Kapitel 70
Ausgebrannt
Unruhig wälzte sich Tessa im Bett hin und her. Über ihre Stirn rannen feine Rinnsale von Schweiß. Sie stöhnte und ihre Hand krallte sich in ihr Kopfkissen.
Ihre Brust hob und senkte sich schnell und ungleichmäßig, es schien, als kämpfe sie gegen etwas an, das viel stärker und mächtiger als sie selbst war.
Bilder schossen durch ihren Kopf, surreal und doch so echt, als geschähen sie vor ihren wachen Augen.
„Jess!“
Mit einem schrillen Schrei fuhr sie aus den Laken nach oben. Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich zu Recht fand und begriff, dass es nur ein Traum gewesen war, sie zu Hause in ihrem weichen Bett lag und sie nichts umgab als die Stille der ruhigen Aprilnacht.
Immer noch zitternd tastete ihre Hand nach dem Lichtschalter und das Zimmer wurde in freundliches, helles Licht gehüllt.
Tessa schauderte zusammen und fuhr sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es erst drei Uhr in der Nacht war. Sie hatte kaum mehr als zwei Stunden geschlafen. Stöhnend rieb sie sich die Augen und überlegte, ob sie sich wieder in ihre Kissen kuscheln sollte. Doch die Bilder des Traumes trieben durch ihren Kopf und wurden nicht im Geringsten durch das Wissen darum, dass sie nur bedingt der Traumwelt entsprungen sein mochten, entschärft.
Seufzend schob Tessa die Bettdecke beiseite und setzte sich erschöpft auf die Bettkante. Sie fühlte sich krank und schwach, schon seit Tagen. Ihr war übel, ihr Kopf brummte und das Zimmer schien sich langsam aber stetig und das flaue Gefühl im Magen verstärkend zu drehen, der Boden zu schwanken.
Langsam tappte sie durch das Schlafzimmer und fühlte sich dabei wie eine Betrunkene. Sie durchquerte das dunkle Wohnzimmer und schaltete das Licht in der Küche ein, wo sie sich ein Glas Wasser holte. Während sie trank schweiften ihre Gedanken zu Jess und den Bildern aus ihren Träumen ab. Das Glas in ihrer Hand begann zu zittern.
Die Unsicherheit, was mit ihm geschah, wie es ihm ging, wie er sich fühlte, schien ihre letzten Nerven zu rauben. Schon seit Tagen konnte sie an nichts anderes mehr denken, nichts anderes mehr fühlen. Sie hätte nie gedacht, dass es so schwer sein würde. Eigentlich, so ging ihr durch den Kopf, war es schwerer als damals, als sie bei ihm gewesen war während des kalten Entzugs. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, hätte sie nicht genau gewusst, was er nun durchstand. Doch die Bilder aus jenen Tagen hatten sich in ihr eingebrannt und spielten sich jetzt verschärft und vor anderem Hintergrund wie eine auf „Repeat“ eingestellte Kassette immer und immer wieder ab.
Unwirsch schüttelte sie den Kopf, um das erneut aufsteigende Gefühl von Hilflosigkeit abzuwehren.
Ihr Blick schweifte wieder zur Uhr. Sie hätte längst schlafen müssen. Nie in ihrem Leben hatte sie sich derartig übermüdet und schwach gefühlt. Jess war nun seit rund zwei Wochen in der Klinik. Zwei Wochen ohne jedes Lebenszeichen. Wie auch, es war ja vorhersehbar gewesen. Und sie hatten nur in etwa die Hälfte der Zeit überstanden.
Moni hatte sie zu trösten versucht, indem sie ihr klar machte, dass alles in Ordnung war, so lange sich niemand meldete. Doch das vermochte Tessa nur bedingt zu beruhigen.
Jess schlief jetzt vielleicht auch nicht. Vielleicht litt er immer noch unter den Entzugserscheinungen. So wie damals.
Tigerte in seinem Zimmer auf und ab, ohne Pause. Von Schmerzen, Gedanken, Gefühlen, grausigen Visionen geplagt.
Doch vor einem Jahr war sie da gewesen, um ihn zu halten. Um ihn zu schützen.
Wer war nun bei ihm? Kümmerte man sich in der Klinik denn auch genug um ihn? Oder schloss man die Tür ab und überließ ihn seinem Schicksal?
Tessa seufzte und stellte das Glas Wasser beiseite. Sie hatte seit Nächten schon nicht mehr als zwei oder drei Stunden geschlafen. In den ersten Tagen hatte sie den Schlaf wenigstens sporadisch am Tag nachholen können, doch seit einer Woche waren die Semesterferien zu Ende, und sie hatte morgen wieder um zehn Uhr eine Vorlesung, die sehr wichtig war. Schon die ganzen letzten Tage war sie fast den ganzen Tag auf den Beinen gewesen und der Schlafmangel steckte ihr deutlich in jedem Knochen.
