Kapitel 62: Schlaflose Nächte
Die Kinder merkten sofort, dass etwas nicht stimmte, als ich Gerdas Krankenzimmer betrat. Ihr Zustand war immer noch unverändert, aber die Nachricht von Alberts plötzlicher Not-OP traf sie schwer. Die Operation zog sich hin und es wurde Mittag, ohne dass wir irgendeine Information erhielten. Wir gingen alle in die Krankenhaus Cafeteria, aber wirklichen Hunger hatte niemand. Alle kauten eher lustlos auf ihren Burgern. Ansonsten wurde geschwiegen. Selbst Hans konnte seine Besorgnis nicht mehr mit seichtem Smalltalk überdecken.
Das Essen war nur eine kurze Ablenkung und dann hieß es weiter bangen. Die älteren Mädchen unterhielten sich gedämpft miteinander und sahen immer wieder nach ihrer Mutter, die immer noch regungslos in ihrem Bett lag. Hans wanderte nervös von einem Ende des Krankenhauses zum nächsten und wirkte sehr gedankenverloren. Nur Elvira entspannte sich. Das war aber nicht zuletzt Kingas Werk, die ihre Freundin aufheiterte und sie mit Spielen von den Gedanken an ihre Eltern ablenkte.
Dann endlich kam Roland mit einem älteren Arzt aus dem OP, den er als Dr. Mycin vorstellte. "Dr. Neopold Mycin ist der beste Hirnchirurg in der ganzen Sierra Simlone", erklärte er mir stolz. "Er war es, der Albert gerade operiert hat." Dr. Mycin reichte mir die Hand und begann dann sofort von der Operation zu berichten. "Herr Kappe hatte ein Hirn-Aneurysma, das zu einem pulsierenden Hämatom im Gehirn geführt hat. Doch dank der schnellen Reaktion von Dr. Reichardt konnten wir alle Schäden wieder beheben. Die Operation ist sehr gut verlaufen und Herr Kappe sollte sich schnell wieder erholen."
Kaum war der andere Arzt verschwunden, fiel ich Roland überglücklich um den Hals. "Und ich dachte schon, dass Albert sterben würde", gestand ich ihm schluchzend, diesmal aber vor Freude. Und auch die Kinder atmeten erleichtert auf. Miranda war sogar so glücklich, dass sie sich Elvira schnappte und ein Tänzchen mit ihr aufführte und die Kleine freute sich riesig. Nur Desdemona schien nicht ganz so glücklich. Wahrscheinlich musste sie selbst in diesem herrlichen Moment an ihre arme Mutter denken, deren Zustand immer noch ungewiss blieb.
Doch die Hochstimmung verflog sehr schnell wieder, als uns bewusst wurde, dass weder Albert und schon gar nicht Gerda über dem Berg waren. Wir durften nur ganz kurz zu Albert, doch er war nach seiner Operation immer noch nicht bei Bewusstsein. Und auch Gerdas Zustand blieb unverändert schlecht. Wir blieben bis zum späten Abend im Krankenhaus, bis Roland uns versicherte, dass wir ruhigen Gewissens nach Hause fahren könnten. Sollte sich irgendetwas am Zustand von Albert und Gerda ändern, würde er sofort bescheid geben. Ich kochte noch ein Abendessen für die Kinder und hatte eigentlich vor, danach nach Hause in die Simlane zu gehen, da ja jetzt geklärt war, was mit Albert und Gerda passiert war. Aber es kam anders. Desdemona warf beim Essen ihrer Schwester einen fragenden Blick zu und als diese kaum merklich nickte, fragte sie mich, ob ich noch etwas bei ihnen bleiben könnte? Wie hätte ich eine solche Bitte abschlagen sollen?
Nach dem Essen saßen wir noch gemeinsam vor dem Fernseher, aber wirkliches Interesse an der Sendung zeigten höchstens Kinga und Elvira. Hans war der Erste, der in seinem Zimmer verschwand. Als Kinga und Elvira dann beide auf dem Teppich einnickten, machten sich auch Desdemona und Miranda fürs Bett fertig. Die beiden Kleinen ins Bett zu bekommen war nicht schwer, da sie von der langen Fahr von Seda Azul nach Sierra Simlone Stadt ohnehin total ausgelaugt waren. Auch Miranda war erschöpft, doch das lag nicht an der anstrengenden Autofahrt, sondern viel mehr an den vielen Sorgen, die sie plagten. Sie wollte optimistisch sein, doch die Angst um ihre Eltern ließ sie einfach nicht los.
Und Desdemona erging es da nicht anders. Sie verkroch sich unter ihre Bettdecke und versuchte stark zu sein, doch ein leises Wimmern verriet Miranda, dass sie es nicht schaffte. Miranda hätte ihre jüngere Schwester gerne getröstet, doch sie wusste einfach nicht wie. Sie brauchte gerade doch selber Trost. Als vertiefte sie sich in ihre eigenen Sorgen, bis sie schließlich erschöpft einschlief.
