich nur, ohne ihm direkt in die Augen zu schauen. "Vielen Dank für alles, was du für mich getan hast Kasimir. Aber ich muss an meine Kinder denken. Es ist zu gefährlich, wenn wir hier bleiben." Das verstand auch Kasimir. Entschuldigend strich ich über seinen Oberarm und stieg dann zu meinen Kindern in das Auto.




    Als der Wagen losfuhr, warf ich einen letzten Blick auf Grünspan. In diesem kleinen grünen Haus hatte ich viel Leid, aber auch so viel Freude erlebt. Meine Kinder waren hier aufgewachsen, ich hatte Dominik hier geheiratet. Ich war immer davon ausgegangen, in diesem Haus meinen Lebensabend zu verbringen. Der Gedanke, es jemals verlassen zu müssen, war mir nie gekommen.

  • Kapitel 165: Flucht




    Unser Fluchtweg führte uns über die alte Landstraße, die nicht mehr war, als eine Schotterpiste, die sich in engen Kurven durch die Berge und Schluchten des Gebirges zog, welches die Sierra Simlone vom Rest der SimNation trennte. Nach Aussage unseres Fahrers wurde die neue Schnellstraße von den Simnistriern gut bewacht und ein durchkommen wäre nicht möglich. Von diesem abgelegenen Weg schienen sie aber nichts zu ahnen. Um dennoch nicht die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken, fuhren wir ohne Licht. Die Straße war kaum zu erkennen und die Schlucht immer nur einen Handbreit entfernt, aber wir durften kein Risiko eingehen.




    Durch den nun schon seit Tagen anhaltenden Regen war der Rio Seco, der in der Schlucht unter uns dahin floss, zu einem reißenden Strom angeschwollen. Mit Grauen musste ich daran denken, dass vor vielen Jahren genau auf dieser Piste Albert und Gerda von der Straße abgekommen waren und ich den Fluss stützten. Albert, der Mann, mit dem ich ein gemeinsames Leben beginnen wollte, hat diesen Unfall nicht überlebt. Ich wollte gar nicht daran denken, was passieren könnte, wenn unsere Fahrer in der Dunkelheit zu nah an den Rand der Schlucht herankam.




    Doch mit einem Augenblick war dieses Angst wie weggeblasen, denn ein viel ernsteres Hindernis stand uns im Weg. Offensichtlich hatten die simnistrischen Soldaten die alte Landstraße inzwischen entdeckt und sie gesichert. Ein Militär-Jeep blockierte die Straße und zwei Soldaten standen mit Maschinengewehren bewaffnet davor und versperrten uns den Weg.




    Nein, nein, nein! Das durfte nicht sein. Es durfte einfach nicht so enden. Wir waren so kurz davor, dem Schrecken des Krieges zu entkommen und mit einem Schlag schien alles vorbei. Was würden die Simnistrier mit uns anstellen? Würden sie uns für unseren Fluchtversuch in ein Straflager stecken? Oder würden die beiden uns in ihrer blinden Wut an Ort und Stelle umbringen?




    "Haltet euch alle gut fest!", schrie mit einem Mal unser Fahrer. Er hatte unseren Fluchtwagen fast vollständig zum Stehen gebracht, als wir die Straßenblockade vor uns aufgetaucht war. Jetzt aber umfasste er mit beiden Händen fest das Lenkrad und gab Vollgas.




    Die Reifen drehten auf dem Untergrund aus Sand und Kies zunächst wild durch, doch dann schoss unser Fluchtwagen nach vorne. Desdemona und die Kinder schrien voller Panik, während ich nur krampfhaft versuchte, mich irgendwo festzuhalten. Die beiden Soldaten starten uns ungläubig mit weit aufgerissenen Augen an und sprangen in letzter Sekunde zur Seite, als sie merkten, dass das auf sie zurasende Fahrzeug nicht langsamer werden würde. Doch der einzige Ausweg der ihnen blieb war hinunter in den Fluss und damit vermutlich in den sicheren Tod. Unser Fluchtfahrzeug knallte mit voller Wucht gegen den Militärjeep. Unser Auto wurde beinah hochgeschleudert, doch der Fahrer schaffte es irgendwie, die Kontrolle wiederzuerlangen. Der Jeep hingegen hatte weniger Glück und stürzte hinunter in den reißenden Fluss.




    Ich zitterte am ganzen Körper. Sky klammerte sich fest an mich und Klaudia weinte nur. Desdemona schaute fassungslos hinunter in die Schlucht. Doch weder vom Jeep noch von den beiden Soldaten war auch nur die geringste Spur zu erkennen. Und unser Wagen fuhr unbeirrt weiter. Die Motorhaube war sichtlich zerbeult, doch der Motor surrte leise vor sich hin und der Ort des Entsetzens lag mit jeder Sekunde weiter hinter uns zurück. Und mit jeder Sekunde kamen wir dem sicheren SimCity ein Stück näher.


    Gedanken


    Würde ich Grünspan je wiedersehen? Ich wusste es nicht. Ohne Vorwarnung waren die Simnistrier in die Sierra Simlone eingedrungen. Niemand konnte ahnen, wann sie meine Heimat wieder verließen und ob sie es überhaupt taten.


    Doch ich musste nicht nur mein Zuhause verlassen. Ich ließ auch viel Freunde und Bekannte zurück. Tristan war schwer verwundet und ich hatte nicht einmal den Mut gefunden, mich von ihm zu verabschieden. Ich wusste, dass er bei Frank in guten Händen war. Hätte ich Tristan noch einmal gesehen, dann hätte ich ihm unsere Flucht nicht verheimlichen können. Und ich hätte es nicht über das Herz gebracht, ihn in einer besetzten Stadt zurückzulassen.


    Das Schicksal vieler Freunde war mir indes unbekannt. Roland war in Seda Azul und ich konnte nur hoffen, dass es ihm dort gut ging. Andere hatten hingegen nicht so viel Glück gehabt. Dominiks Bruder Dennis und Stev hatten ihr Haus verloren und Skys Lehrerin, Frau Jolowitz, und Benny mussten diesen sinnlosen Angriff mit ihrem Leben bezahlen.
    Dominiks Schicksal blieb weiterhin ungewiss. Seit nun fast drei Wochen habe ich kein Lebenszeichen mehr von ihm bekommen. Zur Zeit des Überfalls befand sich Dominik in Simnistrien. Wurde er dort als Bürger der SimNation gefangengenommen? Musste er sich verstecken? Ich wusste es nicht und konnte nur beten, dass es ihm gut ging.


    Aber immerhin waren wir jetzt auf dem Weg nach SimCity. Klaudia und Sky waren in Sicherheit und dafür war ich unendlich dankbar. Ich hoffte, dass sich auch meine anderen Probleme aufklären würden, wenn ich erst einmal in SimCity ankam.




    Ein heftiges Rütteln des Autos führte dazu, dass ich mit meinem Kopf gegen die Fensterscheibe stieß. Vorsichtig öffnete ich meine Augen. Draußen war es inzwischen hell. Eine riesige rosarote Sonnenscheibe erhob sich soeben über dem Land. Ich musste eingeschlafen sein. Meine letzte Erinnerung war die Bergstraße in der Sierra Simlone, kurz nachdem wir der simnistrischen Patrouille entkommen waren. Doch ein Blick aus dem Fenster verriet mir eindeutig, dass wir nicht mehr länger in der Sierra Simlone waren.




    Im Wagen herrschte vollkommene Stille. Ich konnte nicht erkennen, ob Desdemona auf dem Beifahrersitz ebenfalls schlief, aber ein Blick zur Seite offenbarte, dass sowohl Sky als auch Klaudia eingeschlafen waren. Das war auch bitter notwendig. Die Kinder hatten in den letzten Tagen und Stunden so viel Leid und Schrecken erfahren müssen, wie die meisten Menschen nicht einmal in einem ganzen Leben.




    Allerdings schlief Sky offensichtlich doch nicht so tief, wie ich zunächst angenommen hatte. Als ich behutsam seine kleine Hand streichelte, schlug er die Augen auf. Er blinzelte müde, doch dann entdeckte er die für ihn unbekannte Landschaft, die an uns vorbeizog. "Ist das ein Wald, Mama?", fragte er neugierig, als er die saftig grünen Bäume am Straßenrand sah. "Ja, Liebling", antwortete ich ihm im Flüsterton, um die anderen nicht zu wecken, und Sky bestaunte mit offenem Mund die grüne Natur. Wenn ich die Landschaft richtig einschätzte, dann befanden wir uns im nördlichen Teil der Provinz Simtonge, möglicherweise auch schon im südlichen Simster. Bis SimCity war es immer noch ein langer Weg, aber wir kamen unserem Ziel näher.




    Ich blickte auf die Straße und bemerkte, dass wir das einzige Fahrzeug auf der Autobahn waren, das in Richtung Norden unterwegs war. Doch auf der gegenüberliegenden Fahrbahn zog sich eine ganze Kolonne von Militärfahrzeugen dahin. Und sie alle trugen das Wappen des Fürsten der SimNation. Es tat sich also doch etwas! Die restliche SimNation hatte die Sierra Simlone nicht vergessen. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Meine Schwiegereltern, meine Freunde und Bekannten, alle, die ich in der Sierra Simlone zurücklassen musste, konnten also auf baldige Hilfe hoffen.







    Die Fahrt nach SimCity zog sich hin, wie ein klebriges Karamellbonbon. Unser Fahrer machte kaum Pausen, dennoch erreichten wir erst am späten Nachmittag die mir noch gut aus meiner Kindheit vertrauten Vororte der Stadt. Ein endgültiges Gefühl der Sicherheit breitete sich in mir aus, als ich das Herrenhaus der von Spinnwebs und das quietschbunte Haus meiner verrückten Pateneltern Silvia und Frankie Maschuga erkannte. Wir waren also endlich angekommen. Der Wagen bog in die Einfahrt meines Elternhauses ein und kam zum Stehen. Sofort riss ich die Tür aus und stieg ins Freie. Der ganze Albtraum hatte ein Ende gefunden.




    Ich schaffte es einmal tief durchzuatmen, als auch schon die Haustür meines Elternhauses aufflog und meine Zwillingsschwester Joanna heraustrat. "Xana, Gott sein Dank, ihr seid da!", rief sie aufgeregt und lief auf mich zu. Und da gab es auch für mich kein Halten mehr und ich rannte meiner Schwester entgegen.




    Wir fielen uns gegenseitig um den Hals. "Geht es euch gut, Xana?", fragte meine Schwester immer und immer wieder. "Ist euch nichts passiert? Seid ihr in Ordnung? Nach meiner letzten Nachricht habe ich nichts mehr von Orion gehört. Ich wusste nicht einmal, ob ihr die Sierra Simlone verlassen habt. Das Handy- und Telefonnetzt ist vollständig zusammengebrochen. Es ist schwer überhaupt noch an irgendwelche Nachrichten zu kommen." Joanna hörte gar nicht mehr auf zu reden. "Es ist alles gut, Jojo", unterbrach ich meine Schwester sanft. "Dank dir geht es uns allen gut."




    Ich löste mich aus Joannas fester Umarmung. Meinem Schwager Tobias war unsere Ankunft ebenfalls nicht entgangen. Er beendet seine Arbeit an einem alten Autowrack im hinteren Teil des Gartens und kam zu uns herüber. Nachdem er zuerst mich kurz begrüßt hatte, umarmte er Sky stürmisch. "Du bist dann wohl mein kleiner Neffe Sky, was? Wir kennen uns noch nicht, aber ich bin dein Onkel Tobi." Joanna umarmte erst Desdemona herzlich und begrüßte dann ihre Nichte. Hätte wir nicht vor einem Krieg fliehen müssen, dann hätte man unsere Zusammenkunft für ein glückliches Familientreffen halten können.




    Plötzlich war ein lautes Klopfen aus dem Kofferraum unseres Fluchtwagens zu hören. Unser Fahrer sprang erschrocken aus dem Auto und wir alle musterten das Fahrzeug misstrauisch. Alle, bis auf meinen Sohn. Ich versuchte ihn noch festzuhalten, doch Sky lief einfach los und öffnete die Klappe des Kofferraums. Und meine Überraschung hätte nicht größer sein können, als plötzlich Goya heraussprang. "Ich könnte sie doch nicht alleine bei den bösen Männern lassen", erklärte er trotzig. "Also habe ich sie in den Kofferraum springen lassen, als niemand hingeguckt hat, und habe ihr gesagt, sie soll ganz leise bleiben." Er strahlte über das ganze Gesicht und fing sofort an, mit seiner tierischen Freundin zu toben, die begeistert in das Spiel mit einstimmte.

  • Kapitel 166: Wut und Verzweiflung




    Ich war Sky keineswegs böse, dass er unsere treue Hündin mit nach SimCity genommen hat. Eher war ich böse auf mich selbst, dass ich Goya einfach so in der Sierra Simlone zurückgelassen hätte. Joanna scheuchte uns alle ins Haus hinein. Erstaunt stellte ich fest, dass meine Schwester einen Buttler beschäftigte, dem sie auftrug, schnellst möglich das Abendessen zu servieren. In SimCity war von dem Krieg im Süden des Landes offenbar nicht viel zu spüren. Wir hatten im ganzen Haus Licht und auch das Essen fiel mehr als üppig aus. Für einen Moment hätte ich vergessen können, dass mein Zuhause der Schauplatz eines grausamen Kampfes geworden war.




    Nachdem wir gegessen hatten, kamen Joannas Kinder nach Hause. Trotz des Krieges ging das Leben in SimCity seinen gewohnten Lauf. Die Kinder waren ganz normal zur Schule gegangen und hatten hinterher noch die Musikschule besucht, so wie sie es immer taten. Ich konnte nur hoffen, dass meine Nichte und mein Neffe nicht gezwungen waren, diesen Alltagstrott in den kommenden Tagen und Wochen zu unterbrechen. Magdalena war ein halbes Jahr jünger als Klaudia und Jakób zwei Jahr älter als Sky. Magda und Klaudia kannten sich bereits von früheren Familientreffen und ich war mir sicher, dass sich auch die Jungs gut verstehen würden. Magda schnappte sich auch sofort alle drei und führte sie in das Dachzimmer, welches vorerst Klaudias und Skys neues Zuhause werden würde.




    Da wir Erwachsenen nun unter uns waren, konnte ich mit Joanna und Tobias in Ruhe über die Ereignisse der letzten Tage sprechen. Desdemona war im Badezimmer beschäftigt, sodass wir wirklich unter uns waren. Während mein Schwager ein Feuer im Kamin entfachte, setzte ich mich mit meiner Schwester auf die Couch im Wohnzimmer. "Was genau ist passiert, Jojo", fragte ich sie. "Ich weiß inzwischen, dass Simnistrien uns angegriffen hat. Aber warum? Und warum waren wir diesem Angriff so schutzlos ausgeliefert?"




    "Wir waren so schutzlos, weil die SimNation sich in Simropa zu sehr isoliert hat", antwortete Tobias anstelle meiner Schwester und setzte sich zu mir auf das Sofa. "Unsere Regierung hat jahrelang auf ihre Unabhängigkeit beharrt und sich jedweden Verhandlungen über einen Beitritt zur Simropäischen Union oder gar zur NATO widersetzt. Und jetzt haben wir den Salat. Die Simropäische Union hat ihr "Unbehagen" über die Angriff Seitens Simnistriens geäußert. Das ich nicht lache. Portugal und Spanien haben uns ihre Unterstützung zugesagt. Moralisch, wohlgemerkt. Unsere feinen Nachbarn sind zum jetzigen Zeitpunkt weder bereit die Grenze für die Flüchtlinge aus der Sierra Simlone zu öffnen, geschweige denn, uns militärisch gegen Simnistrien zu unterstützen."




    "Heißt das etwa, wir stehen völlig ohne Verbündete dar?", fragte ich fassungslos. "Was ist mit unserer eigenen Armee? Ich habe Militärkolonnen gesehen, die in den Süden unterwegs waren?" Tobias lachte bitter. "Ach ja, unser feines Militär. Jetzt, nach fast einer Woche haben sie es geschafft, sich halbwegs zu organisieren. Du hast Recht, die Streitkräfte wurden mobil gemacht und marschieren Richtung Süden. Aber unsere Armee ist winzig. Wir haben gerade einmal 80.000 Soldaten. Simnistrien hat nach unseren letzten Informationen fast 30.000 Mann in der Sierra Simlone stationiert. Und mindestens 500.000 weitere Mann stehen in der Heimat bereit."




    "Und sie kämpfen mit modernsten Waffen. Ihre Hubschrauber haben unsere Flugabwehrstellungen am Golf von Cádiz mühelos ausgeschaltet. Ihre Flugzeuge sind für unser Radar praktisch unsichtbar. Vorgestern sind die ersten Bomber ohne Gegenwehr fast bis nach Simtropolis vorgedrungen." Ich musste tief schlucken. Dann war es im Norden der SimNation doch nicht so friedlich, wie ich angenommen hatte. Und womöglich war es nur eine Frage der Zeit, bis die Schrecken des Krieges auch SimCity erreichten.




    "Aber wir stehen nicht ganz alleine dar", brachte sich meine Schwester in das Gespräch ein. "Noch am Tag des Angriffs auf die Sierra Simlone, erfolgte eine offizielle Kriegserklärung des Königs von Simrokko gegen Simnistrien. Blut ist eben dicker als Wasser und der simrokkanische König ist mit einer Cousine unseres Fürsten verheiratet. Die Simnarischen Inseln haben sich dem Königreich umgehend angeschlossen. Das erschwert den Simnistriern den Zugang zu unserer südlichen Küste. Aber wir wissen nur zu gut, dass die Simnarischen Inseln praktisch keine Kriegsmarine besitzen und die Flotte Simrokkos ist hoffnungslos veraltet. Bereits in den ersten drei Kampftagen haben sie zwei Fregatten verloren und die simnistrischen Flugzeugträger auf ihrer Fahrt in unsere Hoheitsgewässer kaum verlangsamen können."




    Ich konnte nicht länger ruhig sitzen bleiben und sprang vom Sofa auf. "Und jetzt!" brüllte ich meine Schwester an, ohne daran zu denken, dass die Kinder mich hören könnten. "Sollen wir darauf warten, dass Simnistrien uns vernichtet? Uns in unseren Löchern verkriechen und hoffen, dass alles wieder gut werden wird?" Ich schlug mit der Faust gegen die Rückenlehne des Sofas, auf dem Joanna saß, und ignorierte den Schmerz, der durch meine Hand fuhr. Joanna blickte mit voller Mitgefühl an.




    "Uns bleibt gar nichts anderes übrig, Oxana", erklärte meine Schwester ruhig. Ich ließ mutlos die Schultern sinken. "Wenn es hart auf hart kommen sollte, wenn wir in SimCity nicht länger sicher sind, dann werde ich dafür sorgen, dass wir alle das Land verlassen. Dank "Justice" stehen mir einige Mittel und Wege offen. Und das Fürstenhaus verhandelt ununterbrochen mit Staatschefs aus aller Welt. Einer meiner Informanten im Fürstenpalst in Santa Regina teilte mir vor wenigen Stunden mit, dass Simbirien bereit ist, auf unserer Seite in den Krieg einzutreten. Und Simbirien steht in einem militärischen Bündnis mit Russland. Das könnte dem ganzen Krieg eine Wendung geben."




    Ich konnte Joannas Hoffnung nicht teilen. Was würde es ändern, wenn Simbirien oder gar Russland in den Krieg eingriffen? Beide Staaten waren tausende Kilometer von der SimNation entfernt. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich versuchte sie zu unterdrücken, denn ich wollte vor meiner Schwester und ihrem Mann nicht schwach erscheinen. Also gab ich vor durstig zu sein und eilte in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen.




    Doch meine Nerven lagen blank. Meine Hände zitterten so sehr, dass mir das Glas aus den Händen glitt und in der Edelstahlspüle in tausend Scherben zersprang. Und nun gab es kein Halten mehr für mich. Ich fing an hemmungslos zu weinen. Tobias erkannte, dass er sich jetzt besser zurückziehen sollte und meine Schwester folgte mir umgehend in die Küche. "Es ist doch nur ein bescheuertes Glas, Xana", redete sie beruhigend auf mich ein.




