Kapitel 73
Tief in mir
Tessa stieg aus ihrem Wagen und atmete die Luft tief ein. Für einen Moment schloss sie genießerisch die Augen und spürte die wärmende Sonne auf ihrem Gesicht.
Die Luft war warm, die Sonne schien mit voller Kraft.
Langsam ging sie den Gehweh entlang und betrachtete mit halb zusammengekniffenen Augen, welche die Sonne blendete, das weiß gekachelte Gebäude, das vor ihr aufstieg.
Vor dem Eingang zum Garten blieb sie stehen und sah sich um. Seit sie das letzte Mal hier gewesen war, waren sechs Wochen vergangen. An nichts und niemanden waren diese Wochen spurlos vorüber gegangen, und der Garten, der sich damals, als sie Jess hier mit bangem Herzen zurück gelassen hatte, noch kahl und rau präsentieren musste, hatte sich unter der wärmenden Sonne entfaltet und war aufgeblüht. Tessa flog ein Lächeln übers Gesicht und langsam ging sie auf die Tür zu. Jess hatte eigentlich hier draußen auf sie warten wollen, doch sie war einige Minuten zu früh.
Unsicher öffnete sie darum die Tür zum Vorraum und stellte überrascht fest, dass dieser leer war. Sie hatte eigentlich gedacht, heute, am offiziellen Besuchstag, sei hier die Hölle los. Doch es war ruhig und still. Einen Moment stand sie unbeweglich auf einer Stelle und fühlte sich nicht ganz wohl in ihrer Haut, kam sich fast wie ein Eindringling vor.
In der Küche hörte sie das Geklapper von Geschirr, weshalb sie sich langsam nach vorne wagte und in den hellen und gemütlichen Raum spähte.
Ein Grinsen flog über ihr Gesicht, als sie Jess´ vertraute Stimme hörte und ihn gleich darauf am Waschbecken entdeckte, wo er an die Arbeitsplatte gelehnt stand und mit einem grün-rot karierten Handruch einen Topf abrubbelte, während er sich mit einer Frau, die bis zu den Ellbogen im schaumigen Wasser verschwunden war, unterhielt.
Als habe er ihre Anwesenheit gespürt, stockte er auf einmal in seinem Gespräch, ließ das Handtuch sinken und sah auf.
„Tessa!“, rief er erfreut aus, murmelte kurz etwas zu der Frau am Waschbecken, die daraufhin nur lachend sagte: „Geh schon, ich trocken den Rest ab“. Daraufhin legte er das Handtuch beiseite und kam schnellen Schrittes in den Vorraum geeilt.
Für einen winzigen Moment blieben beide unschlüssig voreinander stehen und starrten sich nur an. Tessa spürte ihr Herz bis zum Halse schlagen, als sie Jess musterte, doch sie wagte es nicht, sich zu rühren. Der Moment war einzigartig - und doch seltsam befremdlich.
Schließlich war Jess es, der sich aus der Starre löste und sie lächelnd in seine Arme zog.
„Ach, es tut so gut, dass du da bist“, murmelte er in ihr Haar und sie sog seinen Duft tief ein. Er hielt sie ein Stück von sich und sagte dann: „Gut schaust du aus, Tessa.“
„Und du erst“, erwiderte sie wahrheitsgemäß.
Er lächelte und küsste sie statt einer Antwort.
„Wollen wir nach draußen gehen?“, fragte er dann. „Es ist so herrliches Wetter und da sind wir ungestörter.“
Tessa nickte und löste sich aus seiner Umarmung.
Jess öffnete eine der großen Flügeltüren und trat mit ihr hinaus in die warme Maisonne.
Er sog die Luft ebenso wie sie es eben getan hatte tief ein und lächelte sie dann an.
„Lass uns doch ein Stück gehen“, schlug er vor und deutete in Richtung des hinteren Gartenteils.
Tessa nickte und musterte Jess langsam. Sie musste feststellen, dass sie ihn kaum wieder erkannte. Man sah ihm kaum etwas davon an, was er in den vergangenen Wochen durchgemacht haben musste. Nein, vielmehr sah er frischer und besser aus denn je. In der engen Jeans, die sie ihm noch vor Beginn des Entzugs gekauft hatten, wirkte er ungewohnt maskulin, der dünne, eng anliegende Pullover betonte dies noch viel mehr.
Tessa schluckte und spürte eine seltsames Gefühl von Befremdung in sich aufsteigen, als sie ihn so da stehen sah. Das war nicht der Jess, den sie kannte. Er schien ihr ein völlig fremder Mann zu sein…
„Was ist los?“, fragte Jess lächelnd.
