[Fotostory] Because she witnessed

Langsam näherte ich mich dem weißen Bett, völlig entsetzt davon, was da vor mir lag.

Schläuche waren an ihm befestigt, mehrere Kabel angeschlossen, eine Sauerstoffmaske an seinem Mund. Das Piepen eines Gerätes, welches neben diesem Bett stand, war unüberhörbar. Doch es schien zu verraten, dass der im Bett liegende Junge am Leben war.

Er hatte Narben im Gesicht, war blass im Gesicht und hatte ein Verband um seinen Oberkörper gewickelt, auch wenn dieses von einem Kittel versteckt wurde.

Er sah bemitleidenswert aus, doch ich wusste ganz genau, dass er wegen mir dort lag.

„Bist du wach?“

Ich stand nun am Bett, voller Hoffnung, ein paar Wörter, wenn auch nur leise, von ihm zu hören.

Doch nichts. Still lag er da, die Augen geschlossen. Was war da vor ein paar Stunden, nein, vielleicht auch Tagen, bloß passiert? Wie konnte es nur so harmlos anfangen, und letztendlich derartig enden? Wie konnte so etwas nur möglich sein? Und wieso? Wieso gerade er, wieso nicht ich?

Er war doch noch so jung, er hatte sein ganzes Leben vor sich. Anwalt wollte er werden, ja, das hatte er mir mit voller Begeisterung erzählt, als wir in diesem Keller saßen. Und nun scheint das alles wie verflogen. Wieso konnte ich nicht an seiner Stelle liegen?

Immerhin war diese Kugel für mich, doch er hatte sich vor mich gestellt.

Ja, dieser Junge, tapferer denn je. Er hatte sich vor mich gerichtet, die Hände weit ausgebreitet. kaum zu glauben, dass er erst 8 Jahre alt sein sollte. Nein, das konnte man nicht glauben. Er war viel reifer als die Jungs, die ich aus meiner Schule kannte. Er wusste viel mehr, als ein durschnittlicher 8-jähriger. Und jetzt lag er hier, auf der Intensivstation.

Ich atmete ein und aus, wobei mir von diesem Geruch, der im Krankenhaus in der Luft lag, schlecht wurde.

Ich lief durch das komplett weiße Zimmer, nicht wissend, wohin ich ging.

Neben dem Bett war ein Stuhl gerichtet, auf den ich mich jetzt setzte. Ich starrte auf den Menschen, der dort vor mir lag.

Hatte er das wirklich verdient? Ich meine, sollte das wirklich sein Schicksal sein? Ich bin mir sicher, er hatte niemals jemandem etwas getan.

Wir wohnten in derselben Straße, doch niemals waren wir uns begegnet. Ich hatte vor 2 Jahren einen Umzug mitbekommen, doch ich hatte nur eine gut gekleidete Frau und einen unglaublich schmierigen Mann erblicken können. Von einem kleinen Jungen, damals erst 6, war jedoch keine Spur. Hatte er sich vielleicht versteckt? Vielleicht wollte er ja gar nicht in dieses Haus ziehen, vielleicht wollte er gar nicht in diese Straße. Keine neuen Freunde, und deswegen hat er sich versteckt. In meiner Schule hätte ich ihn bemerkt, als musste er auf einer anderen sein. Aber wie? Wie kann ein Junge 2 Jahre in derselben Straße wohnen, und ich habe ihn nie gesehen? Ich kannte alle unsere Nachbarn, es waren nur leider ältere Leute. Ich hatte niemand zum Spielen. Ich hatte immer nur mich, mich und die teuren Spielsachen, die Mum und Dad mir gekauft hatten, damit ich nicht so alleine war. Doch kein Spielzeug konnte einen richtigen Freund ersetzen. Natürlich war ich froh, Loraine zu haben. Doch sie wohnte viel weiter weg als ich. Wir sahen uns nur in der Schule.