    Joanna wusste genau, dass ich nicht wegen des Glases so aufgelöst war. Ich musste endlich all die Dinge los werden, die mir nun schon seit Tagen und Wochen auf der Seele lasteten. "Ich musste meine engsten Freunde, meine Familie, mein Zuhause zurücklassen", schluchzte ich. "Ich weiß nicht, ob ich sie jemals wiedersehen werde. Und ich weiß nicht, ob ich Dominik jemals wiedersehe. Er ist jetzt irgendwo dort in Simnistrien. Ich habe miterlebt, was die Simnistrier den Menschen in der Sierra Simlone angetan haben. Sie sind böse und grausam und er ist ihnen schutzlos ausgeliefert. Und...und...ich weiß nicht, wo meine kleine Kinga ist. Ich weiß nicht, ob es meiner Tochter jetzt gut geht."




    "Kinga geht es gut, Oxana", versicherte mir meine Schwester umgehend. Sie faste mich mit beiden Händen fest an den Schultern und zwang mich, ihr in die Augen zu sehen. "Du hast Kinga in meine Obhut gegeben und ich würde niemals zulassen, dass ihr etwas zustößt. Kinga ist in Sicherheit, Oxana." Ein Blick in Joannas Augen genügte mir um zu wissen, dass sie die Wahrheit sprach. Ich schniefte einige Male und nickte schließlich. Langsam hörten die Tränen auf zu fließen. "Du schläfst jetzt erst einmal, Schwesterherz. Nach all den Strapazen der vergangenen Tage brauchst du vor allem etwas Ruhe. Und dann sehen wir weiter. In Ordnung?" Ich nickte schwach und ließ mich von Joanna in mein Schlafzimmer führen.




    Desdemona lag bereits im Bett. Wir würden uns für die Zeit in SimCity das Zimmer teilen müssen. Ich war mir sicher, dass sie gehört hat, wie ich vorhin wütend geworden war. Und auch meine bitterlichen Tränen dürften ihr nicht entgangen sein. Aber sie rührte sich nicht, als ich mich ins Bett legte. Und ich war ihr dankbar dafür, denn ich war nicht in der Verfassung, um mit ihr über meine Gefühle zu reden. Sie war zwar meine Schwägerin und ich mochte sie sehr gern, aber unsere Beziehung war nicht tief genug, als dass ich ihr mein Herz ausgeschüttet hätte. Mit einem letzten Gedanken an Dominik und Kinga fiel ich in einen festen, traumlosen Schlaf.







    Geweckt durch Geräusche aus der Küche, schlug ich meine Augen auf. Es war noch fast dunkel in dem Zimmer, aber es dämmerte draußen bereits und die Sonne würde bald aufgehen. Als ich die Küche betrat, entdeckte ich Joanna, die Eier und Milch zu einem Waffelteig verrührte. "Guten Morgen, Xana", begrüßte sie mich. Die dunklen Ringe unter ihren Augen verrieten deutlich, dass sie heute Nacht nicht gut geschlafen hatte. Vermutlich traf das auch schon auf die vorherigen Nächte zu. Ich sammelte ein paar dreckige Teller ein, die ich im Esszimmer fand, und spülte sie ab.




    Joanna hielt die Schüssel in der einen Hand und rührte den Teig kräftig mit der anderen, während sie unruhig von Ecke zu Ecke schritt. "Eigentlich könnte auch Sebastian, mein Buttler, das Frühstück vorbereiten", erklärte sie, ohne dass ich danach gefragt hätte. "Aber es ist für mich zu einem Ritual geworden, dass ich das jeden Morgen selbst erledige. Das ist nur ein kleiner Beitrag, den ich für meinen Mann und meine Kinder leiste, aber "Justice" lässt mir nicht viele Möglichkeiten, um mich intensiver um meine Familie zu kümmern. Ich werde gleich nach dem Frühstück aufbrechen. Zurzeit passieren einfach zu viele Dinge." Sie seufzte. "Ich möchte, dass du heute Nachmittag zu mir in das Hauptquartier kommst", setzte sie fort. "Dort können wir in Ruhe über alles reden." Ich nickte.




    Gemeinsam mit den Kindern frühstückten wir und dann verließ meine Schwester das Haus. Da wir bei unserer Flucht aus Sierra Simlone Stadt so gut wie nichts mitgenommen hatten, erlaubte mir Joanna, mir etwas aus ihrem Kleiderschrank rauszusuchen. Beim Anziehen bemerkte ich zwar, dass wir Zwillinge waren, deshalb aber nicht unbedingt einen identischen Körperbau hatten. Joannas Sachen zwickten hier und da, und an manchen Stellen waren sie mir einfach zu locker. Aber schließlich fand ich etwas, mit dem ich zufrieden war.




    Ein kurzer Anruf von Joanna hatte genügt, damit Klaudia und Sky sofort eine Schule in SimCity besuchen konnten. Ich war mir zunächst unsicher, ob es klug war, die Kinder während einer solchen Krise zur Schule gehen zu lassen. Aber Joanna überzeugte mich davon, dass es besser für die Kinder war, wenn der Alltag so normal wie möglich verlief. Niemand konnte sagen, wie lange der Krieg von SimCity fern bleiben würde. Und bis dahin sollten die Kinder ein normales Leben genießen dürfen.




    Ich nutzte die Zeit, um mich gründlich in meinem Geburtshaus umzusehen. Das Haus meiner Kindheit hatte sich stark verändert. Es war nun über 20 Jahre her, dass ich es zum letzten Mal betreten hatte. Und damals musste ich es im Streit mit meinen Eltern verlassen. Ich hatte mich nicht mehr hier her getraut. Für Joanna war dieses Haus hingegen immer ihr Zuhause geblieben. Im Laufe der Jahre hatte sie es ihren Bedürfnissen und ihrem Geschmack angepasst. Ich schaute die Bücherregale durch, auf der Suche nach Büchern aus meiner Kindheit. Doch ich entdeckte nichts Vertrautes. Das hier war zwar immer noch das Haus meiner Eltern, auf der anderen Seite war es das aber auch nicht mehr. Es war ein seltsames Gefühl, dass sich nicht richtig beschreiben ließ.




    Die wenigsten Veränderungen hatte das Haus von außen erfahren. Immer noch bildeten die roten Backsteinwände einen wunderbaren Kontrast zu dem gelben Putz. Auch das Gewächshaus, dass Dad immer ein Dorn im Auge gewesen war, stand noch im Garten. Sicher, es gab auch einige Veränderungen, aber wenn ich mir das Gebäude ansah, dann tauchten doch die ein oder andere Kindheitserinnerungen auf.




    Und auch wenn das Haus aufgrund der vielen Veränderungen nur bedingt Erinnerungen weckte, so taten es doch die vielen Familienbilder, die in der oberen Etage hingen. Viele der gezeigten Szenen waren mir unbekannt. Ich kannte nicht den 16 jährigen Orion, der seine kleine Nichte auf dem Arm hielt, auch nicht die vielen Zeitaufnahmen aus der Kindheit meines Neffen und meiner Nichte. Als diese war zu einer Zeit geschehen, als ich keinen Kontakt zu meiner Familie hatte. Dafür rührte mich das Bild meines Paps fast zu Tränen. Ich besaß keine Bilder von ihm, auch nicht von Dad. Paps noch einmal sehen zu können, und sei es nur auf der Leinwand, war einfach wunderbar.




    Sky und Jakób würden erst in ein paar Stunden von der Schule wiederkommen und bis zu meinem Treffen mit Joanna hatte ich auch noch etwas Zeit. Ich bat Tobias um eine Leine für Goya und machte mich anschließend auf dem Weg zum Friedhof. Die Gräber meiner Eltern waren im tadellosen Zustand. Ich hatte von Joanna auch nichts anderes erwartet. Da es wieder ein warmer Tag zu werden versprach, goss ich lediglich die Blumen und zündete eine Kerze an.




    Eine für Paps, aber auch eine für Dad. Ich hatte Dad inzwischen seine Fehler verziehen. Ich wusste nicht genau, wann es geschehen war. Vermutlich kurz nachdem ich auf der Mission, auf die Joanna mich für "Justice" geschickt hatte, fast umgekommen wäre. Ich hatte immer noch das Bild in meinem Kopf, wie ich halb Tod im Wald liege, und ein Engel mich zur Straße trägt. Und dieser Engel hatte verblüffende Ähnlichkeit mit Dad.

  • Kapitel 167: Ein wachsames Auge



    Ich verbrachte einige Stunden auf dem Friedhof. Zum ersten Mal fand ich seit Tagen wieder etwas Ruhe und innere Zufriedenheit. Da der Tag inzwischen weiter vorangeschritten war, brachte ich Goya wieder zum Haus meiner Schwester und machte mich anschließend auf den Weg, um mich mit Joanna zu treffen. Ich fand ihren Arbeitsplatz, das Gebäude der "Sky Meal", der Catering-Agentur der Fluggesellschaften in der SimNation, ohne Schwierigkeiten. Die Dame am Empfang hatte mein Kommen offenbar bereits erwartet, denn sie unterbrach ihr Telefongespräch bei meinem Anblick und schickte mich sofort hoch in die dritte Etage, wo sich das Büro meiner Schwester befand.




    Mit dem Fahrstuhl fuhr ich in das oberste Stockwerk und klopfte an Joannas Bürotür. Umgehend wurde ich von ihr hereingebeten. Joanna saß an ihrem riesigen Schreibtisch und tippte eifrig an ihrem Computer. Ein Lächeln überzog ihr Gesicht, als sie vom Bildschirm aufblickte und sah, dass ich ihrer Einladung tatsächlich gefolgt war. Offenbar war sie sich bis zum Schluss nicht sicher gewesen, ob ich bereit wäre, das Hauptquartier von "Justice", der Mafia-ähnlichen Organisation, der meiner Schwester vorstand, zu betreten. Und diese Befürchtung war durchaus berechtigt. Mein bisher einziger Kontakt mit "Justice" hätte für mich fast mit dem Tod geendet und dementsprechend hielten sich die Sympathien für die Organisation meiner Schwester in Grenzen.




    Joanna beendet die e-mail, an der sie gerade schrieb, und klappte den Bildschirm ihres Computers herunter. Sie kam auf mich zu und begrüßte mich mit einem Kuss auf die Wange. Doch bevor sie noch etwas sagen konnte, fiel ich ihr ins Wort. "Wo ist Kinga? Ich muss sie einfach sehen! Ich muss mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass meine Tochter wohlauf ist."




    "Xana, ich habe dir doch schon gestern Abend erklärt, dass es Kinga gut geht", erwiderte meine Schwester. "Ich muss sie trotzdem sehen, Jojo. Wir haben uns nie ausgesprochen. Ich habe Kinga einfach fortgeschickt. Wir hatten nie die Chance das Geschehen richtig aufzuarbeiten. Ich konnte Kinga nie richtig erklären, warum ich ihr nie erzählt habe, dass Albert und nicht Dominik ihr Vater ist. Und ich konnte ihr nicht erklären, warum ich sie von Zuhause wegschicken und in deine Obhut geben musste. Und jetzt ist da dieser Krieg. Ich habe Angst, dass...dass ich nicht mehr die Gelegenheit haben könnte, sie um Verzeihung zu bitten. Ich habe mich bereits von Dad und Paps im Streit getrennt. Und wir beide wissen, dass ich nicht mehr die Möglichkeit hatte, mich mit ihnen auszusöhnen. Mit Kinga soll mir das nicht auch passieren." Joanna streichelte mir behutsam den Rücken. Genau in diesem Moment wurde die Tür geöffnet und die junge Frau vom Empfang betrat mit einer Kanne Kaffee in der Hand das Büro.




    Sie stellte die Kanne auf einen niedrigen Tisch in einer Ecke des Büros ab und goss zwei Tassen ein. Dann verließ sie wortlos wieder den Raum. Joanna ging auf die dampfenden Tassen zu, nahm sie in die Hand und reichte mir anschließend eine davon. Dann forderte sie mich auf, mich auf die Couch am Fenster zu setzen. "Du wirst noch jede Menge Gelegenheiten haben, dich bei Kinga für alles zu Entschuldigen", setzte sie unser Gespräch fort. "Aber es wäre ein Fehler, wenn du sie jetzt sehen würdest, Xana. Kinga ist noch nicht bereit dafür."




    Ich blickte Joanna verständnislos an. Meine Schwester fuhr sich unsicher mit den Fingern durch die Haare und biss sich auf die Unterlippe. Sie überlegte genau, was sie mir nun sagen sollte. "Du hast mich vor zwei Jahren gebeten, mich um Kinga zu kümmern, damit sie wieder ein geregeltes Leben führen kann. Und ich habe dir versprochen, dass ich das für dich tun werde...allerdings auf meine Art. Kinga hat riesige Fortschritte gemacht. Du würdest sie kaum wiedererkennen. Von dem unreifen Mädchen, das du in meine Obhut gegeben hast, ist nicht mehr viel übrig." Es war das erste Mal, dass Joanna und ich so offen über Kinga sprachen. Und mein Herz machte einen Freudensprung als ich hörte, wie gut Kinga sich in den letzten Jahren entwickelt hatte.




    Doch Joanna trübte meine Freude augenblicklich wieder. "Aber Kingas Hass auf dich ist immer noch unverändert stark, Xana. Es tut leid, aber ich fürchte, deine Tochter würde dich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sehen wollen. All die Briefe, die du ihr in den letzten Jahren geschrieben hast, hat sie ungeöffnet zerrissen. Sie ist nicht bereit, dir zu verzeihen. Möglicherweise wird sie irgendwann dazu in der Lage sein, aber bis dahin ist es noch ein langer Weg. Wenn ich dir aber jetzt erlauben würde, Kinga zu sehen, dann befürchte ich, dass all die Narben, die bei ihr langsam angefangen haben zu verheilen, wieder aufbrechen könnten. Die zwei Jahre Arbeit, die ich in Kinga investiert habe, um sie zu einer vernunftbewussten Frau zu erziehen, wären dann umsonst gewesen. Und das möchtest du doch auch nicht, nicht wahr? Ich werde dir daher nicht erlauben, sie zu sehen. Noch nicht."




    Das war zu viel für mich. Die Tränen schossen mir wieder einmal in die Augen und ich stand hastig vom Sofa auf. Ich hielt die Kaffeetasse fest umklammert und blickte durch das große Fenster hinaus auf die Dächer von SimCity. Doch ich nahm die Stadt gar nicht wahr. Meine Gedanken waren nur bei Kinga. Wie konnte ich es so weit kommen lassen, dass meine eigene Tochter mich so sehr hasste? Wieso konnte ich es nicht verhindern? "Kinga ist weit entfernt von jedem Kampfgeschehen", setzte Joanna ruhig fort. "Sie ahnt noch nicht einmal, dass die SimNation sich in einem Krieg befindet. Dein Besuch würde ihr Leben, das so langsam wieder geordnete Bahnen annimmt, nur durcheinanderwirbeln. Du musst mir einfach vertrauen, dass ich mich gut um deine Tochter kümmere."




    "Ich vertraue dir doch, Jojo", versichert ich meiner Schwester. "Sonst hätte ich die Zukunft meiner Tochter nie in deine Hände übergeben. Ich weiß, dass du nur das Beste für sie willst." Joanna kam auf mich zu und nahm mich fest in den Arm. Es tat so gut, von ihr getröstet zu werden. Sie gab mir den Halt, den ich mir in der jetzigen Situation so sehr von Dominik gewünscht hätte. Aber er war hunderte von Kilometern weit entfernt und ich konnte nur dafür beten, dass er immer noch am Leben war.




    Die nächste Welle der Verzweiflung überrollte mich. Joanna spürte das sofort. "Du denkst an Dominik, nicht wahr?", fragte sie und ich nickte, während eine einzelne Träne meine Wange herunterlief. "Du weißt nicht, ob es ihm auch gut geht?", fragte ich meine Schwester verzweifelt. Joanna schüttelte mit dem Kopf. "Nein, ich weiß nicht mehr über Dominiks Verbleiben, als du." Meine Schultern sackten zusammen und der kleine Hoffnungsschimmer, der soeben in mir entflammt war, erlosch augenblicklich. Wenn nicht einmal Joanna etwas über Dominiks Verbleib wusste, dann war jede Hoffnung vergebens. Doch Joanna hört nicht auf zu sprechen. "Ich habe keine weitern Informationen über Dominik, aber heute Morgen ist jemand aufgetaucht, der mehr weiß."




    Meine Schwester fasst mich an den Schultern und drehte mich um 180 °, so dass ich über ihren Schreibtisch hinweg in die andere Ecke des Büros schauen konnte. Ich drehte meinen Kopf nach hinten und blickte Joanna verständnislos an. Doch mit einem Kopfnicken gab sie mir zu verstehen, dass ich in die von ihr angedeutete Richtung schauen sollte. Und da erst bemerkte ich die Gestalt, die nun langsam aus dem Schatten hervortrat. Ich erkannte den Mann sofort, auch wenn er anders aussah, als ich ihn in Erinnerung hatte. Dennoch dauert es einige Sekunden, bis mein Gehirn das Gesehen verarbeiten konnte. Meine Knie wurden weich und ich sackte zu Boden.




    "Dad." Meine Stimme war zuerst nicht mehr als ein Flüstern, doch dann begann ich regelrecht zu schreien. "Dad, Dad, Dad! Dad, du bist es!" Ich rappelte mich so schnell es ging auf und lief auf meinen Vater zu, der in der Ecke des Büros meiner Schwester stand. Ich sprang ihm einfach in die Arme, so als ob ich nicht bereits 44, sondern gerade einmal 16 wäre. Und Dad fing mich mit Leichtigkeit auf. Trotz seiner bereits deutlich über 60 Jahre spürte ich die Kraft in seinem Körper. "Meine, Oxana", sagte er und drückte mich fest an sich. "So wild wie eh und je."




    Dad setzte mich wieder ab und ich konnte meinen Blick gar nicht von ihm wenden. Er war älter geworden. Die Haare waren nicht mehr leuchten rot, sondern inzwischen grau und unzählige Falten waren in seinem Gesicht erschienen. Aber er war es ganz sicher. Seine Augen waren immer noch so kornblumenblau und strahlend, wie ich sie aus meiner Kindheit kannte. Und auch er betrachtet mich ganz aufmerksam. Ich versuchte zu ergründen, was ich für diesen Mann empfand, denn ich nun seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hatte und der mir so viel Leid und Schmerzen zugefügt hat. Doch da war keine Spur von Hass mehr. Ich war einfach nur wahnsinnig froh, meinen Vater, den ich nie um Verzeihung bitten konnte und den ich schon seit Jahren für Tod hielt, wiederzusehen.




    "Wo warst du all die Zeit?", war das erste, was ich ihn fragte. Ich wunderte mich nicht darüber, dass Dad noch lebte. Ich hatte immer geahnt, dass er es war, der mich damals vor Joannas Ex-Lover Giovanni gerettet hatte. Aber ich wollte zu gerne wissen, warum er all die Jahre vorgegeben hatte, tot zu sein. Dad antwortet mir nicht sofort. Stattdessen ging er hinüber zu dem Regal, in dem Joanna ihren Alkohol aufbewahrte, und zog eine Flasche Whiskey heraus. "Diese Frage wird dir deine Schwester sicherlich bei Gelegenheit gerne beantworte", erwiderte er schließlich, nachdem er ein Glas mit der bräunlichen Flüssigkeit gefüllt hatte und genüsslich einen Schluck davon nahm. "Heute aber bin ich hier, um dir etwas über den Verbleib von Dominik zu erzählen."




    "Dominik? Du weiß wo mein Mann ist? Geht es ihm gut? Du musst mir alles darüber erzählen, Dad", stürmte ich auf meinen Vater ein. Joanna kam auf mich zu und legte ihre Hand auf meinen Rücken um mich etwas zu beruhigen, aber ihrem Blick konnte ich entnehmen, dass sie genau so neugierig darauf war zu erfahren, was mit Dominik geschehen war, wie ich. Dad setzte das Whiskyglas an seinen Lippen an und leerte es in einem Zug. "Sehr guter Tropfen, Kleines", lobte er Joanna und stellte das Glas ab. "Nun denn", wandte er sich wieder uns zu, "dann setzt euch mal hin, die Geschichte ist etwas länger."