„Nichts“, erwiderte Tessa rasch und fast etwa ruppig, drehte sich um und ging den schmalen Weg in den Garten entlang, während Jess ihr schweigend folgte.
Sie fühlte sich mit einemmal nervös und unsicher, so hatte sie sich noch nie in seiner Anwesenheit gefühlt.
Tessa verharrte vor dem großen Swimmingpool im Garten und betrachtete nachdenklich die weißen Liegestühle.
War es genau das, was Monika ihr prophezeit hatte… nur viel schlimmer? Nun, da Jess nicht mehr der Jess war, den sie kannte, erschien er ihr fremd… anders… seltsam.
Was war nur los mit ihr? Sie hatte diesen Tag all die Jahre herbei gesehnt und nun… übertraf Jess mit seiner Entwicklung all ihre Erwartungen, und statt sich zu freuen, fühlte sie sich dabei unbehaglich.
„Tessa?“
Jess sah sie aufmerksam an. „Was ist los?“
Tessa zuckte ausweichend mit den Achseln. „Ach, ich weiß nicht… ich…“
Sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte, darum schwieg sie.
„Ich bin froh, dass du hier bist“, sagte Jess statt einer Antwort direkt. „Du hast mir gefehlt.“
Tessa lächelte schwach. „Du mir doch auch“, murmelte sie dann, starrte aber weiterhin auf das blaue Wasser des Pools, in dem sich die saftig grünen Blätter der Bäume spiegelten und das sich unter dem ein oder anderen Windstoß sanft kräuselte.
„Tessa, es ist okay, wenn das alles etwas ungewohnt für dich ist…“, sagte Jess da neben ihr sanft. Sie sah ihn überrascht an.
„Wie… was meinst du...?“
Jess lächelte. „Nun, ich muss dir ziemlich verändert vorkommen. Ich fühle mich selbst ja völlig anders… wir haben uns sechs Wochen nicht gesehen, und in denen ist viel passiert. Dass das komisch ist, ist doch ganz normal.“
Er legte sanft den Zeigefinger unter ihr Kinn und stupste sie an der Nase, so dass sie lächelte.
„Du bist wirklich anders“, gab sie dann zu. „Ich erkenne dich kaum wieder. Und das… das fühlt sich irgendwie seltsam an.“
Jess nickte. „Ja, das glaube ich dir, Tessa. Mir ging es ähnlich, als ich dich vor einigen Wochen wiedersah. Du warst nicht mehr diejenige, die ich damals verlassen musste…“
Sie sah ihn überrascht an. „Du hast nie etwas gesagt.“
Er zuckte mit den Achseln. „Ich weiß… irgendwie dachte ich, das Gefühl sei nicht richtig. Aber inzwischen denke ich, es ist ganz normal, so zu empfinden. Und für dich muss es noch extremer sein jetzt, nehme ich an.“
Tessa nickte langsam. „Ja, es ist komisch… ich meine… nun, das heißt nicht, dass ich mich nicht freue, Jess!“, beteuerte sie schnell. „Nur… du wirkst so… stark… so… bei dir. So kenne ich dich nicht.“
Jess strich sich die Haare aus der Stirn und richtete seinen Blick auf die sich im Wind sanft hin und her wiegenden buschigen Baumwipfel des Waldes, den man auf der anderen Straßenseite erkennen konnte.
„Nun, das liegt wohl daran, dass ich zum ersten Mal seit Jahren wieder bei mir bin… und nicht gesteuert von irgendeinem Mist, der durch meine Adern fließt…“
Er sah Tessa wieder an und lächelte ihr zu.
„Daran muss ich mich selbst auch erstmal gewöhnen.“
Tessa lächelte zurück und spürte, wie die Befangenheit allmählich nach ließ, auch wenn sie sich nicht ganz vertreiben ließ. Sie spürte Jess ´ Hand an der ihren und griff bereitwillig danach. Gemeinsam schlenderten sie schweigend ein Weilchen durch den von schweren Düften und bunten Farben erfüllten Garten, bis sie sich schließlich auf einer der Bänke niederließen.
„Mensch, ich hab einen Stein im Schuh“, schimpfte Jess und beugte sich nach vorne, um das Dilemma zu entfernen.
Tessa sah ihm schweigend zu und sagte dann irgendwann: „Geht´s dir wirklich gut, Jess? Oder … willst du mich nur nicht belasten?“
*geht noch weiter*