Ich versuchte zu schlafen, doch es gelang mir nicht. Ich musste immer wieder an Albert denken. Er musste einfach gesund werden. Er musste! Ich setzte mich auf die Bettkante und schaute mich in dem kleinen Schlafzimmer um. Alles hier erinnerte mich an ihn. Ich könnte sogar seinen Duft in dem Kopfkissen riechen. Wieso musste so etwas Schreckliches passieren? Warum könnte ich nicht einfach mit dem Mann glücklich werden, den ich liebte?
Und wieder eine unruhige Nacht in der ich kaum ein Auge zu bekam. Ich stand auf, als die ersten Sonnenstrahlen durch das Schlafzimmerfenster fielen. Es war zwar erst kurz nach fünf, aber ich konnte ohnehin nicht schlafen. Ich fing an, das Frühstück vorzubereiten, als wenig später auch die älteren Kappekinder in der Wohnküche auftauchten. "Wir können ohnehin nicht schlafen", erklärte Miranda mit trauriger Miene. "Wenn ihr nicht wollt, dann müsst ihr heute nicht zur Schule gehen", bot ich ihnen an, als mir klar wurde, dass in etwa zwei Stunden der Schulbus kommen würde. Doch Desdemona schlug mein Angebot aus. "Ich möchte lieber hingehen, Oxana. Wenn wir hier weiter auf Neuigkeiten warten müssen, dann fällt mir nur die Decke auf den Kopf. Und gerade Elvira wird es ablenken, wenn sie ihre Freunde sieht."
Miranda stimmt ihrer Schwester zu und packte schon mal ihre Schulsachen zusammen. Nur Hans wollte heute zuhause bleiben. Gleich als der Zeitungsbote die Tageszeitung auslieferte lief er hinaus, um nachzusehen, ob irgendetwas über den Unfall seiner Eltern berichtet wurde. Die Schlagzeile nahm natürlich der Casino-Großbrand in SimVegas ein, aber im Lokalteil fand sich tatsächlich ein kurzer Artikel über Albert und Gerda. "Die schreiben über Mama und Papa, als ob die beiden bloß zwei weitere Zahlen in der Statistik wären", bemerkte er bitter. "Nicht einmal ihre Namen haben sie genannt." Daraufhin faltete er die Zeitung zusammen und entsorgte sie umgehend im Müll.
Als dann der Schulbus kam, stiegen nur die vier Mädchen ein. Kinga würde zwar erst in diesem Jahr in die erste Klasse kommen, aber wie alle Kinder in der SimNation ging sie schon zur Vorschule. Ich konnte sehen, wie Miranda und Desdemona mit gemischten Gefühlen in den Bus stiegen. Und ich konnte es ihnen nachfühlen. Sie hielten es nicht aus, tatenlos zu Hause zu bleiben, aber für die Schule waren sie auch nicht in der richtigen Verfassung.
Obwohl er nicht zur Schule gegangen war, hielt Hans es im Haus nicht aus. Irgendetwas musste er tun, also ging er zum Schweinestall hinter dem Haus und fing an, den Mist, den die Ferkel im Freigehege hinterlassen haben, zu entfernen.
"Soll ich dir bei irgendetwas helfen?“, fragte ich ihn nachdem ich ihm eine Weile bei der Arbeit zugesehen hatte. Erst verneinte er mein Angebot, doch dann legte er die Mistgabel beiseite und sah mich leicht verzweifelt an. "Wie soll es denn jetzt mit der Farm weitergehen? Mama und Papa haben bis jetzt alles geregelt. Ich habe zwar immer mitgeholfen, aber ich weiß nicht, worum ich mich alles kümmern muss. Ich kann die Schweine hier weiter füttern und mästen und auch das Futter kriege ich bestellt, aber wie finde ich einen Käufer? Und was ist, wenn die Ferkel krank werden? Die Saat auf unseren Feldern ist auch ausgebracht, aber ich habe keine Ahnung, ob und wann ich düngen muss und wann die Pestizide gespritzt werden müssen? Um so etwas hat Papa sich immer gekümmert."
Er muss sich darüber Gedanken gemacht haben, seit er von dem Unfall seiner Eltern erfahren hatte. Und ich konnte sein Verzweiflung nachvollziehen. So ähnlich hatte ich mich gefühlt, als ich erfuhr, dass ich plötzlich selbst eine Farm führen musste. Aber ich hatte gelernt und inzwischen konnte ich mir ein Leben ohne "Grünspan" nicht mehr vorstellen. Die Farm war mir wirklich ans Herz gewachsen. "Mach dir nicht zu viele Gedanken, Hans. Deine Eltern werden sicherlich bald wieder aus dem Krankenhaus kommen. Und wenn Albert erst einmal wieder aufgewacht ist, wird er dir schon sagen können, was auf eurer Farm zu erledigen ist. Und ich bin auch noch hier. Schweine und Rinder sind sich gar nicht so unähnlich und zumindest was euren Mais angeht, kann ich dir alles Nötige erklären. Und wenn es nötig sein sollte, dann helfen Dominik und ich auch jederzeit mit."