    "Du darfst nicht glauben, dass deine Schwester nicht ein wachsames Auge auf deinen Mann gehabt hätte, Oxana. Und zwar war das mein Auge. Ich habe in den letzten zwei Jahren immer mal wieder in Simnistrien nach dem Rechten gesehen und überprüft, ob die Lage dort ruhig blieb. In den letzten Wochen begann es sichtlich zu brodeln, also habe ich ein Lager in der Nähe der Bohrtürme aufgeschlagen, für deren Sicherheit Dominik zuständig war, um ihn besser im Auge behalten zu können."




    "Doch wochenlang geschah nichts. Die simnistrische Regierung machte es den simnationalen Ölfirmen zwar nicht gerade leicht, ihrer Arbeit nachzugehen, aber bis auf verstärkte Kontrollen der Transporter und des Personals geschah nichts weiter. Dominik ging seiner Arbeit nach, die aber im Wesentlichen darin bestand, Diebe vom Gelände der Ölfirmen fern zu halten, die sich immer wieder im Dschungel rumtrieben und hofften, etwas von dem Öl mitgehen lassen zu können."




    "Die Nacht vor drei Wochen war eigentlich wie jede andere zuvor auf. Etwa gegen Mitternacht wurde der Schichtwechsel vollzogen. Dominik hatte die letzten vier Stunden vor den Toren des Geländes Wache gehalten und wurde jetzt von einem seiner Kollegen aus dem Sicherheitsteam abgelöst. Ich bin mir sicher, dass er sich auf ein paar Stunden Schlaf nach einem anstrengenden Tag freute."




    "Doch der wurde ihm an diesem Tag verwehrt. Kaum dass dein Mann die Tore hinter sich geschlossen hatte, sprang eine Gruppe bewaffneter simnistrischer Soldaten aus dem Unterholz und stürmte auf das Gelände der Ölgesellschaft zu. Geblendet von dem hellen Licht der Laternen, die zu beiden Seiten des Tores hingen, erkannte der Sicherheitsmann am Tor die Gefahr erst, als es für ihn bereits zu spät war."




    "Und er wird auch keine Gelegenheit mehr bekommen, diesem Fehler wieder gut zu machen. Ohne ein Wort der Warnung eröffneten die Simnistrier das Feuer und der überraschte Mann fiel tot zu Boden, noch ehe er begriffen hatte, was da genau vor sich ging."




    "Dominik hingegen zögerte nicht einen Augenblick. Er brauchte nicht erst die Leiche seines jungen Kollegen zu sehen, um zu begreifen, dass alle Mitarbeiter der Ölgesellschaft in großer Gefahr waren. Er hängte sich das Gewehr über die Schulter und stieg hastig die Leiter zu einem der Wachtürme hinauf. Er sah die simnistrischen Soldaten mit ihren Pistolen in den Händen und handelte augenblicklich. Zwei Schüsse erklangen und zwei der simnistrischen Angreifer gingen zu Boden. Die anderen Soldaten erkannten die Gefahr und suchten Deckung hinter dicken Baumstämmen, während Dominik selbst hinter der niedrigen Betonmauer Schutz suchte."




    "Dominiks Ganze Aufmerksamkeit galt den Soldaten vor dem Tor, die sich verschanzten und immer wieder Schüsse auf ihn abgaben, denen er zum Teil nur knapp entgehen konnte. Aber immerhin hielt er sie in Schacht. Dominik war eindeutig in der besseren Position und hätte diesen Angriffstrupp sogar zum Rückzug zwingen können. Doch einem der Simnistrier war es gelungen, unbemerkt über die Mauer zu klettern und nun schlich er sich heimtückisch an deinen Mann heran, der die Gefahr in seinem Rücken nicht bemerkte."




    "Du warst nah dran, Witwe zu werden, Tochter. Doch zu Dominiks Glück war ich nicht nur in Simnistrien um ihn zu beobachten, sondern auch um ihn zu schützen. Ich hatte genau beobachtet, wie der Soldat über das Tor geklettert war. Auch ich hatte meine Wege, hinter die Mauern des Ölbohrturmgeländes zu kommen. Der Soldat hat wohl nicht mit weiteren Sicherheitskräften gerechnet, denn dann wäre er nicht ohne Deckung einfach die Leiter hinaufgeklettert. So stellte er ein leichtes Ziel für mich dar und ich konnte Dominik das Leben retten."




    "Doch in Sicherheit war er deswegen nicht. Der kurze Moment der Ablenkung genügte und die restlichen Soldaten, die im Dschungel Deckung gesucht hatten, stürmten auf das Tor zu. Dominik hatte keine Chance mehr sie aufzuhalten. Und mit Schrecken stellte er fest, dass die Simnistrier keine Gnade zeigten. Sie schossen wahllos auf jeden, der sich auf dem Gelände befand. Die Bohrturmarbeiter, die durch die Schüsse aus ihrem Schlaf gerissen wurden und aus den Schlafsälen lugten, um zu sehen, was es mit dem Lärm auf sich hatte, wurden kaltblütig niedergeschossen. Dominik erkannte, dass er hier niemandem mehr helfen konnte, zumal weitere Soldaten aus dem Dschungel stürmten. Er tat das einzig Richtige und sprang die vier Meter vom Wachturm. Und dann rannte er in den Dschungel, so schnell und so weit wie er konnte."

  • Kapitel 168: Atempause




    Es war schockierend zu erfahren, was Dominik widerfahren war. "Und was ist dann geschehen?", fragte ich erschrocken. Mein ganzes Gesicht war tränenverschmiert. Ich konnte nicht einmal sagen, ob es Tränen der Angst oder Tränen der Erleichterung waren. Doch Dad schüttelte lediglich den Kopf. "Ich weiß es nicht, Töchterchen. Ich hatte selbst genug damit zu tun, mich vor den simnistrischen Soldaten zu verstecken. Als es auf dem Gelände der Ölgesellschaft wieder ruhig wurde, versuchte ich Dominik zu folgen. Doch seine Spuren verloren sich schnell im Dschungel."




    "Aber Dominik hat über zwei Jahre in Simnistrien verbracht. Er kennt den Dschungel und seine Gefahren. Wenn er es geschafft hat, den simnistrischen Patrouillen aus dem Weg zu gehen, dann stehen die Chancen ganz gut, dass er noch am Leben ist. Und deine Schwester", Dad deutete auf Joanna, "setzt all ihre Mittel ein um Dominik aufzuspüren. Wenn er noch am Leben ist, dann werden wir ihn finden und sicher nach Hause bringen."




    Ich erhob mich von meinem Sessel und schritt langsam auf das Fenster zu. In meinem Kopf schwirrten so viele Gedanken umher. Dominik war dem simnistrischen Überfall entkommen, aber bedeutete dies auch, dass er noch immer am Leben war? Ich klammerte mich mit einer Hand an den Fensterrahmen, da ich merkte, dass meine Knie erneut drohten nachzugeben. Dominik musste noch am Leben sein. Ein Leben ohne ihn, konnte ich mir einfach nicht vorstellen.




    Doch trotz all meiner Sorge um Dominik, konnte ich die Freude darüber, Dad wiederzusehen, nicht verbergen. Es gab so viele Dinge, die ich in Fragen wollte. Und ich musste ihn endlich um Verzeihung bitten. Doch als ich mich umdrehte, war sein Stuhl leer. Ich blickte mich hastig in dem Raum um, doch von Dad war keine Spur zu sehen. "Er ist verschwunden", erklärte Joanna mit einem traurigen Lächeln. "Daran wirst du dich gewöhnen müssen. Er taucht immer wieder aus dem Nichts auf und in der nächsten Minute ist er wieder verschwunden."







    Meine Nerven lagen einfach nur blank. Trotz der weiterhin sehr angespannten politischen Situation, nahm sich Joanna die Zeit, mich zurück in die Simlane zu begleiten. Der Whirpool im Garten war ein idealer Ort, um wieder zur Ruhe zu kommen.




    Joanna und ich mussten beide loslachen als wir feststellten, dass wir genau denselben Badeanzug trugen. Hin und wieder merkte man doch, dass wir Zwillinge waren. Das warme Wasser im Pool lockerte nicht nur meine verspannten Muskeln, sondern auch mein Geist fühlte sich auf einmal leichter an. Ich plantschte mit meinem Händen auf der Wasseroberfläche herum und ehe ich es mich versah, befanden sich Joanna und ich schon mitten in einer Wasserschlacht.




    Doch dieser Moment der Ausgelassenheit wehrte viel zu kurz. Schnell kehrte der Ernst des Alltags wieder bei uns ein. Joanna begann mir von Dad zu erzählen. "Etwa fünf Jahre nach seinem vermeidlichen Tod stand er plötzlich vor meiner Tür. Ich konnte es im ersten Moment kaum glauben. Als Dad damals mit der Jacht in den Sturm hinaus gesegelt war, hatte er wirklich vor, sein Leben zu beenden. Doch wie durch ein Wunder überlebte er den Schiffsuntergang. Doch als er merkte, dass ihn alle für tot hielten, entschloss er, dass es das Beste sei, uns in diesem Glauben zu lassen. Er muss erkannt haben, wie viel Leid er in all den Jahren seiner Familie, und dir im Besonderen, durch sein rücksichtsloses Verhalten zugefügt hat."




    "Doch er blieb nicht lange. Ich hatte es damals kaum geschafft, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er nicht tot war, als er auch schon wieder ohne Nachricht verschwand. Es dauerte über ein Jahr, bis ich wieder von ihm hörte. Seitdem arbeitet er von Zeit zu Zeit für mich. Meist bringt er mir von sich aus nützliche Informationen und manchmal, so wie in Dominiks Fall, schicke ich ihn auf eine bestimmt Mission. Allerdings ist Dad nicht immer der Zuverlässigste. Es kann schon mal passieren, dass er einen meiner Aufträge einfach unerledigt abbricht. Trotzdem bin ich überglücklich, dass er wieder bei uns ist."




    Leider musste Joanna wieder zurück ins "Justice"-Hauptquartier. Ich hätte mich zu gerne noch länger mit meiner Schwester über Dad unterhalten. Wir hatten vieles, was bei meinem Weggang vor über 20 Jahren geschehen war, noch immer nicht richtig besprochen. Im Whirlpool wurde es mir langsam zu warm und ich legte mich auf die Luftmatratze im Pool und genoss die Sonnenstrahlen, die hier in SimCity nicht so erbarmungslos auf einen niederbrannten, wie in der Sierra Simlone. Dad hatte Joanna gebeten, mir nichts von seiner Rückkehr zu erzählen. Und ich verstand seine Bitte sogar. Vor wenigen Jahren wäre ich noch nicht bereit gewesen, ihm seien Taten zu verzeihen. Ich war ihm dankbar, dass er mich zu nichts gedrängt hatte.







    Meine Kinder begannen sich in SimCity richtig wohl zu fühlen. Magdalena nahm Klaudia problemlos in ihren Freundeskreis auf. Klaudia blühte regelrecht auf. Zuhause in der Sierra Simlone hatte sie nie viele Freunde gehabt. Sie dachte bis jetzt auch, dass sie das gar nicht brauchen würde, doch sie wurde eines Besseren belehrt. Erst jetzt merkte sie, wie viel Spaß es machen konnte, nach der Schule einfach mit ein paar Freundinnen wild im Kinderzimmer zu tanzen und Neuigkeiten über diverse Popstars auszutauschen.




    Sky und Jakób verstanden sich ebenfalls super. Obwohl Sky fast zwei Jahre jünger war, war er für Jakób ein willkommener Spielkamerad. Nach der Schule konnten sie zusammen an der Konsole zocken.




    Und Ball spielen machte mit einem Jungen auch viel mehr Spaß als mit seiner doofen Schwester. Die konnte ja eh nicht fangen.




    Klaudia fand in Ann-Lee, der Tochter meiner Pateneltern Frankie und Sylvia Mashuga, innerhalb kürzester Zeit eine wirklich gute Freundin. Mit ihr konnte sie lachen und einfach vergessen, was in der Sierra Simlone alles vorgefallen war. Die beiden Mädchen lagen einfach auf einer Wellenlänge.




    Aber ihrer Cousine Magda konnte sie sich voll und ganz anvertrauen. Der Raketenangriff auf unsere Stadt und die anschließende Flucht hatten sie wirklich sehr mitgenommen. Aber das schlimmste Ereignis war das Eindringen der Soldaten in unser Haus. Obwohl sie körperlich nicht verletzt wurde, saß der Schreck darüber, dass sie möglicherweise zum Sex gezwungen worden wäre, immer noch sehr tief. Ich hatte schon mehr als einmal mit ihr ausführlich über das Geschehene gesprochen, aber es fiel Klaudia sehr viel einfacher, ihre Gefühle einer Gleichaltrigen anzuvertrauen.

  • Kapitel 169: Spiel mit dem Feuer




    Desdemona fiel es sichtlich schwer, sich in SimCity einzuleben. Sie war zwar die Frau meines Bruders und gehört somit zur Familie, aber sie fühlte sich dennoch fremd. Mich und die Kinder kannte sie gut, aber meine Zwillingsschwester war ihr nahezu eine Unbekannte. Zudem vermisste sie ihre eigne Familie. Ihre Mutter Gerda, ihre Geschwister, ihren Mann...sie alle waren noch in der Sierra Simlone und niemand konnte genau sagen, ob es ihnen gut ging, oder nicht.




    Im Haus meiner Schwester fiel ihr daher schnell die Decke auf dem Kopf. Also entschloss sie sich dazu, die Stadt ein wenig zu erkunden. Bis auf wenige Besuche in SimVegas hatte Desdemona die Sierra Simlone noch nicht verlassen. Die schiere Größe von SimCity, all die Hochhäuser, Autos und Menschen überwältigten sie. Und selbst einfache Schausteller auf den Plätzen der Stadt brachten sie zum Staunen.




    Und dann entdeckte sie das Kunstmuseum der Stadt. Im Vergleich zu den Museen in Simtropolis oder Santa Regina war die Ausstellung in SimCity klein, aber sie raubte Desdemona dennoch den Atem. Zu Beginn ihres Studiums hatte Desdemona mit dem Gedanken gespielt, Kunst zu studieren und einige Vorlesungen und Seminare zu dem Thema besucht. Doch ihre Schwester Miranda riet ihr, doch lieber etwas "Richtiges" zu studieren, und so hatte sie sich letztendlich für ein Lehramtsstudium in Sport entschieden. Doch wirklich glücklich war sie mit dieser Entscheidung nie geworden. Und jetzt, wo sie all diese wundervollem Kunstwerke im Museum sah, bereute sie ihre Entscheidung umso mehr.




    Besonders die moderneren Kunstwerke hatten es ihr angetan. Impressionismus, Expressionismus, Surrealismus. Sie konnte gar nicht genug bekommen. Der Besuch im Museum wurde zu einem täglichen Ritual. Und immer wieder schaute sie sich ihre Lieblingsbilder an und entdeckte jeden Tag etwas Neues an ihnen. Hier ein Detail, das ihr bislang entgangen war, dort eine Pinselführung, die das Bild einzigartig machte.




    "Wunderschön, nicht wahr?", riss eine warme Männerstimme Desdemona aus ihren Gedanken. "Die Edelsteine von Alfons Mucha: Topas, Amethyst, Rubin und Smaragd. Ich muss jedes Mal aufs Neue staunen, wenn ich die Gemälde hier sehe." Desdemona drehte ihren Kopf nach hinten und blickte einem jungen, blonden Mann ins Gesicht, der sie freundlich anlächelte.




    "Verzeihen Sie, wenn ich Sie gestört haben sollte", entschuldigte er sich sogleich bei Desdemona. "Ich besuche das Kunstmuseum nun schon seit Jahren regelmäßig und da fallen mir neue Gesichter schnell auf. Und Ihr wunderschönes Gesicht habe ich nun seit fast einer Woche Tag ein Tag aus hier gesehen. Sie betrachten die Bilder mit einer solchen Sorgfalt, die man sonst nur selten zu sehen bekommt. Darf ich fragen, ob Sie an der Universität hier in SimCity Kunst studieren?"




    Desdemonas Wangen röteten sich, als sie das Kompliment des Fremden empfing. "Nein", schüttelte sie ihr blondes Haar und wickelte eine ihrer goldenen Locken schüchtern um ihren Finger. "Ich habe vor vielen Jahren einmal damit angefangen, das Studium dann aber abgebrochen. Ich komme einfach gerne hierher um diese schönen Werke zu bewundern und die Atmosphäre dieser alten Hallen zu genießen." "Genau dafür werden Museen gebaut", erwiderte der Fremde. "Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Clemens." "Der Sanfte", hauchte Desdemona, ohne weiter darüber nachzudenken. "Ich bin Desdemona." "Die vom Schicksal verfolgte. Ich hoffe doch, dass Schicksal hat es bisher gut mit Ihnen gemeint. Darf ich sie zu einem Kaffee einladen?"




    Dagegen hatte Desdemona nicht das Geringste einzuwenden. Im unteren Stockwerk des Museum befand sich ein kleines, gemütliches Café, in das Clemens Desdemona einlud. Die beiden tranken ihren Kaffee und unterhielten sich dabei. Zunächst ging es nur um die Kunst, um weitere Werke von Alfons Mucha, um die Kunstsammlung des Museums im Allgemeinen. Doch dann wurden ihre Gespräche immer privater. Und Desdemona kam es so vor, als ob es nicht wichtig war, was Clemens sagte, solange er nur zu ihr sprach.




    Von da an besuchte Desdemona das Museum nicht mehr alleine. Sie traf sich jeden Morgen mit Clemens am Eingang. Und zusammen gingen sie durch die Kunstaustellung und Clemens erläuterte ihr die Bilder. Wie sich herausstellte, war er Dozent an der Kunsthochschule in SimCity und Desdemona war einfach nur beeindruckt von seinem Wissen zu all den wundervollen Kunstwerken.




    Doch das war nicht der einzige Grund, warum sie jeden Morgen mit klopfendem Herzen aufwachte und zum Museum lief. Clemens war nett, charmant, gutaussehend...und er war da. Er war hier bei ihr in SimCity und nicht tausende Kilometer weit entfernt in der Sierra Simlone. Desdemona wusste, dass sie mit dem Feuer spielte und doch konnte sie sich dieser Flamme nicht entziehen. Und so war es nur eine Frage der Zeit, bis Clemens und sie unter dem sterneklaren Himmel im Park des Museums standen und ihre Lippen sich immer näher kamen.




    Doch im letzten Augenblick riss sie den Kopf zur Seite. "Es tut mir leid, Clemens, ich kann nicht", flüsterte sie mit zittriger Stimme, löste sich aus seiner Umarmung und rannte davon. Clemens sah ihr verdutzt hinterher. Hatte er etwas falsch gemacht? Er konnte sich diese starke Anziehung zwischen Desdemona und ihm nicht eingebildet haben. Aber warum war Desdemona dann davongelaufen? Er konnte dies einfach nicht begreifen.







    Die relativ ruhigen Tage in SimCity gaben uns allen die Gelegenheit durchzuatmen. Allerdings verfinsterte sich die Stimmung von Tag zu Tag. Die erhoffte Hilfe seitens Russlands blieb aus. Somit war die SimNation weiterhin auf sich alleine gestellt und der Krieg drohte zu einer totalen Niederlage zu werden. Der Nachrichtenkanal lief ununterbrochen und mehrmals am Tag erschien eine Zeitungsausgabe mit den neusten Kriegsmeldungen. "Mindestens 15 Menschen sind bei den Bombenangriffen auf Simtropolis ums Leben gekommen", fasste Joanna die wichtigsten Meldungen zusammen. "Und in SimVegas ist ein weiteres Casinohochhaus zusammengestürzt. Es ist nun das dritte seit dem Angriff auf die Stadt vor vier Tagen. Sie bekommen die Brände einfach nicht unter Kontrolle."