Mum und Dad. Meine Eltern, die ich über alles liebte. Doch auch sie sah ich nicht so oft, nur abends, kurz bevor ich ins Bett musste. Und dann morgens noch mal, aber nur Mum. Dad musste immer früher als sie ins Büro. Mum konnte mir manchmal, wenn sie Zeit hatte, noch eine Schüssel Müsli zubereiten. Manchmal machte sie mir sogar Eier und Speck oder auch Pfannkuchen, aber das kam eher selten vor. Nicht, dass sie mich nicht lieben würden. Sie hatten nur eine Firma, die geleitet werden musste. ‚Hudgens & Co.kg’, das Firmengebäude war schon wie mein zweites zuhause. Und das auch nur, wenn Mum und Dad keine Nanny gefunden hatten, die auf mich aufpassen konnte, wenn ich früher von einem Ausflug kam. Nannys hatte ich reichlich. Da war eine aus Brasilien, eine andere aus Schweden, dann noch eine aus Amerika und noch viele mehr. Doch sie kamen, sie kochten, sie halfen bei Hausaufgaben und sie gingen. Praktisch eine sinnlos im Haus laufende Person, die man nicht brauchte.

Doch Lilly war anders. Sie war für ein halbes Jahr bei uns eingestellt und kam aus Holland. Sie konnte unsere Sprache schon sehr gut, also hatte sie auch kaum Probleme, mich zu unterhalten. Sie war eine, die sich mit mir hinsetzte, sich meine Sorgen anhörte und mir dabei half, sie hielt immer zu mir, sie lachte, spielte und spaßte mit mir. Sie war wie die große Schwester, die ich nicht hatte. Und dann musste sie auch schon wieder fort. Tatsache war, dass ich mich einen ganzen Monat lang in mein Zimmer gesperrt hatte, andere Nannys waren mir egal.

Nein, ich hatte keine Geschwister. Wahrscheinlich hatten Mum und Dad auch dafür keine Zeit. Wie oft hatte ich mir schon eine Schwester oder einen Bruder gewünscht, doch das ist nicht irgendein Spielzeug, was man leicht bekommen konnte. Es war ein Lebewesen, was viel Liebe und Wärme brauchte. Und das konnten meine Eltern gerade mal noch mir bieten, wenn auch nur ein wenig.

Da war es schon wieder. Ich bin ja so egoistisch. Die ganze Zeit über denke ich nur an mich. Die ganze Zeit erzähle ich nur von meinen Sorgen, von meinem „Leid“, man soll es nennen wie man will. Und dabei lag da jetzt dieser Junge vor mir, kurz vorm Sterben.

„Nein, Melody. Das darfst du nicht mal denken“, redete ich mir selber ein. Doch wenn man der Realität nicht ins Auge blickte, dann kam man in diesem kurzen Leben leider nicht weit.

Kurzes Leben. Ja, das sollte wohl sein Schicksal sein.

Oliver sollte ein kurzes Leben vor sich gehabt haben.

„Oliver, wach doch bitte auf. Bitte komm zu dir. Das ist nicht dein Ende, du hast doch noch dein ganzes Leben vor dir!“

Ich war den Tränen nahe, doch er konnte mich ja doch nicht sehen geschweige denn hören.

„Oh Oliver, mach keinen Quatsch. Jetzt öffne endlich deine Augen und sieh zu, dass du gesund und munter in diese Welt zurückkehrst! Oliver? Oliver bitte, wenn du mich hörst, dann sag doch etwas. Oliver, ich flehe dich an. Was soll deine Mutter ohne dich machen?“

Ich konnte meine Tränen nicht mehr halten, sie flossen mir über die Wange und es hörte nicht auf.

„Ich hasse dich, verstehst du? Ich hasse dich dafür, dass du meine Kugel gefangen hast. Du hättest dich nicht vor mich stellen dürfen! Wieso tust du so etwas? Oliver, das kannst du mir nicht antun…Wieso lässt du mich allein?“

Doch keine Regung. Er erschien mir eiskalt, doch sein Herz schlug immer noch.

...