Noch dazu musste sie in wenigen Tagen ein Referat halten, und das auch noch bei „Professor Miesepeter“, wie ihn seine Studenten gerne nannten. Dieser Schein war wichtig für sie, und sie durfte sich keine Fehler erlauben. Müde rieb sie sich die Augen und tapste zurück ins Schlafzimmer. Eisern versuchte sie, die Gedanken an Jess aus ihrem Kopf zu drängen. Sie konnte nichts für ihn tun, und er hatte sie gebeten, sich nicht vor lauter Angst um ihn zu verlieren. Tapfer löschte sie das Licht und zog die Decke bis ans Kinn. Eine Weile lag sie still da und konnte nicht in den Schlaf finden. Draußen hörte man nur ab und an ein Auto vorbei brummen, sonst war es still. Nach einer Weile merkte Tessa, wie ihr die Lider schwer wurden und schließlich glitt sie erneut in den Schlaf.
Jess starrte mit weitaufgerissenen Augen auf die zwei Gestalten, die ins Zimmer geschwebt waren.
„Was wollt ihr?“, stammelte er mit hoher, von Angst erfüllter Stimme.
„Dich holen“, raunte der Tod.
„Dich erlösen“, raunte der Engel.
„Tessa! Wo bist du? Hilf mir doch! Tessa!!“
Tessa stöhnte leise auf, öffnete widerwillig die Augen und realisierte erst jetzt, dass das Klingeln des Weckers sie aus ihrem wirren Traum gerissen hatte. Müde setzte sie sich auf. Sie fühlte sich verspannt und völlig unausgeruht. Doch es half alles nichts, sie musste in einer Stunde an der Uni sein.
Die Morgentoilette fiel heute kurz aus, nicht einmal zum Schminken nahm sie sich mehr Zeit, band sich das Haar nur rasch zum Zopf und machte sich dann einen starken Kaffee.
Während das bittere Getränk ihre Kehle hinab lief und in ihrem leeren Magen zu rebellieren begann, fragte Tessa sich, wie sie noch weitere zwei oder drei Wochen auf diese Weise durchstehen sollte.
Sie fühlte sich wie gerädert. „Heute Abend muss ich mir all diese Gedanken aus dem Kopf schlagen“, murmelte sie wie zu sich selbst. Sie brauchte Schlaf. Dringend.
Der Tag an der Uni zog sich wie ein Kaugummi und Tessa ertappte sich mehrmals dabei, in der Vorlesung fast einzuschlafen.
Als sie am Abend völlig erschöpft nach Haus kam, wäre sie am liebsten sofort ins Bett gegangen. Doch das Referat schrieb sich nicht von alleine und sie wollte wenigstens mit einigen Stichpunkten anfangen.
Nach einer Weile jedoch sah sie ein, dass es zwecklos war. Ihr Kopf schien wie leergefegt. Müde zog sie sich darum aus und schlüpfte erneut ins Bet, in der Hoffnung, wenigstens heute etwas besser zu schlafen.
Jess verbog sich fast vor Schmerzen. Seine Eingeweide glühten, als habe man sie mit der heißen Zange zerquetscht.
„Tessa!“, wimmerte er. „Ich brauche dich! Wo bist du?“
Stöhnend fuhr Tessa aus dem Schlaf und rieb sich die Augen. Sie zitterte, ob vor Kälte, Schlafmangel oder von den Folgen des Traumes, konnte sie selbst nicht sagen.
Müde warf sie einen Blick auf den Wecker. Es war sieben Uhr morgens.
„Na, immerhin schon einmal etwas“, murmelte sie. Zwar war die Nacht erneut unruhig und ihr Schlaf alles andere als wirklich erholsam gewesen, gerade nachdem sie dieser erneute Albtraum herausgerissen hatte. Aber wenigstens hatte sie nun einige Stunden mehr oder weniger durchgehend geschlafen, die vielen kleinen Momente, in denen sie kurz hoch geschreckt, aber sofort wieder eingeschlummert war, ausgenommen.
Wesentlich frischer fühlte sie sich dennoch nicht, aber wenigstens waren Übelkeit und Schwindel, die der Schlafmangel mit sich gebracht hatte, an diesem Morgen erträglich.
Müde tapste Tessa ins Badezimmer und hielt sich den schmerzenden Magen. Diese Nervosität schlug ihr nicht nur aufs Gemüt, sondern ließ auch ihren Körper verrückt spielen.
*geht noch weiter*