    "Und die Angriffe auf die Hauptstadt nehmen zu. Bis jetzt sind zwar noch keine Flugzeuge in den Luftraum um Santa Regina eingedrungen, aber zwei der Flugabwehrstellungen wurden durch Raketenangriffe stark in Mitleidenschaft gezogen. Der Verteidigungsminister wird daher die Jagdgeschwader aus den Provinzen Simster und Simskelad in die die Simtierra abberufen. Es muss in jedem Fall verhindert werden, das Bomben in der Hauptstadt fallen." Joanna bemühte sich sachlich zu bleiben, doch ich bemerkte den zornigen Unterton in ihrer Stimme. Und dieser Zorn galt in diesem Fall unserem Verteidigungsminister. Würden die Jagdgeschwader aus Simster abgezogen, würde die Region um SimCity ohne Luftverteidigung dastehen.




    Sofort schossen mir wieder die Bilder des Angriffes auf Sierra Simlone Stadt durch den Kopf. Ich würde es nicht ertragen, auch noch SimCity brennen zu sehen. Joanna stand auf und knallte die Zeitung auf den Couchtisch. Dabei zerzauste sie wütend ihr Haar. "Ich muss noch mal rüber ins Hauptquartier", teilte sie mir mit, schnappte sich ihre Handtasche und machte sich auf dem Weg zu ihrem Wagen. Um mich ein wenig von meinen trüben Gedanken abzulenken, ging ich hinaus in den Garten. Die Arbeit auf der Plantage und auf den Feldern fehlte mir hier in SimCity. Doch die Arbeit in dem kleinen Garten, den Paps vor Jahren angelegt hatte, entspannte mich etwas.




    Als ich einen neuen Sack mit Dünger hochhob, fiel mein Blick auf Desdemona, die regungslos am Ufer des Kanals stand, der hinter meinem Elternhaus entlang floss. Sie starrte regungslos auf das Wasser und ihre Körperhaltung verriet mir, dass sie etwas bedrückte. In den letzten Tagen war sie immer recht glücklich gewesen, doch in diesem Augenblick erlebte ich sie so traurig, wie seit unserer Flucht aus der Sierra Simlone nicht mehr.




    Ich stellte den schweren Sack wieder ab, klopfte mir den Dreck von den Händen uns ging zu meiner Schwägerin hinüber. "Alles in Ordnung, Mona?", fragte ich sie. Desdemona hatte mich offenbar nicht kommen gehört, denn sie drehte sich erschrocken um. Ihre Augen glitzerten feucht. Sie hatte gerade erst geweint oder stand kurz davor es zu tun. Sie schluckte laut und wollte etwas sagen, doch die Worte wollten ihre Lippen einfach nicht verlassen. "Ist es, weil du Orion vermisst", riet ich ins Blaue hinein.




    Und dann begannen ihre Tränen zu fließen. "Es ist in Ordnung, wenn du ihn vermisst", redete ich weiter, weil ich mir sicher war, dass ich den Grund für Desdemonas Traurigkeit gefunden hatte. "Ich vermisse Orion auch. Und noch viel mehr vermisse ich Dominik. Ich weiß wie furchtbar es ist, wenn man nicht bei dem Menschen sein kann, den man liebt und nicht weiß, ob es ihm gut geht." "Aber das ist es ja", flüsterte Desdemona mit tränengetränkter Stimme. "Ich vermisse Orion nicht so sehr, wie ich es sollte. Stattdessen muss ich nur an einen anderen Mann denken. An Clemens."




    Nun verschlug es mir die Sprache. Mit so einer Offenbarung hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte es nicht beabsichtigt, aber mein schockierter Blick war wohl Anklage genug. Desdemona schaute schuldbewusst zu Boden und schluchzte leise. "Ich…du", begann ich zu stottern. "Ich muss erst einmal verarbeiten, was du mir da gerade gesagt hast, Mona", brachte ich schließlich einen vollständigen Satz zustande. "Orion ist mein kleiner Bruder und daher will ich ihn um jeden Preis schützen. Ich könnte daher jetzt etwas sagen, was ich später bereuen würde. Lass mir etwas Zeit zum Nachdenken. Und behalte es erst einmal für dich, in Ordnung?" Desdemona nickte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte.




    Anschließend lief sie leise schluchzend ins Haus. Ich spazierte hingegen im Garten umher und setzte mich schließlich auf die Steinbank. Mit meinem Fuß rollte ich einen Stein hin und her und dachte darüber nach, was Desdemona mir anvertraut hatte. Es gab also einen anderen Mann, der für sie, zumindest im Augenblick, wichtiger war, als ihr Ehemann. Als Schwester wollte ich natürlich, dass sie meinen Bruder, und nur meinen Bruder, liebte. Aber als Frau wusste ich nur zu gut, dass das Herz oft seltsame Wege ging. Nein, ich durfte Desdemona nicht verurteilen, dass sie sich hier und jetzt nach Liebe sehnte. Aber ich durfte auch nicht zulassen, dass sie ihre Ehe leichtfertig aufs Spiel setzte.

  • Kapitel 170: Eingeholt




    Mannchmal war es wert, um seine Ehe zu kämpfen. Wie zum Beweis dafür hüpfte Sky hinter der Ecke des Hauses hervor und lief, mit einem Freund im Schlepptau, auf mich zu. "Schlag ein, Mami", rief er mir fröhlich lachend zu. Ich hob meine Hand und wir ließen unsere Hände zusammenklatschen. "Die neue Schule hier ist voll toll", schwärmte er. "Ich hab heute ein Bild von Oma Glinda gemalt und ein Sternchen dafür bekommen."




    Sky strahlte über das ganze Gesicht und ich erkannte nicht zum ersten man seinen Vater darin wieder. Meine Ehe mit Dominik war nicht glücklich gestartet. Wir hatten viele Tiefen durchlebt und meine mangelnde Liebe für Skys Vater gehörte sicherlich zu den tiefsten. Es dauerte zwar lange, doch schlussendlich erkannte ich, dass ich nur Dominik liebte und für immer bei ihm sein wollte. Und vielleicht würde es meiner Schwägerin Desdemona ähnlich ergehen. Sie durfte nur keine übereilten Entscheidungen treffen.




    Ich konnte kaum so schnell gucken, da lief Sky auch schon wieder davon, gefolgt von dem Jungen mit dunklem Lockenkopf. "Ach übrigens", drehte mein kleiner Sohn sich noch einmal um und rief mir zu, "der Direktor von unserer neuen Schule ist hier und will dich mal sprechen, Mami. Er wartet vor dem Haus." Der Direktor war hier? Mit den Fingerspitzen zupfte ich meine Frisur zurecht und ging zum Eingang des Hauses. Dort wartete in der Tat ein Mann, etwa in meinem Alter, auf mich, der sich als Direktor Wladimir Walter vorstellte.




    Ich lud Direktor Walter zu einem Kaffee ins Haus ein und wir unterhielten uns über Sky und Klaudia. Er gab offen zu, dass er die beiden zunächst nur an seiner Schule aufgenommen hatte, weil meine Schwester über einigen Einfluss verfügte. Ich fragte mich, ob er etwas von ihren kriminellen Machenschaften wusste, oder ob er nur ihren Ruf als reiche Bürgerin dieser Stadt meinte. Nachdem der Direktor gegangen war, setzte ich mich mit Klaudia zusammen an den Schachtisch. "Der Direktor ist sehr angetan von dir und deinem Bruder", erzählte ich ihr während des Spiels. "Ihr habt euch offenbar vorbildlich in die neue Schule integriert." Ich konnte sehen, wie Klaudias Brust vor Stolz anschwoll. Sie war bisher nie wirklich gut in der Schule gewesen. Nicht schlecht, aber auch nicht überragend. Lob vom Direktor zu erhalten, war daher etwas ganz Neues.




    "Der Direktor hat erlaubt, dass ihr auf unbefristete Zeit die Schule besuchen dürft", fuhr ich fort. "Ich weiß nicht, wie lange wir noch in SimCity bleiben werden, aber immerhin muss ich mir jetzt keine Sorgen mehr um eure Schulbildung machen." Klaudia lächelte zufrieden und setzte einen ihrer Bauern ein Feld nach vorne. Ich konnte genau sehen, dass auch sie froh war, dass es in diesen hektischen Zeiten wenigstens etwas Stabilität in ihrem Leben gab.






    Klaudia gewann unser Spiel. Inzwischen war es schon späte geworden und Zeit für die Kinder ins Bett zu gehen. Ich gab Klaudia und Sky einen Gutenachtkuss und machte mich dann selbst fürs Bett fertig. Ich wusste, dass ich im Schlafzimmer Desdemona begegnen würde, also ließ ich mir viel Zeit. Als ich das Zimmer betrat, hockte meine Schwägerin zusammengekauert auf dem Bett. Sie wagte es nicht, mir direkt in die Augen zu sehen, aber ich konnte sehen, dass sie gerade eben erste geweint haben musste. Die Tränen auf ihren Wangen waren noch nicht ganz getrocknet.




    Ich setzte mich zu Desdemona auf die Bettkante und klopfte mit meiner Handfläche auf die leere Stelle neben mir, um zu signalisieren, dass sie sich zu mir setzen sollte. Desdemona kämmte mit ihren Fingern ihre Haare zurück und kam an meine Seite. "Ich muss gestehen, dass du mir heute Morgen die Sprache verschlagen hattest. Und ich war wütend auf dich", begann ich das Gespräch. "Orion ist mein kleiner Bruder und ich kann einfach nicht mit ansehen, wie er verletzt wird. Doch dann habe ich versucht, mich in dich hinein zu versetzen. Und das war gar nicht so schwer, wie ich erst vermutet hatte."




    "Du musst wissen, auch in meinen Leben gab es einen anderen Mann. Kinga war schon lange auf der Welt und ich mit Dominik verheiratet. Ich hätte glücklich sein müssen. Doch dieser andere Mann...er war einfach unglaublich. Und ich hätte Dominik vermutlich verlassen, wenn...wenn dieser Mann nicht durch einen schrecklichen Unfall von mir gerissen worden wäre." Ich erwähnte nicht, dass dieser Mann Desdemonas Vater war. Ich wusste nicht, ob sie von der Affäre zwischen mir und ihrem Vater wusste. Wenn ja, dann hatte sie die Anspielung deutlich verstanden. Und wenn nicht, dann gab es keinen Grund das Andenken an ihren Vater jetzt noch zu beschmutzen.




    "Was soll ich jetzt tun, Oxana?", fragte sie mit bebender Stimme. Ich lächelte betrübt. "Das kann ich dir leider auch nicht sagen. Ich bitte dich nur darum, deine Ehe nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Triff keine übereilten Entscheidungen, vor allem nicht jetzt. Warte, bis du wieder bei Orion bist und sich die Situation beruhigt hat. Wenn du dann merkst, dass du meinen Bruder nicht mehr genügend liebst, dann steht es dir frei ihn zu verlassen. Gefühle können sich ändern und auch wenn ich meinen Bruder liebe, so muss ich doch akzeptieren, dass auch du ein Recht darauf hast, glücklich zu werden."




    Ich sah Desdemona an, dass sie sich wünschte, von mir in den Arm genommen zu werden. Aber dazu konnte ich mich dann doch nicht überwinden. Mehr als ein weiteres trauriges Lächeln brachte ich nicht zustande. Da nun alles gesagt war, legten wir uns hin. Doch keine von uns beiden konnte schlafen. Desdemona war immer noch hin und her gerissen und schluchzte leise von Zeit zu Zeit. Und ich dachte nur an Dominik. Ja, Gefühle konnten sich im Laufe der Zeit ändern. Ich hatte Dominik am Anfang gehasst und ihn als notwendiges Übel betrachtet. Doch dann waren Vertrauen und Freundschaft entstanden und inzwischen liebte ich ihn aus ganzem Herzen. Und es zerriss mich innerlich, dass ich nicht wusste, wo er war. Nicht zum ersten Mal betet ich inständig zu Gott und allen Heiligen, dass sie Dominik wohlbehalten zu mir zurückbringen würden.







    In den folgenden Tagen präsentierte sich der Spätsommer von seiner schönsten Seite. Die Temperaturen stiegen und es war keine Wolke am Himmel zu sehen. Die Kinder spielten vergnügt am Pool. Während die Jungs im Wasser herumtobten, alberten Klaudia und Magdalena am Beckenrand herum und bewarfen sich mit Wasserbomben. Ich lag entspannt im Liegestuhl und beobachtet die ausgelassenen Kinder. Es war in diesem Augenblick so einfach, all die Schrecken des Krieges auszublenden.




    Doch kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, erklang in unmittelbarer Nähe das Heulen einer Sirene. Die Kinder schauten sich verwirrt um. "Das kommt drüben von der Kirche", rief Klaudia und zeigte mit dem Finger zum Kirchturm. Wenige Sekunden später erkläng das Heulen der Sirenen auch aus anderen Richtungen. Benommen sackte ich in dem Liegestuhl zusammen. Nein, das durfte nicht sein. Nicht auch noch hier!




    Doch ich musste, dass ich mir einen Moment des Zögerns nicht leisten konnte. "Jakób, Sky, kommt sofort aus dem Wasser!", rief ich noch während ich mich blitzschnell aus dem Liegestuhl erhob. Der Klang der Sirenen hatte die Kinder so verschreckt, dass sie ohne zu zögern gehorchten. "Lauf sofort ins Haus und holt euch trockene Kleider und dann kommt ihr sofort in den Keller. Und trödelt auf keinen Fall!" Ich sah in den erschrockenen Gesichtern der Kinder, dass diese Warnung überflüssig war. Alle vier liefen ohne weitere Fragen zu stellen ins Haus.




    Desdemona schloss sich uns an, als wir das Haus betraten und reichte mir meine trockenen Kleider. Es dauerte keine Minute, bis die Kinder ebenfalls angezogen vor mir standen und ich dirigierte alle in den Kellerraum, den Joanna mir bereits Tage zuvor für den Notfall gezeigt hatte. Der Raum war zwar nicht gemütlich, aber es gab hier Nahrung und Wasser für einige Tage und genug Decken, damit wir nicht frieren mussten. In den ersten Minuten herrschte absolute Stille. Sky und Klaudia hatten bereits einen Bombenangriff im Keller überstanden. Auf der einen Seite machte sie das etwas ruhiger, weil es eine vertraute Situation war, auf der anderen Seite hatten sie auch die Schrecken erlebt, wenn man den sicheren Bunker wieder verließ. Doch Jakób und Magdalena waren einfach nur verängstigt.




    Auch Desdemona hatte Angst. Ihre Augen waren weit aufgerissen und obwohl sie sich zusammenriss, konnte sie nicht verhindern, dass Tränen an ihren Wangen herabflossen. "Wir sollten das Radio einschalten", durchbrach sie mit zittriger Stimme die Stille. Ich nickte zustimmend. Ein Kurzwellensender war bereits voreingestellt und eine automatische Bandansage ertönte, als Desdemona das Geräte einschaltete: "Bitte bewahren Sie Ruhe. Suchen Sie Schutz in einem ausgewiesenen Bunker oder einem sicheren Keller. Gehen Sie nicht auf die Straße. Bitte bewahren Sie Ruhe. Suchen Sie Schutz..."




    Die monotone Stimme auf dem Band hatte tatsächlich eine beruhigende Wirkung auf uns alle. Im Gegensatz zu dem Angriff auf Sierra Simlone Stadt hörten wir diesmal keine Einschläge. Auch der Strom fiel diesmal nicht aus. Daher entspannte sich die Situation rasch wieder. Innerlich hoffte ich, dass es sich nur um einen Fehlalarm handelte und SimCity vor Zerstörung bewahrt wurde. Auch die Kinder entspannten sich und bald schon plapperten die Mädchen leise miteinander und die Jungs spielten zusammen.




    Wir lachten alle gerade alle über einen von Skys Witzen, als plötzlich das Knarren der Kellertür zu hören war. Alle blickten in die Richtung, aus der das Geräusch erklang und Jakób erkannte als erstes die Gestalt, die aus dem Schatten trat. "Mami", rief er laut und lief direkt in die weit ausgestreckten Arme seiner Mutter hinein. "Alles ist gut, mein Liebling", beruhigte meine Schwester ihren Sohn und küsste ihn sanft auf den Kopf.




    Auch Magda fiel ihrer Mutter um den Hals und drückte sie so fest, wie noch nie in ihrem Leben zuvor. Und plötzlich brachen bei den Kindern alle Dämme. "Maaamaaa", schluchzte Jakób bitterlich und vergrub sein Gesicht in Joannas Seite. Und auch Magda lies ihrer Angst, die sie zuvor noch so gut verbergen konnte, freien Lauf und weinte sich an der Schulter ihrer Mutter aus. "Es ist alles gut", flüsterte meine Schwester immer wieder beruhigend und strich ihren Kindern liebevoll über den Rücken.




    Und plötzlich weinte auf mein kleiner Junge, der den ganzen Tag über so mutig gewesen war. Ich trat zu ihm herüber und er vergrub seinen Kopf in meinem Bauch. Erst nach einigen Minuten hatte Sky sich wieder beruhigt und wischte sich die Tränen aus den Augen. Dieser Tag war an keinem von uns spurlos vorbeigegangen. Die gesamten letzten Wochen waren es nicht. Dieser Krieg würde bei uns allen tiefe Wunden auf der Seele hinterlassen. Meine Kinder würden nie wieder eine solch unbeschwerte Kindheit haben, wie vor diesem sinnlosen Angriff. Und daran waren nur die Simnistrier Schuld und ich hasste sie dafür.

  • Kapitel 171: Viel zu nah



    Als wir den Keller verließen, stellte ich erschrocken fest, dass die Sonne bereits untergegangen war. Wir mussten dort also mehrere Stunden ausgeharrt haben. Fast zeitgleich mit Joannas Erscheinen erklang im Radio die Durchsage, dass man die Schutzräume wieder verlassen könne. "Zeit ins Bett zu gehen", sagte ich zu meinen beiden Kindern, nachdem wir für einige Minuten die wohltuende frische Abendluft eingeatmet hatten. Es gab keine Widerworte. Die Erschöpfung hatte Klaudia und Sky fest im Griff. "Schlaf gut, mein Kleiner", verabschiedete ich mich von Sky, als er müde in sein Bett gefallen war. Ich hatte noch nicht einmal das Licht gelöscht, da glitt er bereits in das Reich der Träume. Ich küsste ihn noch einmal auf die Stirn und zog seien Bettdecke hoch.




    Bevor ich das Zimmer verließ, sah ich auch nach Klaudia, die im Nachbarbett lag und ebenfalls bereits tief und fest schlief. Ich strich meinen Pummelchen über das Haar und sie seufzte zufrieden bei dieser sanften Berührung. Ein schwacher Mondschein fiel durch das Fenster auf ihr Gesicht. Sie sah so friedlich aus. Und wie bereits bei Sky, erkannte ich auch ihn ihrem Gesicht deutlich Dominik wieder. Auf der einen Seite tröstete mich dieser Gedanke ungemein und ich musste lächeln. Was auch immer noch passierte, ein Teil von Dominik würde immer bei mir sein. Aber auf der anderen Seite zerriss es mir förmlich das Herz, dass ich ihn womöglich nie wieder sehen würde.




    Als ich die Wendeltreppe vom Dachboden herabstieg, erblickte ich durch die Fenster im Flur des ersten Stocks Joanna, die auf dem Balkon stand und in die Ferne blickte. Ich schob also die Schiebetür zur Seite und trat zu meiner Schwester ins Freie. Als sie das Geräusch der sich bewegenden Tür hörte, drehte sie ihren Kopf in meine Richtung und ging langsam auf mich zu, sobald sie mich im Halbdunkeln erkannte. Trotz des schlechten Lichts konnte ich sehen, dass sie dieser Tag ebenso mitgenommen hatte, wie uns alle.




    "Wie sieht es in der Stadt aus", fragte ich sie. Bislang hatte ich keine Gelegenheit, mich über den Grund für den Fliegeralarm zu informieren. Joanna seufzte. "Es hätte schlimmer sein können. Es wurden hauptsächlich das Industriegebiet und der Flughafen beschossen. Allerdings sind auch Raketen in die Residenz des Herzogs eingeschlagen. Wir haben Glück, dass die Simnistrier bislang darauf verzichten, Wohngebiete zu bombardieren." Also hatte es tatsächlich einen Angriff gegeben. Und die herzogliche Residenz, Sitz der Regierung der Provinz Simster, war nur etwa zwei Kilometer vom Haus meiner Schwester entfernt. Unweigerlich lief mir ein kalter Schauer bei diesem Gedanken den Rücken hinunter.




    "So nah", flüsterte ich erschrocken, mehr zu mir selbst, als zu Joanna. Und dann geschah etwas, worauf ich nicht gefasst war. Joannas Augen begannen feucht zu glänzen und ein feines Rinnsal begann an ihrer Wange herabzufließen. "Das war viel zu nah", keuchte sie mit ersticktem Tonfall, sichtlich darum bemüht, ihre Fassung zu wahren. Doch dann gab sie diesen Versuch auf, griff mit beiden Händen in ihre Haare und ballte sie zu Fäusten. Das Schluchzen ließ sich nicht mehr unterdrücken. "Ihr wart alle in Lebensgefahr. Meine Kinder, deine Kinder, du. Ich hätte das voraussehen müssen. Ich hätte euch längst aus SimCity herausschaffen müssen. Ich bin schließlich für euch verantwortlich."




    Joanna begann am ganzen Körper zu zittern. Und das einzige, was ich in dieser Situation tun konnte war, meine Schwester in den Arm zu nehmen. Erst jetzt wurde mir klar, was für eine Verantwortung auf ihren Schultern lastete. Sie hatte mich und die Kinder aus der Sierra Simlone gerettet. Und auch jetzt vertraute ich immer noch darauf, dass sie uns schützen würde. Ich hatte nie darüber nachgedacht, wie viel Kraft es sie kosten musste, in dieser extremen Situation ihre Organisation weiter am Laufen zu halten, ständig von der Angst begleitet, dass ihrer Familie etwas zustoßen könnte. So verletzlich wie heute, hatte ich Joanna nicht mehr gesehen, seit wir Kinder waren.




    Nach einigen Minuten hörten das Zittern und das Schluchzen auf und Joanna löste sich aus meiner Umarmung. Sie schritt zum Balkongeländer, streckte die Schultern durch und holte mehrmals tief Luft. Ich erkannte, dass sie kein leichtes Leben führte. In ihrem Job musste sie immer stark sein. Schwäche zu zeigen könnte leicht bedeuten, dass eigene Leben zu riskieren. Und obwohl ich wusste, dass Tobias sie immer unterstützte, musste sie selbst vor ihm eine Fassade aufrechterhalten. Er war ihr Mann, aber er war auch einer ihrer Gefolgsleute. Das führte unweigerlich zu Distanz. Doch mir gegenüber, ihrer Zwillingsschwester, konnte sie für einen Moment ganz sie selbst sein. Eine verängstigte Frau und Mutter, genauso wie ich es war und hundertausende anderer Frauen in der SimNation.




    Doch dieser Moment war schnell vorüber. Joanna drehte sich wieder um und ging auf mich zu. "Morgen früh packst du ein paar Sachen zusammen, und dann wirst du mit Tobias und den Kindern an einen sicheren Ort fahren." Der Tonfall ihrer Stimme gab deutlich zu Verstehen, dass jede Diskussion nutzlos war. Joanna war wieder ganz die Chefin eines Verbrechersyndikats und sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Ich nickte stumm. "Und was wirst du tun?", fragt ich, nachdem ich realisierte, dass sie nicht vorhatte, uns zu begleiten. "Ich werde endlich dafür sorgen, dass den Simnistriern ordentlich in den Hintern getreten wird."







    Gleich am nächsten Morgen verkündete Joanna allem beim Frühstück, dass wir SimCity verlassen müssten, weil es in der Stadt inzwischen zu gefährlich geworden wäre. Doch nicht bei allen kam dieser Vorschlag gut an. "Ich will hier nicht weg", maulte Magda, als Joanna ihr Zimmer betrat, um zu sehen, wie weit sie mit dem Packen vorangekommen war. Sie schleuderte schlecht gelaunt einige T-Shirts in den Koffer, der auf ihrem Bett lag, und schlug den Deckel zu.




    "Alle meine Freunde sind hier! Papa meinte, es gibt dort nicht einmal Handyempfang. Ich werde zur absoluten Außenseiterin in der Schule!" Sie fuchtelte theatralisch mit den Händen über ihrem Kopf. "Außerdem ist doch gestern gar nichts passiert. Siehst du hier irgendwelche Einschlagslöcher? Nein? Ich auch nicht. Wir können doch einfach hier bleiben und uns wieder im Keller verstecken, wenn es Fliegeralarm geben sollte."




    Doch sie hatte sich den falschen Zeitpunkt ausgesucht, um aufmüpfig zu sein. Joanna war nicht in der Stimmung, um mit sich reden zu lassen. "Du wirst gleich mit deinem Bruder, deinem Vater und dem Rest der Familie in den Wagen steigen. Diese Entscheidung steht nicht zur Debatte. Wir hatten gestern einfach wahnsinniges Glück, das ist alles. Glaubst du wirklich, unser Keller würde einen Raketeneinschlag überstehen? Das bezweifle ich nämlich stark. Und hör auf, so ein Gesicht zu ziehen. Die ganze Situation ist schon schwer genug, ohne dass du uns allen auch noch schlechte Laune bereitest."




    Joannas Nerven lagen immer noch blank. Der gestrige Vorfall saß ihr tiefer in den Knochen, als sie es sich eingestehen wollte. Daher fiel ihr Verhalten ihrer Tochter gegenüber auch härter aus, als es angemessen wäre. Aber Magda wäre nicht Joannas Tochter, wenn sie sich das so einfach bieten lassen würde. "Warum kommst du dann nicht mit uns mit, wenn es hier in SimCity so gefährlich ist?", fragte sie trotzig. Genau in dem Moment betrat Tobias das Zimmer. "Du weißt ganz genau, dass deine Mutter beruflich fest eingespannt ist. Sie trägt viel Verantwortung in ihrer Firma und kann nicht einfach hier weg."




    "Ach ja, ich vergaß", erwiderte Magda, wobei ihre Stimme vor Ironie triefte. "Wenn Mama sich bloß einen Tag nicht darum kümmert, dass genügend Fertigfraß und Tomatensaft in die Flugzeuge geladen wird, dann geht gleich die Welt unter." Sie sprach damit die Tätigkeit an, der Joanna zur Tarnung nachging. "Zumal gerade sooo viele Flugzeuge unterwegs sind." Joanna hatte eindeutig genug. "Pack deinen Koffer fertig und sei in fünf Minuten unten", herrschte sie ihre Tochter an. Die beiden funkelten sich noch einen Augenblick finster an, doch dann verließ Joanna den Raum.




    Als ihre Mutter fort war, schaute Magdalena wütend und traurig zugleich auf ihren Koffer herunter. Tobias ging langsam auf sie zu und strich ihr behutsam über den Rücken. "Schatz, du weißt doch selbst, dass deine Mutter nur das Beste für uns will. Und glaub mir, sie würde gerne mit uns mitkommen, wenn sie nur könnte. Also komm, schluck deinen Ärger hinunter, pack deinen Koffer und dann komm nach unten." Magdalena blickte noch eine Weile stumm auf den Koffer, doch dann nickte sie zustimmend.

  • Kapitel 172: Das Flüchtlingslager




    Der Streit zwischen Joanna und ihrer Tochter war laut genug gewesen, damit ich ihn gut aus dem Nachbarzimmer mit verfolgen konnte. Als Joanna Magdas Zimmer verließ, ging sie in das Schlafzimmer, wo ich gerade ihren Kleiderschrank auf der Suche nach weiteren Kleidungsstücken, die ich mir ausleihen könnte, durchforstete. Joanna war immer noch angespannt und lief wie ein Tiger im Käfig hinter mir auf und ab. "Deine Kinder wissen also nichts von deinem 'Beruf'", stellte ich mehr fest, als dass ich fragte, während ich eine Jeans aus der Schublade zog.




    "Natürlich wissen sie nichts", antwortet meine Schwester gereizt. "Oder zumindest sollten sie nichts wissen. Jakób ist noch zu jung, aber Magda merkt eindeutig, dass etwas mit meinem Job nicht stimmt. Lange werde ich es nicht mehr verheimlich können." "Damit hast du wohl Recht", entgegnete ich. "Als wir beide in ihrem Alter waren, war uns doch auch klar, dass irgendetwas mit Dads Job komisch war. Ich sag nur 'Handelsvertreter'. Es ist echt unfassbar, dass Dad geglaubt hat, wir würden ihm die Geschichte abnehmen. Allerdings muss ich zugeben, dass meine Fantasie dann doch nicht ausgereicht hat, um mir Dad als Dieb und Trickbetrüger vorzustellen. Ich dachte eher, dass er seine Zeit mit Glücksspiel im Casino, statt mit ehrlicher Arbeit verdient."




    Wir mussten beide lachen und das tat gut in dieser angespannten Situation. Ich verstaute die Jeans und einige weitere Dinge und ging dann mit dem Koffer in der Hand hinunter ins Wohnzimmer, wo die Kinder bereits warteten. Meine Schwester folgte mir dichtauf. Ich war schon fast unten angekommen, als Klaudia mich zu sich rief. "Mami, komm schnell." Sie starrte gebannt auf den Fernsehbildschirm. "Sie berichten gerade über ein Flüchtlingslager bei Simtropolis und in einem der Filmausschnitte konnte ich Tante Brandi ganz deutlich erkennen."




    Ich eilte die letzten Treppenstufen hinunter und stellte den Koffer auf den Boden ab. Den Blick fest auf den Fernseher gerichtet, ging ich zum Sofa und setzte mich neben Klaudia. Joanna folgte meinem Beispiel. In eben diesem Moment wurde eine Karte der südlichen SimNation eingeblendet und ein Moderator schilderte die aktuelle Lage. "Ein Schiff der simrokkanischen Marine konnte gestern mit etwa 5000 Flüchtlingen an Bord die Seeblockade im Golf von Cádiz durchbrechen und die portugiesische Küste anlaufen. Nach Verhandlungen zwischen Santa Regina und Lissabon konnte die Fregatte in den portugiesischen Hafen Portimão einlaufen. Die an Bord befindlichen Zivilisten wurden über den Landweg nach Lissabon und von dort aus in die SimNation überführt. Zurzeit befinden sie sich in einem provisorischen Lager auf einem ehemaligen Kasernengelände bei Simtropolis."




    Passend dazu wurden wieder Bilder von Menschen gezeigt, die sich in einem Lager aus unendlichen Reihen von Zelten einrichteten. Und da sah auch ich sie. "Mami, da, da war Tante Brandi gerade wieder", rief Klaudia aufgeregt und zeigte auf den Bildschirm. Doch diesmal hatte auch ich sie gesehen und zuckte vor Freunde darüber, dass sie gesund war, gleichzeitig aber auch voller Entsetzen darüber, was sie wohl in den letzten Tagen erlebt haben musste, zusammen.




    Und noch während ich den Bericht zu Ende sah, formte sich in meinem Kopf ein Entschluss. "Jojo, ich muss runter nach Simtropolis", verkündete ich meiner Schwester, als der Bericht endete. Joanna musterte mich skeptisch. "Warum?", fragt sie. "Weil dort unten meine Freunde sind. Wenn Brandi dort ist, dann vermutlich auch Roland. Und wer weiß, wer sich noch alles nach Simtropolis retten konnte? Ich muss mich überzeugen, dass es ihnen allen gut geht. Vielleicht wissen sie auch Neues über die Geschehnisse in Sierra Simlone Stadt. Meine Schwiegereltern, Gerda…sie sind alle noch dort unten."




    Meine Schwester wirkte nicht überzeugt. "Es ist einfach zu gefährlich, Xana. Simtropolis ist nur knapp 100 Kilometer von der Front entfernt. Du würdest ein viel zu großes Risiko eingehen, nur um ein paar Freunde wiederzusehen." Das war ein triftiges Argument. Aber noch etwas anderes trieb mich an, in das Flüchtlingslager bei Simtropolis zu reisen. "Was ist, wenn Dominik diesen Fernsehbericht gesehen hat?", fragte ich meine Schwester mit bitterlicher Stimme. "Was ist, wenn er mich und die Kinder gerade jetzt in diesem Lager sucht? Dieser Bericht ist sein einziger Anhaltspunkt auf der Suche nach uns. Ich muss einfach dort hin um zu sehen, ob er nicht dort ist. Ich muss es tun."




    Ich flehte meine Schwester regelrecht an, mir ihr Einverständnis zu geben. "Du lässt dich ja doch nicht davon abbringen", gab sie schließlich resigniert nach. Mir fiel ein Stein vom Herzen. "Danke, Jojo", flüsterte ich. "Und wie willst du dort runter kommen?", fragte Joanna gleich weiter. Darüber hatte ich mir in der Tat noch keine Gedanken gemacht. Doch Joanna antwortete selbst für mich. "Du kannst mein Auto nehmen. Die Autobahnen sind allerdings für den Zivilverkehr gesperrt. Du wirst also einen Passierschein benötigen. Ich werde Ewa gleich Bescheid geben, dass sie dir einen organisieren soll."




    Überglücklich fiel ich meiner Schwester um den Hals. "Vielen Dank für deine Unterstützung, Jojo." "Ich bin dir auch noch etwas schuldig, Xana. Betrachte dies als einen weiteren Teil meiner Gutmachung." Joanna spielte damit auf die tragischen Ereignisse von vor 13 Jahren an, als sie mich dazu Zwang, für 'Justice' zu arbeiten, was beinah mit meinem Tod geendet hätte. Aber ich war überzeugt, dass meine Schwester mir heute auch geholfen hätte, wenn sie nicht in meiner Schuld stände. "Versprich mir nur, dass du nicht lange weg bleibst", flüsterte Joanna mir zu. "Tobias und die Kinder werden noch heute aufbrechen. Und sobald du wieder in SimCity bist, wird dich Ewa zu ihnen bringen."




    Es war nicht leicht, meine Kinder davon zu überzeugen, dass sie erst einmal ohne mich aufbrechen sollte. Klaudia hatte das Gespräch zwischen mir und ihrer Tante mitbekommen. Obwohl auch sie zunächst darauf bestand, dass ich sie und ihren Bruder begleiten sollte, verstand sie meine Beweggründe für meine Reise nach Simtropolis. Auch in ihr war die Hoffnung aufgekeimt, möglicherweise ihren Vater bald wiederzusehen. Doch Sky verstand mich nicht. Ich konnte noch so oft beteuern, dass ich in zwei Tagen nachkommen würde, er hatte trotzdem furchtbare Angst, dass ich ihn verlassen könnte.




    "Versprich mir, dass du wiederkommst", flehte er mich an. "Ich verspreche es, mein Schatz." "Versprochen und niemals gebrochen?" "Versprochen und niemals gebrochen." Ich drückte meinen kleinen Sohn fest an mich, und schmiegte meine Wange an seine. Erst jetzt wurde mir klar, dass er Angst hatte, von mir verlassen zu werden, so wie ihn seine leibliche Mutter Ingrid verlassen hatte. Fast hätte ich meine Entscheidung widerrufen und wäre doch mit den Kindern zusammen in die unberührten Wälder von Simskelad geflohen. Aber meine Hoffnung, in dem Flüchtlingslager bei Simtropolis Dominik zu finden, war einfach stärker. Und ich wusste, dass meine Kinder bei Desdemona und meinem Schwager Tobias in guten Händen waren.







    Sobald Tobias und die Kinder in Richtung der Wälder von Simskelad aufbrachen, machte auch ich mich auf den Weg nach Süden. Ich wollte noch vor Einbruch der Nacht in Simtropolis eintreffen. So wie Joanna es vorausgesagt hatte, waren die Autobahnen für den Zivilverkehr gesperrt und in regelmäßigen Abstanden behinderte eine Straßenblockade die Weiterfahrt. Doch Dank des Passierscheines, den meine Schwester für mich besorgt hatte, konnte ich meine Fahrt fortsetzen.




    Der Passierschein verschaffte mir auch Zugang zu dem Flüchtlingslager, zu dem ansonsten nur Angehörige des Militärs und diverser Hilfsorganisationen Zutritt hatten. Das Lager musste in aller Eile errichtet werden. Auf einer Kasernenbrache wurden eiligst Zelte aufgestellt und die notwenigsten sanitären Einrichtungen installiert, um die 5000 Flüchtlinge unterbringen zu können. Ich kannte die Bilder bereits aus dem Fernsehen, dennoch war ich entsetzt von dem Elend, was ich hier sah. Diese Menschen hatten zwar Glück, dass sie unverletzt aus der Sierra Simlone entkommen waren, aber ich war dennoch froh, das meine Kinder und ich bei meiner Schwester und nicht in diesem Lager Zuflucht gefunden hatten.




    Und es waren so viele Menschen hier. Wie sollte ich da bloß jemals Dominik finden? Ich schaute mich verloren in dem riesigen Lager um, doch die Zelte sahen alle gleich aus und die Gesichter der vielen Menschen waren mir unbekannt. Und dann hörte ich plötzlich, wie jemand meinen Namen rief. "Tante Oxana, Tante Oxana!" Ich drehte meinen Kopf in die Richtung, aus der die Rufe erklangen und erblickte sofort Constance, Rolands Tochter. Selbst aus der Ferne war sie aufgrund ihrer seltsam verfärbten Haut, die ihre Ursache in einer erblichen Pigmentstörung hatte, gut zu erkennen.




    Ich beschleunigte meinen Gang und bewegte mich zielstrebig auf sie zu. "Constance, es geht dir gut", stieß ich erleichtert aus, als ich nah genug war, dass sie mich gut verstehen konnte und streckte meine Arme zu einer Umarmung aus. Neben ihr stand Hektor, der Mann von Manuela Bretz, der erfreut lächelte und mir zur Begrüßung zuwinkte. Constance ließ sich von mir umarmen und drückte mir einen Kuss auf jede Wange. Ich war wirklich erleichtert sie, und weitere Bekannte aus der Heimat, wohlauf zu sehen.




    "Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht, Tante Oxana", begann Constance zu erzählen. "Mutter konnte nur Berichten, dass du plötzlich aus Sierra Simlone Stadt verschwunden warst. Keiner wusste, was mit dir und deinen Kindern passiert ist." "Ich bin nach SimCity geflohen", erklärte ich ihr. "Meine Schwester hat es irgendwie geschafft, uns aus der Sierra Simlone schaffen, bevor die Simnistrier die Stadt besetzen konnten. Sie muss wohl gute Freunde bei der Armee haben", setzte ich schnell hinterher und hoffte, dass dies Constance als Erklärung dafür, wie Joanna uns aus der Wüste geholt hatte, reichen würde.




    Dann wurde mir klar, dass Constance von "Mutter" gesprochen hatte. "Ist Brandi auch hier? Und Roland?", fragte ich aufgeregt. "Mutter und meine Geschwister sind dort drüben", erklärte Constance und deutete auf eine Gruppe von Zelten und ich erkannte sogleich Brandi, die sich mit Manuela unterhielt. "Papa ist allerdings nicht hier", fuhr Constance mit bedrückter Stimme fort. "Er meinte, dass seien Fähigkeiten als Arzt dringend in der Sierra Simlone von Nöten wären und er deshalb nicht fort könne. Er hat darauf bestanden, dass Brandi und meine Geschwister ohne ihn auf das simrokkanische Schiff steigen."




    Constance fasst meine Hand und führte mich zu ihrer Mutter. Brandi konnte es erst fast nicht glauben, dass ich so unverhofft vor ihr stand, doch dann umarmte sie mich freudestrahlend. Nachdem ich auch sie über meine Flucht nach SimCity unterrichtet hatte, erzählte sie mir von den Geschehnissen in Sierra Simlone Stadt. Die Simnistrier waren tatsächlich in die Stadt gekommen und hätten sich in meinem Haus niedergelassen. Alle, Männer, die nicht verletzt oder zu alte waren, wurden in der Schule festgehalten, um einen Aufstand zu verhindern. Tristan hatte insofern Glück, als dass er ein gebrochenes Bein hatte und somit keine Gefahr darstellte. Daher durfte er in Franks Haus bleiben.




    Brandi holte einen Kessel mit heißem Wasser vom Lagerfeuer und wir setzen uns mit einer heißen Tasse Tee in der Hand vor das Zelt, dass nun ihr vorübergehendes Zuhause war. "Papa hat gleich nach dem Einmarsch der Simnistrier zu sich ins Krankenhaus nach Seda Azul geholt, um uns bei sich zu haben", erzählte Sarah, die gemeinsame Tochter von Roland und Brandi, die Geschichte weiter, als ich nach Rolands Verbleiben fragte. "Als Arzt war er für die Simnistrier natürlich nützlich, daher wurde er auch nicht eingesperrt. Und auch wenn er es nicht unbedingt gerne tat, so hat er auch die simnistrischen Soldaten verarztet. Er meinte, sein Hippokratischer Eid würde keinen Unterschied zwischen Freund und Feind machen. Also verarztete er auch die verletzten Simnistrier."




    Auf meine Frage, wie es der simrokkanischen Fregatte gelungen war, die Seeblockade zu durchbrechen und die 5000 Flüchtlinge aus Seda Azul zu befreien, hatten Brandi und die Mädchen allerdings keine Antwort. Es handelte sich offensichtlich um ein Wunder. Dafür hatte Constance interessantes über ihre Flucht zu berichten, denn sie war nicht mit dem Schiff nach Simtropolis gekommen. "Kommilitonen von mir hatten ein Funkgerät in ihrem Zimmer, mit dem sich sonst zum Spaß den Polizeifunk von La Siesta Tech abhörten. Und an dem Abend vor dem Angriff auf Sierra Simlone Stadt haben sie seltsame Funksprüche auf einer Wellenlänge empfangen, die sonst nie genutzt wurde. Ich hätte diese Funksprüche ignoriert, aber meine beiden Kommilitonen waren felsenfest davon überzeugt, dass etwas Schlimmes passieren würde und drängen mich und meine Mitbewohnerinnen dazu, den Siesta Tech Campus zu verlassen und nach SimVegas zu fahren. Ich dachte die ganze Zeit, die beiden wollten sich mit uns Mädchen einen Spaß erlauben. Ich hielt es für einen blöden Anmachversuch oder so etwas in der Art."




    "Aber da ich ohnehin wieder einmal Lust hatte, etwas Spaß in der Stadt zu haben, und einer der Jungs wirklich süß war, entschloss ich mich, mit ihnen mitzufahren. Zwei meiner Mitbewohnerinnen aus dem Wohnheim begleiteten uns. Und wir waren kaum ein paar Stunden in SimVegas, als schon auf allen Sendern über den Überraschungsangriff auf die Sierra Simlone berichtet wurde. Ich hatte echt wahnsinniges Glück gehabt, dass ich nicht mehr auf dem Campus war. Die Uni soll nämlich stark bombardiert worden sein. Ich denke, die Simnistrier vermuteten dort irgendwelche geheimen Forschungseinrichtungen."




    Eines wurde deutlich, sollte dieser Krieg vorüber sein, so hatten wir alle unsere Geschichte zu erzählen. Jeder hatte Schrecken erlebt, jeder hatte Angst verspürt. Das Leben würde nicht mehr sein wie vorher. Doch im Augenblick war ich nur froh, dass es so vielen meiner Freunde und Bekannten gut ging. Doch ich war aus einem bestimmten Grund nach Simtropolis gekommen. "Habt ihr vielleicht Dominik hier im Lager entdeckt?", fragt ich hoffnungsvoll. Ich hatte so viel Menschen wiedergetroffen, Dominik musste auch darunter sein.




    Brandi sah meinen flehentlichen Blick und es zerbrach ihr fast das Herz. Sie drückte ihre Hand gegen die Brust und schüttelte traurig den Kopf. "Glaubst du wirklich, wir würden so lange mit dir plaudern, wenn dein Mann hier wäre? Nein, Dominik ist nicht hier und er war auch nicht hier im Lager. Es tut mir wahnsinnig Leid, Oxana. Ich kann erahnen, wie sehr du jetzt leiden musst. Auch ich weiß nicht, wie es Roland jetzt ergeht. Aber immerhin weiß ich, wo er sich aufhält. Der Gedanke, nicht einmal das zu wissen, würde mich um den Verstand bringen."




    Ich hatte eine solche Antwort befürchtet. Und trotzdem waren Brandis Worte wie ein Stich in mein Herz. Diese Lager war meine letzte Hoffnung gewesen. Das war der einzige Ort, an dem Dominik mich zu finden hoffen konnte. Und wenn er nicht hier war, dann bedeutete dies, dass er nicht in der SimNation war. Das könnte sogar bedeuten, dass er nicht einmal mehr am...Nein, so etwas durfte ich einfach nicht denken. Ich durfte die Hoffnung nicht aufgeben, dass er zu mir zurückkehren würde, auch wenn das mit jedem Tag unwahrscheinlicher wurde.




    Der Himmel begann bereits, sich rot zu färben. Bald würde es dunkel sein und es wurde allerhöchste Zeit, mich auf den Rückweg nach SimCity zu machen. Ich erkannte, wie dumm es gewesen war, meine Kinder alleine zu lassen, nur um einer Hoffnung hinterherzurennen. Ich nutzte also, die letzten Minuten, um mich von Brandi und Constance, aber auch von Manuela und ihrer Familie, zu verabschieden. Ich wünschte ihnen alles Gute und hoffte, dass wir uns bald alle wieder in der Sierra Simlone treffen würden.

  • Kapitel 173: Die Gnade des Dreifaltigen



    Nachdem ich mich von meinen Freunden verabschiedet hatte, kehrte ich zum Auto zurück, welches ich am Eingang des Flüchtlingslagers abgestellt hatte, und stieg hinein. Der Weg zurück nach SimCity war lang und ich würde die ganze Nacht durchfahren müssen. Doch kaum war ich die ersten hundert Meter gefahren, schweiften meine Gedanken zu Dominik ab. Man sagt immer, Menschen, die sich lieben, können spüren, ob es dem anderen gut geht, oder nicht. Doch ich konnte gar nichts fühlen. Da war nur diese Angst, dass Dominik nicht mehr...nicht mehr am Leben sein könnte. Meine Augen begannen sich mit Tränen zu füllen. Und obwohl ich versuchte, sie wegzuwischen, konnte ich bald schon die Straße nicht mehr deutlich erkennen.




    Wir blieb nichts anderes übrig als ranzufahren. Ich bog in die nächste Einfahrt ein und brachte den Wagen zum stehen. Meine zittrigen Hände umklammerten das Lenkrad so stark, dass die Knöchel weiß hervortraten. Ich bemühte mich darum, ruhig ein und aus zu atmen, und langsam beruhigte ich mich wieder. Doch an Weiterfahrt war jetzt noch nicht zu denken. Ich riss die Autotür auf und stellte meine Beine auf die Straße, wobei ich im Fahrersitz sitzen blieb. Die frische Luft tat mir gut und meine Gedanken begannen sich wieder zu ordnen.




    Dann blickte ich auf und entdeckte erst jetzt, dass ich direkt vor einer Kirche, nein, einer Kathedrale, gehalten hatte. Und mit Entsetzen musste ich feststellen, dass dieses Gotteshaus stark beschädigt war. Der linke der beiden Fronttürme war zerstört und der Kirchenvorplatz mit Trümmern übersät. Offenbar war eine Rakete bei einem der letzten Luftangriffe auf Simtropolis in die Kathedrale eingeschlagen. Ich wusste nicht, was mich dazu trieb, aber ich stieg aus dem Auto aus und ging langsam auf die Kirche zu.




    Ich schritt langsam auf das Eingangsportal zu. Ich wusste, dass ich diese Kathedrale noch nie zuvor gesehen hatte. Ich hatte Simtropolis bisher nur sehr kurz besucht. Und trotzdem erschien sie mir so vertraut, ich wusste nur nicht woher. Ich streckte meine Hand aus und drückte gegen die Tür und zu meiner Überraschung war sie nicht verschlossen, sondern öffnete sich unter lautem Knarren. Mir war bewusst, dass es keine gute Idee war, ein Gebäude zu betreten, das erst kürzlich bombardiert worden war. Aber ich konnte nicht anders, als in die Dunkelheit des Kircheninneren einzutauchen.




    Auch die Tür in das Hauptschiff der Kirche war nicht verschlossen. Mattes Dämmerlicht fiel durch die geborstenen Bleiglasfenster auf den Fußboden und der schwere Geruch von Weihrauch hing immer noch in der Luft. Der Boden war übersät mit Schutt. Ich blickte nach oben und erkannte, dass große Teile der Deckengewölbe bei dem Raketeneinschlag herabgestürzt waren. Und trotzdem hatte die Kathedrale nichts an Glanz verloren. Sie strahlte immer noch die Erhabenheit, eines uralten Gotteshauses aus. Und wieder überkam mich das Gefühl, dass ich diese Kirche kennen würde.




    Das Atmen fiel mir zunehmend schwerer. Meine Knie begannen zu zittern und ich musste mich an der Seitlehne einer der Sitzbänke abstützen. Doch anstatt mich zu setzen, hangelte ich mich von Seitenlehne zu Seitenlehen vorwärts und schritt immer weiter auf den Altar zu. Die letzten Meter musste ich ohne Stütze zurücklegen. Der Altarraum war völlig verwüstet. Auch hier war das Deckengewölbe eingestürzt. Doch das Bild unseres Herrn war unversehrt geblieben. Und als ich es anblickte, überfluteten mich auf einmal die Erinnerungen.




    Bilder von mir im weißen Brautkleid, wie ich durch den Mittelgang einer Kirche, genau dieser Kirche, schritt. Bilder von Freunden und Verwanden, die mich anlächelten. Und Bilder von einem Mann, der vorne am Altar stand und auf mich wartete. Es war exakt der Traum, den ich vor vierzehn Jahren geträumt hatte. Und in den Jahren danach hatte ich mich so oft an diesen einen Traum geklammert. Immer und immer wieder hatte ich ihn mir ins Gedächtnis gerufen. Jede Einzelheit in mir aufgesogen. Nur so war der Schmerz über den Verlust von Albert für mich zu ertragen. Auch jetzt liefen die Bilder vor meinem inneren Auge ab. Ich ging auf den Altar zu und ein Mann wartet auf mich, dessen Gesicht ich nicht erkennen konnte. Und dann drehte er sich um und ich sah...




    Und genau an dieser Stelle stimmte etwas nicht mehr mit meiner Erinnerung. Denn anstelle von Albert lächelte mich nun Dominik inmitten einer zerstörten Kirche an. Ich versuchte meine Hand nach ihm auszustrecken, doch sein Bild verblasst, ehe ich es zu fassen bekam.




    "Dominik", schluchzte ich und sank weinend auf dem Kirchenboden zusammen. "Lass mich nicht allein", flehte ich ihn an, obwohl ich genau wusste, dass er mich nicht hören konnte. "Lass mich bitte nicht allein." Ich hob meinen Kopf leicht und blickte dem Bildnis Jesu Christis direkt in die Augen. "Bitte", flehte ich ihn an, "Herr, bitte führ Dominik zu mir zurück. Ich liebe ihn über alles. Ich liebe ihn, wie ich noch nie einen Menschen zuvor geliebt habe. Ohne ihn ist mein Leben so leer. Bitte, Herr, geleite ihn wohlbehalten zu mir zurück."




    Doch ich erhielt keine Antwort. Das Bild blickte weiterhin gütig auf mich hernieder, als ob es mir Trost spenden wollte. Doch das Lächeln wirkte eher traurig. Ich wollte die Hoffnung nicht aufgeben, doch mir wurde klar, dass ich vielleicht umsonst hoffte. Langsam richtete ich mich wieder auf und wischte mir den Staub von den Knien. Ein letztes Mal blickte ich auf das Altarbild, blickte auf das Herz auf der Brust unseres Herrn. Aber es geschah kein Wunder. Mir blieb nichts anderes übrig, als in die Weisheit und Güte des Dreifaltigen zu vertrauen.




    Und dann durchbrach ein Donnern die Stille. "Ich bin doch hier, Brodlowska." Ich erstarrte zu einer Salzsäule. Mein Herz begann so schnell zu rasen, dass ich fürchtete, meine Brust würde jederzeit bersten. Ich drehte meinen Kopf zur Seite und blickte über meine Schulter. Ganz vorsichtig, aus Angst, ich könnte mir die Stimme nur eingebildet haben. Mein Kopf war leicht gesenkt und erst, als ich mich vollständig umgedreht hatte, wagte ich es, ihn zu heben. Und vor ungläubigem Erstaunen blieb mein Mund offen stehen.




    In der Mitte des Ganges, zwischen all den Trümmern, stand er. Dominik. War das alles nur ein Traum? Spielten meine Sinne mir nur einen grausamen Streich? Die Männergestallt rührte sich nicht. Meine Knie begannen erneut zu zittern und ich drohte wegzuknicken. Doch dann setzte ich einen Schritt nach vorne und ging auf ihn zu. Erst einen Schritt, dann einen zweiten. Und plötzlich setzte sich auch die Männergestallt in Bewegung.




    Langsam, Schritt für Schritt, kamen wir aufeinander zu. Genau an dem Punkt, wo sich das Lang- und das Querschiff kreuzten, kamen wir zum stehen. In meinem Kopf drehte sich alles. Langsam streckte ich meine Hand aus, immer noch voller Angst, dass die Erscheinung sich in Luft auflösen könnte…dass alles nur Illusion war.




    Und dann spürte ich ihn. Dominik ergriff meine Hand und drückte sie. Seine Haut war rau und voller Schwielen, aber für mich war es die wundervollste Berührung, die ich jemals gespürt hatte. Ich drückte seine Hand immer fester und meine Fingernägel gruben sich in seien Haut. Doch Dominik zuckte nicht einmal zusammen, sondern sah mir nur in die Augen. Er war real. Dominik stand wirklich vor mir.




    Und dann zog er mich zu sich heran und küsste mich. Tränen schossen mir in die Augen, als seien spröden Lippen die meinen berührten. Dominik war wieder bei mir. Ich wusste nicht wie das möglich war, aber er war hier. Er lebte und er war gesund. Ich umklammerte ihn so fest ich es nur konnte, als ob ich ihn nur so daran hindern konnte, wieder zu verschwinden. Denn ich würde nie wieder zulassen, dass er von mir fortging.

  • Kapitel 173: Die Gnade des Dreifaltigen



    Nachdem ich mich von meinen Freunden verabschiedet hatte, kehrte ich zum Auto zurück, welches ich am Eingang des Flüchtlingslagers abgestellt hatte, und stieg hinein. Der Weg zurück nach SimCity war lang und ich würde die ganze Nacht durchfahren müssen. Doch kaum war ich die ersten hundert Meter gefahren, schweiften meine Gedanken zu Dominik ab. Man sagt immer, Menschen, die sich lieben, können spüren, ob es dem anderen gut geht, oder nicht. Doch ich konnte gar nichts fühlen. Da war nur diese Angst, dass Dominik nicht mehr...nicht mehr am Leben sein könnte. Meine Augen begannen sich mit Tränen zu füllen. Und obwohl ich versuchte, sie wegzuwischen, konnte ich bald schon die Straße nicht mehr deutlich erkennen.




    Wir blieb nichts anderes übrig als ranzufahren. Ich bog in die nächste Einfahrt ein und brachte den Wagen zum stehen. Meine zittrigen Hände umklammerten das Lenkrad so stark, dass die Knöchel weiß hervortraten. Ich bemühte mich darum, ruhig ein und aus zu atmen, und langsam beruhigte ich mich wieder. Doch an Weiterfahrt war jetzt noch nicht zu denken. Ich riss die Autotür auf und stellte meine Beine auf die Straße, wobei ich im Fahrersitz sitzen blieb. Die frische Luft tat mir gut und meine Gedanken begannen sich wieder zu ordnen.




    Dann blickte ich auf und entdeckte erst jetzt, dass ich direkt vor einer Kirche, nein, einer Kathedrale, gehalten hatte. Und mit Entsetzen musste ich feststellen, dass dieses Gotteshaus stark beschädigt war. Der linke der beiden Fronttürme war zerstört und der Kirchenvorplatz mit Trümmern übersät. Offenbar war eine Rakete bei einem der letzten Luftangriffe auf Simtropolis in die Kathedrale eingeschlagen. Ich wusste nicht, was mich dazu trieb, aber ich stieg aus dem Auto aus und ging langsam auf die Kirche zu.




    Ich schritt langsam auf das Eingangsportal zu. Ich wusste, dass ich diese Kathedrale noch nie zuvor gesehen hatte. Ich hatte Simtropolis bisher nur sehr kurz besucht. Und trotzdem erschien sie mir so vertraut, ich wusste nur nicht woher. Ich streckte meine Hand aus und drückte gegen die Tür und zu meiner Überraschung war sie nicht verschlossen, sondern öffnete sich unter lautem Knarren. Mir war bewusst, dass es keine gute Idee war, ein Gebäude zu betreten, das erst kürzlich bombardiert worden war. Aber ich konnte nicht anders, als in die Dunkelheit des Kircheninneren einzutauchen.




    Auch die Tür in das Hauptschiff der Kirche war nicht verschlossen. Mattes Dämmerlicht fiel durch die geborstenen Bleiglasfenster auf den Fußboden und der schwere Geruch von Weihrauch hing immer noch in der Luft. Der Boden war übersät mit Schutt. Ich blickte nach oben und erkannte, dass große Teile der Deckengewölbe bei dem Raketeneinschlag herabgestürzt waren. Und trotzdem hatte die Kathedrale nichts an Glanz verloren. Sie strahlte immer noch die Erhabenheit, eines uralten Gotteshauses aus. Und wieder überkam mich das Gefühl, dass ich diese Kirche kennen würde.




    Das Atmen fiel mir zunehmend schwerer. Meine Knie begannen zu zittern und ich musste mich an der Seitlehne einer der Sitzbänke abstützen. Doch anstatt mich zu setzen, hangelte ich mich von Seitenlehne zu Seitenlehen vorwärts und schritt immer weiter auf den Altar zu. Die letzten Meter musste ich ohne Stütze zurücklegen. Der Altarraum war völlig verwüstet. Auch hier war das Deckengewölbe eingestürzt. Doch das Bild unseres Herrn war unversehrt geblieben. Und als ich es anblickte, überfluteten mich auf einmal die Erinnerungen.




    Bilder von mir im weißen Brautkleid, wie ich durch den Mittelgang einer Kirche, genau dieser Kirche, schritt. Bilder von Freunden und Verwanden, die mich anlächelten. Und Bilder von einem Mann, der vorne am Altar stand und auf mich wartete. Es war exakt der Traum, den ich vor vierzehn Jahren geträumt hatte. Und in den Jahren danach hatte ich mich so oft an diesen einen Traum geklammert. Immer und immer wieder hatte ich ihn mir ins Gedächtnis gerufen. Jede Einzelheit in mir aufgesogen. Nur so war der Schmerz über den Verlust von Albert für mich zu ertragen. Auch jetzt liefen die Bilder vor meinem inneren Auge ab. Ich ging auf den Altar zu und ein Mann wartet auf mich, dessen Gesicht ich nicht erkennen konnte. Und dann drehte er sich um und ich sah...




    Und genau an dieser Stelle stimmte etwas nicht mehr mit meiner Erinnerung. Denn anstelle von Albert lächelte mich nun Dominik inmitten einer zerstörten Kirche an. Ich versuchte meine Hand nach ihm auszustrecken, doch sein Bild verblasst, ehe ich es zu fassen bekam.




    "Dominik", schluchzte ich und sank weinend auf dem Kirchenboden zusammen. "Lass mich nicht allein", flehte ich ihn an, obwohl ich genau wusste, dass er mich nicht hören konnte. "Lass mich bitte nicht allein." Ich hob meinen Kopf leicht und blickte dem Bildnis Jesu Christis direkt in die Augen. "Bitte", flehte ich ihn an, "Herr, bitte führ Dominik zu mir zurück. Ich liebe ihn über alles. Ich liebe ihn, wie ich noch nie einen Menschen zuvor geliebt habe. Ohne ihn ist mein Leben so leer. Bitte, Herr, geleite ihn wohlbehalten zu mir zurück."




    Doch ich erhielt keine Antwort. Das Bild blickte weiterhin gütig auf mich hernieder, als ob es mir Trost spenden wollte. Doch das Lächeln wirkte eher traurig. Ich wollte die Hoffnung nicht aufgeben, doch mir wurde klar, dass ich vielleicht umsonst hoffte. Langsam richtete ich mich wieder auf und wischte mir den Staub von den Knien. Ein letztes Mal blickte ich auf das Altarbild, blickte auf das Herz auf der Brust unseres Herrn. Aber es geschah kein Wunder. Mir blieb nichts anderes übrig, als in die Weisheit und Güte des Dreifaltigen zu vertrauen.




    Und dann durchbrach ein Donnern die Stille. "Ich bin doch hier, Brodlowska." Ich erstarrte zu einer Salzsäule. Mein Herz begann so schnell zu rasen, dass ich fürchtete, meine Brust würde jederzeit bersten. Ich drehte meinen Kopf zur Seite und blickte über meine Schulter. Ganz vorsichtig, aus Angst, ich könnte mir die Stimme nur eingebildet haben. Mein Kopf war leicht gesenkt und erst, als ich mich vollständig umgedreht hatte, wagte ich es, ihn zu heben. Und vor ungläubigem Erstaunen blieb mein Mund offen stehen.




    In der Mitte des Ganges, zwischen all den Trümmern, stand er. Dominik. War das alles nur ein Traum? Spielten meine Sinne mir nur einen grausamen Streich? Die Männergestallt rührte sich nicht. Meine Knie begannen erneut zu zittern und ich drohte wegzuknicken. Doch dann setzte ich einen Schritt nach vorne und ging auf ihn zu. Erst einen Schritt, dann einen zweiten. Und plötzlich setzte sich auch die Männergestallt in Bewegung.




    Langsam, Schritt für Schritt, kamen wir aufeinander zu. Genau an dem Punkt, wo sich das Lang- und das Querschiff kreuzten, kamen wir zum stehen. In meinem Kopf drehte sich alles. Langsam streckte ich meine Hand aus, immer noch voller Angst, dass die Erscheinung sich in Luft auflösen könnte…dass alles nur Illusion war.




    Und dann spürte ich ihn. Dominik ergriff meine Hand und drückte sie. Seine Haut war rau und voller Schwielen, aber für mich war es die wundervollste Berührung, die ich jemals gespürt hatte. Ich drückte seine Hand immer fester und meine Fingernägel gruben sich in seien Haut. Doch Dominik zuckte nicht einmal zusammen, sondern sah mir nur in die Augen. Er war real. Dominik stand wirklich vor mir.




    Und dann zog er mich zu sich heran und küsste mich. Tränen schossen mir in die Augen, als seien spröden Lippen die meinen berührten. Dominik war wieder bei mir. Ich wusste nicht wie das möglich war, aber er war hier. Er lebte und er war gesund. Ich umklammerte ihn so fest ich es nur konnte, als ob ich ihn nur so daran hindern konnte, wieder zu verschwinden. Denn ich würde nie wieder zulassen, dass er von mir fortging.

  • Kapitel 174: Wiedervereint




    In den folgenden Stunden kamen und gingen meine Tränen mehrere Male. In der einen Sekunde war ich überwältigt vor Freude, Dominik wohlbehalten wieder bei mir zu haben. In der nächsten Sekunde überwältigten mich die Erinnerungen und die Angst der vergangenen Wochen. Aber jetzt, wo Dominik wieder bei mir war, würde ich alles überstehen können. Wir verließen die Kathedrale und ließen uns auf ein Stück Rasen direkt vor der Kirche nieder. Und schon bald lagen wir eng umschlungen nebeneinander.




    Ich berichtete Dominik über den Überfall auf Sierra Simlone Stadt und unsere Flucht nach SimCity. Schon alleine deswegen, weil er nun neben mir lag, erschien mir das Geschehene nur noch halb so schlimm. Und die Kinder waren auch in Sicherheit und bald wären wir alle wieder vereint. "Ich liebe die Dominik", flüsterte ich zum wiederholten Mal. "Das weiß ich doch, Brodlowska", erwiderte er und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Welche Frau könnte sich denn nicht in mich verlieben?" Er grinste breit und zwinkerte mir zu. Ein langer Kuss war meine einzige Antwort.




    Doch dann wurde Dominik ernst. "Ich habe nicht mehr geglaubt, dass ich dich und die Kinder noch einmal wieder sehen würde", gestand er mir und richtete sich auf. Ich hatte ihn bereits berichtet, was ich von seinem Aufenthalt in Simnistrien von meinem Vater wusste, also musste er nicht ganz am Anfang beginnen. "Als die Soldaten das Ölbohrturmgelände stürmten, dachte ich, dass ich sterben würde." Dominiks Tonfall konnte ich entnehmen, dass er diese Worte vollkommen ernst meinte und ganz instinktiv griff ich nach seiner Hand, um ihm Trost zu spenden. Als er zu erzählen fortfuhr, wurden seine Augen glasig.




    "Ich sprang von dem Wachturm in der Mauer, die das Bohrturmgelände umgab, herunter und lief einfach in den Dschungel hinein. Ich konnte hören, dass mindestens einer der Soldaten mich verfolgte. Aber in dem Dickicht verlor nicht nur ich schnell die Orientierung. Auch mein Verfolger hatte nach wenigen Metern jede Spur von mir verloren. Und vermutlich hielt er es nicht für notwendig, mich zu verfolgen. Der Dschungel ist gefährlich und er ging wohl davon aus, dass mich die wilden Tiere bald zur Strecke bringen würden."




    "Und damit hatte er gar nicht einmal so Unrecht. Ich lief immer weiter, so weit weg von dem Bohrturm, wie ich nur konnte. Die Schrei der Ölmitarbeiter und die Schüsse aus den Waffen der Simnistrier klangen mir noch deutlich in den Ohren. Aber ich wusste, dass ich als einzelner Mann nichts unternehmen konnte. Die Mission war gescheitert und mein einziges Ziel bestand nur noch darin, zu dir und den Kindern zurückzukehren. Ich lief die halbe Nacht, ohne auch nur eine Vorstellung davon zu haben, wo ich eigentlich hin wollte. Und irgendwann brach ich vor Erschöpfung einfach zusammen. Ohne ein Feuer, dass die wilden Tier verscheucht hätte, grenzt es an ein Wunder, dass ich diese Nacht überlebte."




    "Als ich am nächsten Morgen erwachte, wünschte ich fast, ich wäre bei dem Überfall tatsächlich gestorben. Jeder einzelne Knochen in meinem Körper schmerzte und die Erinnerung an den Überfall ließ mich fast wahnsinnig werden. Doch dann rief ich mir dich, Sky, Klaudia und Kinga ins Gedächtnis. Und da wusste ich, dass ich all meine Kraft aufbringen musste, um zu euch zu gelangen. Aufgrund der hohen Bäume konnte ich mich im Dschungel nicht an der Sonne orientieren. Ich wusste also nicht einmal, in welche Richtung ich lief. Bis ich dann auf einen breiten Fluss stieß. Und da jeder Fluss zum Meer führt, entschloss ich mich einfach, seinem Lauf zu folgen. Oft genug musste ich direkt in das Wasser steigen, um weiter voran zu kommen, da hungrige Tiere nur darauf warteten, über mich herfallen zu können."




    "Doch es gelang mir den Räubern aus dem Weg zu gehen. Ich hatte gelernt, wie man ohne Feuerzeug im Dschungel Feuer machen konnte, und mit Stöcken und Steinen gelang es mir, selbst ein Rudel Wölfe in die Flucht zu schlagen. Doch um zu überleben, musste ich selbst zum Räuber werden. Hier und dort fand ich Früchte und Beeren, von denen ich wusste, dass sie essbar waren. Aber meine Kräfte schwanden und ich begann, wilde Hühner und andere Vögel zu jagen. Zunächst mit wenig Erfolg, aber ich wurde schnell geschickter darin, mich lautlos an die dummen Tiere heranzuschleichen."





    "Dennoch fiel die Jagd oft genug nicht zu meinen Gunsten aus. Und der Weg entlang des Flusses war nicht einfach. Mehrmals stürzte der Fluss in einem meterhohen Wasserfall eine Felsklippe hinunter und ich musste mir mühevoll einen anderen Weg suchen, um seinen Lauf weiter folgen zu können. Es war schon schwer genug, das Dickicht des Dschungels zu durchdringen. Und noch mühevoller wurde es, wenn sich ein Felsmassiv in meinen Weg stellte und die einzige Möglichkeit, dieses zu überwinden darin bestand, darüber hinweg zu klettern."




    "Doch dann erreichte ich endlich die Küste. Das Fortkommen entlang des Strandes war deutlich einfacher und schließlich erblickte ich das erste Anzeichen von menschlicher Zivilisation nach gut drei Wochen der Einsamkeit im Dschungel. Am liebsten wäre ich auf das kleine Dorf zugerannt, doch dafür fehlte mir schlicht die Kraft."




    "Ich schaffte es gerade noch, mich zu den baufälligen Lagerhäusern zu schleppen. Doch dort brach ich dann einfach zusammen. Meine Kraftreserven hatten bis hierhin gereicht, doch nun waren sie vollständig aufgebraucht. Zum Glück fand mich eine Dorfbewohnerin und rief sofort nach Hilfe. Es wäre ein grausamer Scherz des Schicksals gewesen, wenn ich nach all den Gefahren im Dschungel schlussendlich hinter Getreidesäcken versteckt, inmitten von Menschen verreckt wäre."




    "Irgendwann wachte ich in einer heruntergekommenen, aber sauberen und ordentlichen Hütte auf. Es stellte sich heraus, dass die Frau, die mich bei den Lagerhäusern gefunden hatte, Cecilia, mich bei sich aufgenommen und mich gepflegt hatte."




    "Sie war es auch, die mich in den nächsten Tagen wieder aufpäppelte. Ihrem guten Essen ist es zu verdanken, dass ich schnell wieder zu Kräften kam. Offenbar hatte ich bei meiner Wanderung im Dschungel die simnistrische Grenze überquert und befand mich nun in Venezuela. Mein Spanisch ist zwar nicht das allerbeste, aber es reichte, um sich mit den Einheimischen zu verständigen. So erfuhr ich auch, dass Simnistrien nicht nur die simnationalen Bohrtürme überfallen hatte, sondern in der SimNation eingefallen war."




    "Sobald ich diese Nachricht vernommen hatte, war es für mich klar, dass ich nicht länger in dem Dorf bleiben konnte, auch wenn ich mich nachwievor schwach fühlte. Cecilia vermittelte mich an einem Bootsbesitzer, der mir helfen konnte, das Dorf und Venezuela zu verlassen. Über den Landweg durch den Dschungel war das Dorf nämlich kaum zu erreichen."




    "Es kostet mich einige Überzeugungskraft, aber ich konnte Teobaldo, den Bootsbesitzer, schlussendlich doch dazu überreden, mich mit seinem Boot in die USA zu bringen. Allerdings tat er das nicht aus reiner Menschenfreude. Ich musste ihm eine hohe Summe in Aussicht stellen. Die Überfahrt in die USA erwies sich dann auch als kein Zuckerschlecken. Die See war rau, aber wir landeten nach gut ein eineinhalb Wochen auf hoher See in Florida. Dort wand ich mich sofort an die simnationale Botschaft, hob das versprochene Geld für Teobaldo ab und nahm dann den erstbesten Flug in die SimNation."




    "Ich bin heute erst in Simtropolis gelandet. Ich musste schnell einsehen, dass es unmöglich ist, in die Sierra Simlone zu gelangen. Dann habe ich von dem Flüchtlingslager erfahren und war gerade auf dem Weg dorthin, als ich an dieser Kathedrale vorbeikam." Irgendwann während Dominiks Erzählung hatte ich ihn in meinen Arm geschlossen und drückte ihn nun fest an mich. Er sprach zwar sehr gelassen, aber ich konnte dennoch spüren, wie er am ganzen Körper zitterte. "Und dann sah ich das rote Auto dort stehen. Ich weiß auch nicht warum, aber mir fiel sofort ein, dass deine Schwester genau dieses Auto fährt. Und als ich dann auch noch das Kfz-Kennzeichen von SimCity erblickte, bin ich einfach in die Kirche gegangen und habe dich dort gefunden. Wie ich schon sagte, es grenzt an ein Wunder."




    Wir langen noch eine Weile auf dem Rasen, bis der Morgentau auf dem Gras begann durch unsere Kleidung hindurch zu dringen. Ich stand auf, streckte Dominik meine Hand entgegen und half ihm auf. "Es ist Zeit, dass mir zu den Kindern fahren. Sie haben ihren Vater schrecklich vermisst", sagte ich und Dominik widersprach mir nicht. Hand in Hand schlenderten wir zu dem parkenden Auto und brachen auf nach SimCity.

  • Kapitel 175: Kapitulation




    Früh am Morgen kamen wir in SimCity an. Meine Tante Ewa wartet bereits im Haus meiner Schwester auf mich und gemeinsam konnten wir uns sofort auf den Weg in das sichere Versteck in den Wäldern Simskelads machen, wo die Kinder bereits warteten. Natürlich mussten sie nicht, dass Dominik mich begleiten würde. "Papa!", kreischte Klaudia, als Ewas Wagen vor der Holzhütte hielt und Dominik ausstieg. Sky hörte den Schrei seiner Schwester und beide rannten auf ihren Vater zu und zerdrückten ihn fast mit ihren Umarmungen. Ich war überglücklich. Noch vor wenigen Stunden hätte ich es nicht für möglich gehalten, meine Familie wieder vereint zu sehen.




    Obwohl die Hütte winzig war und kaum Platz für uns acht bot, war die Zeit, die wir dort verlebten, einfach wundervoll für mich. Endlich war meine Familie wieder vereint. Und wir waren in Sicherheit. In der Abgeschiedenheit von Simskelad war von den Kriegsgeschehnissen nichts zu spüren. Hier gab es keine Luftangriff, keine Notwendigkeit, sich in Bunkern zu verstecken. Fast hätte man die Schrecken der letzten Wochen vergessen können.




    Doch der Krieg tobte unerbittlich weiter. In der Waldhütte hatten wir sowohl Zugang zu Fernsehen, wie auch zum Radio, und waren so ständig auf dem neusten Stand. Zusätzlich versorgte uns Joanna mit exklusiven Nachrichten, die sie aus ihren vielen geheimen und zum Teil obskuren Quellen bezog. Als Dominik und ich in der Hütte eintrafen, waren der Großteil der Sierra Simlone und Teile der Provinz Matosimhos bereits fest in der Hand der Simnistrier.




    In den folgenden Tagen wurden die Luftangriffe auf zahlreiche Städte der SimNation fortgesetzt. Besonders stark traf es SimVegas, das unmittelbar an der Kampffront lag und über keine bodengestützte FLAG-Abwehr verfügte. Zunächst hielt die Luftabwehr der restlichen SimNation, doch immer wieder gelang es Jäger- und Bomberflotten in den simnationalen Luftraum einzudringen und Großstädte wie, Dallasims, SimCity und Simtropolis zu bombardieren. Der Luftraum um die Hauptstadt der SimNation, Santa Regina, konnte zunächst gesichert werden und so blieb die Zentralprovinz Simtierra vorerst von den Auswirkungen des Krieges verschont. Dies wurde aber zunehmend durch den Abzug der Luftstreitkräfte aus den übrigen Provinzen erreicht, was diese noch anfälliger für simnistrische Luftangriffe machte.




    Die anhaltenden Luftangriffe zeigten allerdings nicht den gewünschten Erfolg und bald begann die simnistrische Armee mit großangelegten Bodenoffensiven. Mit Panzerbrigaden und Infanterie drangen sie aus der Sierra Simlone nach Westen und in den Norden vor. Die simnationale Armee stellte sich ihnen erbittert entgegen, doch aufgrund des seit Jahren unterfinanzierten Verteidigungssektors war die Ausrüstung der SimNation hoffnungslos veraltet. Überraschend kam es auf einem simnistrischen Flugzeugträger und einem Schlachtkreuzer gleichzeitig zu einer gewaltigen Explosion. Beide Schiffe sanken im Golf von Cádiz. Der simnationale Militärstab nutzt die Verwirrung in den simnistrischen Reihen zu einer gewaltigen Gegenoffensive. Doch das Gefecht, das als Schlacht von SimVegas in die Geschichtsbücher eingehen sollte, endete für die SimNation in einem Desaster, das tausende von Soldaten das Leben kostete.




    Damit war die Moral der SimNation endgültig gebrochen. Obwohl weiterhin gekämpft wurde, verlor die SimNation Tag für Tag an Boden und musste sich weiter zurückziehen. Erst fiel SimVegas, dann Flamingo Beach und Dallasims. Und die simnistrische Armee rückte immer weiter auf Simtropolis vor und hinterließ auf ihrem Marsch eine Spur der Verwüstung. Die Menschen versuchten verzweifelt nach Norden zu fliehen, doch auch dort waren sie nicht sicher. Die Luftangriffe auf SimCity, Simtropolis und weitere Großstädte wurden verstärkt. Und zum ersten Mal fielen Bomben auf Santa Regina. Beschränkten sich die Bombardements zunächst noch auf Industrieanlagen, so wurden zunehmend auch gezielt Wohngebiete ins Visier genommen. Bei Luftangriffen auf Estella Grande am 19. August wurde fast die gesamte Innenstadt zerstört. Rund 500 Zivilisten verloren im Bombenhagel ihr Leben. Auch Santa Regina wurde an diesem Tag schwer getroffen und das Parlamentsgebäude brannte vollständig aus. Diese Angriffe stellten den Höhepunkt des Krieges dar. Am nächsten Tag, am 20. September 2048, erklärten Fürst Ferdinand III und Fürstin Domenica die bedingungslose Kapitulation der SimNation. Die Kampfhandlungen wurden noch am selben Tag eingestellt. Damit endete dieser Konflikt, der als Zweiter Simnistrischer Krieg in die Geschichtsbücher der SimNation eingehen sollte, mit einer niederschmetternden Niederlage für die SimNation.







    Noch am selben Tag ließ uns Joanna abholen und wir konnten nach SimCity zurückkehren. Auch hier gab es erhebliche Schäden zu verzeichnen, aber das Haus meiner Schwester, sowie das gesamte Viertel, waren unversehrt geblieben. Der Herbst rückte in immer größeren Schritten vor. Die Bäume begannen sich bereits gelb zu färben und auch die Sonne hatte an Kraft verloren. Trotzdem genossen Klaudia und ich die letzten warmen Sonnenstrahlen im Garten und Orion spielte am Kanal und versuchte kleine Fische zu fangen.




    Die Kinder konnten immer noch nicht glauben, dass ihr Vater endlich wieder bei uns war. Und dabei hatten sie nun schon über drei Wochen mit Dominik verbracht und die gemeinsame Zeit mit ihm in unserem Versteck im Wald ausgiebig ausgekostet. Dennoch, irgendwie ließ sie die Angst nicht los, dass Dominik wieder fortgehen könnte. Und schließlich brachte es Klaudia zur Sprache. "Wann heiratest du Papa endlich?", fragte sie geradeheraus. "Er hat dich bereits vor über zwei Jahren gefragt. Ich habe nie verstanden, warum ihr nicht schnell geheiratet hab, noch bevor Papa nach Simnistrien geflogen ist. Und jetzt wo er wieder zurück ist und der Krieg ein Ende gefunden hat, da begreife ich erst Recht nicht, warum ihr nicht sofort heiratet."




    Ich war sprachlos, denn mit so einer Ansage hatte ich nicht gerechnet. "Aber der Krieg ist doch gerade erst vorbei", stammelte ich. "Und der Frieden ist noch sehr brüchig. Wer weiß, wie lange er halten wird." "Na, dann solltet ihr euch um so mehr mit dem Heiraten beeilen", erwiderte Klaudia und ich konnte so etwas wie Trotz in ihrer Stimme heraushören.




    "Du willst einfach nicht, stimmt's?", fragte sie beleidigt und erhob sich vom Tisch. "Wahrscheinlich wünscht du dir doch, dass du bei diesem ollen Kasimir in Sierra Simlone Stadt geblieben wärst." "Aber...Schatz...nein", stammelte ich. Glaubte sie das wirklich? Glaubte sie wirklich, ich würde ihren Vater nicht lieben und mich nach Kasimir sehnen? Doch ich kam nicht dazu, sie zu fragen. Ehe ich mich wieder gefasst hatte, war sie auch schon wütend davon gestapft und hatte sich schmollend ins Haus zurückgezogen.




    Im ersten Moment wollte ich ihr hinterherlaufen, doch ich erkannte, dass das zum jetzigen Zeitpunkt wenig Sinn gehabt hätte. Sie war im Moment wütend auf mich und wenn ich versuchen würde, auf sie einzureden, dann würde ich es nur noch schlimmer machen. Dennoch stand ich auf und blickte auf das Wasser im Kanal herab, das gemächlich an mir vorbeifloss. Hatte ich wirklich ein Verhalten an den Tag gelegt, dass die Kinder an meiner Liebe zu ihrem Vater zweifeln ließ? Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht bemerkte, wie jemand von hinten an mich herantrat und seinen Kopf über meine Schulter beugte. "Na, denkst du gerad an dein Kasimir-Hasi-Bärchen?"




    Vor Schreck schrie ich auf und verlor fast das Gleichgewicht. Doch Dominik gelang es noch in letzter Sekunde, mich festzuhalten. Er kam sich wohl sehr witzig vor, denn er hörte mit dem Kichern gar nicht mehr auf. Die Vorstellung, mich inmitten der Algen und Seerosen im Kanal sitzen zu sehen, musste ihn wohl sehr amüsiert haben. "Tut mir leid, Brodlowska, ich wollte dich nicht erschrecken", erklärte er lachend. "Aber du standst da so gedankenversunken, diese Gelegenheit dich zu erschrecken konnte ich mir einfach nicht entgehen lassen."




    Doch mir war nicht nach Lachen zumute. Dass erkannte auch Dominik schnell und nahm sanft meine Hand. "Ich habe dein Gespräch mit Klaudia mitverfolgt", gestand er. "Ich zweifle nicht im mindesten an deiner Liebe, Brodlowska. Aber ich kann Klaudias Bedenken auch nicht von der Hand weisen. Was hält uns davon ab, genau jetzt zu heiraten? Es fallen keine Bomben mehr und wir sind hier bei deiner Familie. Wir haben schon so viele Jahre verschwendet und in den letzten Monaten haben wir hautnah miterlebt, wie unser Leben von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gedreht werden kann." Ich sah Dominik unsicher an. So ernst wie eben, hatte er noch nie zuvor mit mir gesprochen. Er wollte mich heiraten und das am liebsten sofort.




    Und mir fiel einfach kein vernünftiger Grund mehr ein, warum wir es nicht tun sollten. "Okay, Dominik, dann lass uns heiraten. Ich bin bereit." Ein breites Grinsen erschien auf Dominiks Lippen und er erinnerte mich plötzlich an den unverschämten Jungen, den ich vor so vielen Jahren auf einem Grillfest zum ersten Mal begegnet war. Er erinnerte mich an den Jungen, den ich zuerst so sehr verabscheute, den ich im Laufe der Zeit aber mehr und mehr zu lieben gelernt hatte, und ohne den ich mir heute mein Leben nicht mehr vorstellen konnte. Er legte seien Hände um meine Taille und streichelte mich, während ich mit meinen Fingerspitzen seine Wange liebkoste und meine Hände schließlich auf seinen Schultern ruhen ließ. Und wie zum Zeichen der Zustimmung zu unserer Hochzeit, erklangen im Hintergrund die Glocken von St. Marien.

  • Kapitel 176: Mit diesem Ring




    Die Idee die Hochzeit hier und jetzt duchzuführen wurde vom Rest der Familie begeistert aufgenommen. Sofort begannen Klaudia, meine Schwester und Desdemona mit den Planungen. Die Idee einer schlichten standesamtlichen Trauung im Rathaus wurde schnell verworfen. Ebenso konnte ich mich nicht damit durchsetzen, kein weißes Kleid zu tragen. Ich fand die Vorstellung zunächst befremdlich, mit Mitte Vierzig und als Mutter von drei Kindern, noch einmal in Weiß vor dem Altar zu stehen. Aber als ich dann am Tag unserer Hochzeit, in dem langen weißen Kleid und Spitzenschleier auf dem Kopf, begleitet von meinem Vater den Mittelgang der Kirche entlang schritt, war ich überglücklich, dass Klaudia so lange auf mich eingeredet hatte.




    Solch eine Hochzeit hatte ich mir als junges Mädchen immer gewünscht. Als ich Dominik zum ersten Mal heiratete, da liebte ich ihn noch nicht. Ich wusste, dass unsere Ehe nur eine Farce war und ich sie deshalb nie vor Gott schließen könnte. Doch diesmal war alles anderes. Ich liebte Dominik über alles und ich war bereit, ihm ein Versprechen vor Gott zu geben. Als ich auf den Alter zuschritt, wanderte mein Blick über die Sitzbänke der Kirche, in der sich trotz der eilig einberufenen Trauung, viele Freude eingefunden hatten. Jetzt wo der Krieg vorüber war, war es Orion gelungen, Dominiks Eltern, Tristan und auch meine beste Freundin Gerda nach SimCity zu holen. Ich war überglücklich, sie an diesem besonderen Tag an meiner Seite haben zu können. Und selbst meine Tante Kasia, Paps Schwester, war extra aus Warschau angereist.




    "Halt, Brodlowska, bitte kurz stehen bleiben", forderte Dominik mich überraschend auf. Ich blickte ihn verwundert an, weil ich nicht ganz verstand, was er mit dieser Aktion bezweckte. Derweil kniff Dominik ein Auge zusammen und formte aus seinen Fingern einen Rahmen und blickte hindurch. "Das nenne ich mal ein wunderschönes Bild", sagte er anerkennend und entlockte mir damit ein strahlendes Lächeln. "Gut, Brodlowska, du hast den optischen Test bestanden. Ich denke, mit dir als Frau an meiner Seite, werde ich mich auf der Straße ruhig blicken lassen können. Herr Pfarrer, sie können dann loslegen."




    Sky konnte sich das Lachen kaum verkneifen und biss sich daher auf die Hand. Und auch mein Bruder grinste fröhlich vor sich hin. Orions Mutter Lucy und seine beiden Halbschwestern Annabelle und Cora guckten hingegen recht verwundert. Sie kannten Dominiks Humor bislang nicht und waren...nun...etwas verwundert, um es freundlich auszudrücken. Doch ich wusste, dass solche Sprüche ganz einfach Dominiks Art waren, mir seien Liebe zu zeigen. Und dafür liebte ich ihn.




    Mein Vater begleitete mich bis an den Altar und übergab mich dort meinem zukünftigen Ehemann. "Pass gut auf mein Mädchen auf", sagte er zu Dominik. Sein Tonfall ließ erkennen, dass er überzeugt davon war, dass Dominik genau das tun würde. Zur Bestätigung nickte Dominik meinem Vater kurz zu und reichte mir dann seine Hand. Ich übergab den Brautstrauß an meinen Vater, ergriff Dominiks Hand und gemeinsam lauschten wir den Worten des Priesters.




    Ich konnte mich hinterher an den Großteil des Gottesdienstes und der Predigt nicht mehr erinnern. Aber Dominiks Worte bei dem Austausch unserer Ringe, gruben sich tief in mein Gedächtnis. "Brodlowska, diesen Ring, den ich hier in meiner Hand halte, habe ich schon vor vielen Jahren gekauft. Damals, direkt nach der Geburt unserer ersten Tochter, die heute leider nicht bei uns sein kann, wollte ich dir diesen Ring geben. Doch zu dem Zeitpunkt waren wir noch nicht füreinander bestimmt." Die Erwähnung von Kinga versetzte mir einen kurzen Stich. Ich hatte Joanna darum gebeten, dass sie ebenfalls zur Hochzeit kommen könne, doch meine Schwester hatte diese Bitte erneut abgelehnt. Ihrer Ansicht nach, war Kinga noch lange nicht bereit, wieder ein Mitglied unserer Familie zu werden. "Doch ich wusste immer, dass es eines Tages so weit sein würde und habe diesen Ring für dich aufbewahrt. Und heute hat das Warten endlich ein Ende. Oxana Brodlowska, mit diesem Ring nehme ich dich zu meiner Frau, die ich auf ewig lieben werde."




    "Dominik, ich weiß, dass ich dir das Leben nicht immer leicht gemacht habe. Ich habe Fehler begangen, die so unverzeihlich sind, dass ich niemals zu hoffen gewagt hätte, dass du mir eines Tages wieder vertrauen könntest. Ich verspreche dir, dass ich ihn Zukunft immer ehrlich zu dir sein werde und das keine Geheimnis mehr zwischen uns stehen soll. Ohne dich fühlt sich mein Leben leer an. Du bringst mich jeden Tag aufs Neue zum Lachen und machst mich glücklich. Und ich hoffe, dass auch ich dich glücklich machen werde, für den Rest unseres Lebens. Dominik Blech, mit diesem Ring nehme ich dich zu meinem Mann, den ich auf ewig lieben werde." Und mit diesem Worten streifte ich Dominik seinen Ehering über den Ringfinger.





    "Hiermit erkläre ich euch beide nun zu Mann und Frau", verkündete der Priester. "Was Gott zusammengeführt hat, dass soll der Mensch nicht trennen. Sie dürfen die Braut nun küssen." Das ließ Dominik sich nicht zweimal sagen. Er legte die Hände an meine Hüfte und zog mich zu sich heran. Noch nie hat sich ein Kuss von ihm so gut angefühlt, wie in diesem Moment. Ich schmolz förmlich dahin und wie von Geisterhand geführt, hob sich mein linker Fuß zum Himmel.




    Draußen vor der Kirche hatte meine Tante Kasia einen alten polnischen Brauch für uns vorbereitet. Alle Gäste hatten Kleingeld in die Hand gedrückt bekommen, und warfen es vor uns auf den Boden, als wir als letztes die Kirche verließen. Sky hatte so viel Freude daran, dass er immer wieder Münzen hinterherwarf. Dominik und ich mussten das Geld nun schnell aufsammeln und zwar in einem Wettbewerb. Wer am Ende das meiste Geld zusammen hatte, der würde auch in Zukunft Herr über die gemeinsamen Finanzen sein. Und Dominik gelang tatsächlich der Sieg. Nun gut, sollt er unser Konto doch verwalten, solang ich darüber entscheiden dufte, wofür wir das Geld ausgaben.




    Die Hochzeitsfeier würde gleich im Anschluss im Garten meiner Schwester stattfinden. Es war zwar bereits Herbst, aber die Nächte waren immer noch recht warm und für dieses Wochenende war kein Regen angekündigt. Die Gäste gingen schon einmal vor, immerhin lag das Haus nur einige hundert Meter von der Kirche entfernt. Die engste Familie zog sich derweil noch einmal in den Park hinter der Kirche zurück und Tristan schoss für unser Familienalbum eine Vielzahl wunderschöner Erinnerungsfotos.

  • Kapitel 177: Für den Rest unseres Lebens




    Nachdem die Hochzeitsbilder geschossen waren, schlossen wir uns wieder der restlichen Hochzeitsgesellschaft an, die sich bereits vor Joannas Haus versammelt hatte. Und unter Applaus und Jubel der Gäste eröffneten Dominik und ich die Feier. Sky schien erst in diesem Moment zu begreifen, dass ich seinen Vater tatsächlich geheiratet hatte und nun seine richtige Mutter geworden war. Und dieser Gedanke schien ihm im ersten Moment nicht so ganz zu schmecken. Doch ich nahm es ihm nicht übel. Auch wenn er seine leibliche Mutter Ingrid kaum kannte, so war sie doch seine Mutter. Und mit Dominiks und meiner Hochzeit war sie nun noch weiter aus seinem Leben verschwunden.




    Zum Glück war er deswegen nur einen ganz kurzen Moment traurig. Denn spätestens als das Essen serviert wurde, war Sky wieder begeistert von der Hochzeit. Zusammen mit seiner Cousine Magda ging er zum Büffet und betrachtete fasziniert die Hummer. Die sahen zwar lustig aus, aber wer wollte schon Hummer, wenn er auch Spaghetti Bolognese haben konnte? Erwachsene waren manchmal wirklich seltsam.




    Nun, ich fand den Hummer köstlich. Doch das Essen war eigentlich nur Nebensache. Ich genoss es einfach nur, so viele geliebte Menschen um mich versammelt zu sehen. Nach den Schrecken des Krieges war diese Feier eine Wohltat für uns alle. Und meine Tante Kasia hatte ich nun schon seit einigen Jahren nicht mehr gesehen. Ich fand es wunderbar, dass sie ohne zu zögern in ein Flugzeug gestiegen und von Warschau nach SimCity geflogen war, nur um meiner Hochzeit beizuwohnen. Immerhin war der Frieden mit Simnistrien noch sehr zerbrechlich und die SimNation nur einen Wimpernschlag von einer erneuten Katastrophe entfernt.





    Aber solch trüben Gedanken wollte ich an diesem Tag nicht nachhängen. Dominik hatte wohl genau erkannt, dass ich wieder einmal begann, viel zu viel nachzudenken. Also kam er an den Tisch, an dem ich mit Klaudia und meiner Tante saß, und reichte mir die Hand. Meine Schwiegermutter Glinda muss Dominiks Gedanken gelesen haben, denn sie stand augenblicklich bei der Stereoanlage bereit und legte Musik für uns auf. Und nicht etwa einen schnöden Walzer, sondern gleich mitreisende Klänge. "Ihr beiden macht das genau richtig", sagte sie zu uns, als mir ausgelassen zu tanzen begannen. "Und all ihr andern, los auf die Tanzfläche", forderte sie die Gäste auf. "Das Büffet wird in einer Stunde auch noch da stehen."




    Viel Überzeugungskraft brauchte sie dafür nicht. In wenigen Augenblicken füllte sich die Tanzfläche. Jeder tanzte, wie er konnte und wie es ihm Spaß machte. Ob im Paar, wie meine Schwester mit ihrem Mann, oder alleine, wie der Mann meiner Tante Ewa, ob jung, wie Jakób, oder alt, wie meine Tante Kasia. Alle hatten ihren Spaß.




    Und Dominik ganz besonders. Und um das unter Beweis zu stellen, vollführte er mit mir die wildesten Figuren. Vor Schreck und Lachen zugleich, hätte ich fast das Gleichgewicht verloren, als er mich nach hinten fallen ließ und erst in letzter Sekunde in seinen starken Arm auffing.




    Langsam setzte die Abenddämmerung ein und schließlich wurde es dunkel. Doch die Tanzfläche leerte sich nicht. Ich hatte ganz vergessen, wie viel Freude es machte, die ganze Nacht durchzutanzen. Und an Tanzpartnern mangelte es mir nicht. Als Braut war ich die begehrteste Tänzerin an diesem Abend. Dominik, mein Schwager Tobias, mein Bruder Orion, mein Schwiegervater Anan und mein Vater, sie alle mussten regelrecht darum kämpfen, wer als nächstes mit mir tanzen durfte.




    Schließlich wurde mir eine kurze Verschnaufpause gegönnt, als Joanna zur Sektflasche griff und einen Toast auf das frisch vermählte Brautpaar ausbrachte.




    Und in Anschluss stießen Dominik und ich noch einmal ganz für uns alleine an. Ich war in diesem Augenblick so froh, dass Klaudia uns zu dieser Hochzeit gedrängt hatte. Es gab wirklich keinen vernünftigen Grund, warum Dominik und ich hätten noch länger warten sollen. Aber ohne ihr Einwirken hätten wir sicherlich immer weitere Gründe dafür gefunden, warum der richtige Zeitpunkt für die Hochzeit noch nicht gekommen war.




    Und dies war der richtige Zeitpunkt. Trotz der schwierigen politischen Lage, hatte es selbst meine beste Freundin Gerda geschafft, nach SimCity zu kommen. Aufgrund des Hochzeitstrubels, hatte ich mich noch gar nicht richtig mit ihr unterhalten können. Und ich sog begierig jede noch so kleine Neuigkeit in mich auf, die sie über den Kriegsverlauf in der Sierra Simlone und das Schicksal meiner Freunde und Nachbarn zu berichten hatte. Erleichtert hörte ich, dass es ihrer Familie gut ging. Niemand war verletzt worden. Hans und ihr Schwiegersohn Franz hatten die simnistrische Gefangenschaft wohlbehalten überstanden und Gerdas Farm hatte keinerlei Schaden genommen. Es schien so, als ob die Kappes diesen unsäglichen Krieg bald zu den Akten würden legen können.




    Und auch Tristan ging es gut. Zum Glück ist er bei dem Raketenangriff auf den Bohrturm nicht zu schwer verletzt worden. Sein Beinbruch war wieder verheilt und die meisten Kratzer und blauen Flecken waren ebenfalls wieder verschwunden. Er konnte sogar ausgiebig mit mir tanzen. Frank hatte sich vorbildlich um ihn gekümmert.




    Auch Klaudia genoss die Feier sehr. Endlich hatte sie einen Grund, sich so richtig fein zu machen. Ihre Cousine Magda hatte ihr dabei geholfen, ein Kleid auszusuchen und ihr etwas von ihrem Schmuck geliehen. Als Klaudia sich das erste Mal im Spiegel gesehen hatte, konnte sie kaum glauben, dass dieses schöne Mädchen wirklich sie selbst war. Für einen kurzen Moment hatte sie befürchtet, dass sich Magda einen schlechten Scherz mit ihr erlauben würde und dass ihre Cousine wollte, dass sie sich lächerlich machte, weil sie sich wie ein Pfau herausputzte. Doch dieser Gedanke verschwand schnell, als sie von allen Seiten Komplimente erhielt. Und so bildete sie an diesem Abend mit Magda und Tante Ewas Tochter Olivia ein unzertrennliches Dreiergespann und hatte sehr viel Spaß.




    Auf eine Hochzeitstorte verzichteten wird diesmal. Ich konnte mich nämlich noch allzu gut daran erinnern, wie wir die Reste unserer ersten Hochzeitstorte noch Monate später essen mussten, weil so viel davon übrig geblieben war. Aber um Mitternacht durfte Nachttisch trotzdem nicht fehlen. Wobei die Männer auch dann immer noch eher Lust auf etwas Deftiges hatten und über die Spaghettireste herfielen.




    Langsam löste sich die Hochzeitsgesellschaft auf und etwa gegen drei Uhr nachts verabschiedeten sich auch die letzten Gäste. Ich war froh, dass Joanna einen Buttler beschäftigte und wir uns um das Aufräumen keinen Kopf machen mussten. Leichte Panik brach aus, als wir Sky auf einmal nicht mehr wiederfinden konnten. Doch der kleine Kerl war einfach nur so müde geworden, dass er direkt unter dem Tisch eingeschlafen war. Er wachte nicht einmal auf, als Dominik ihn hochhob und ihn nach oben in sein Bett trug.




    Schlussendlich lagen auch Dominik und ich in unserem Bett. Desdemona war mit Gerda und meinem Bruder in einem Hotel untergekommen und so hatten Dominik und ich das Zimmer für uns allein. Wir waren viel zu erschöpft, um in dieser Nacht auch nur daran denken zu können, unseren ehelichen Pflichten nachzukommen. Das hatten wir in den vorrangegangenen Nächten ohnehin ausgiebig getan. Ich war einfach nur froh, neben Dominik, meinem Ehemann, zu liegen, seien Hand zu halten und genau zu wissen, dass wir für den Rest unseres Lebens zusammen bleiben würden.