Kapitel 64
Bittere Erkenntnis
Tessa atmete tief durch, steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch und öffnete langsam die Haustüre. „Ich bin´s!“, rief sie in den leeren Flur hinein.
„Wir sind im Wohnzimmer“, tönte es aus eben jenem Raum gedämpft zu ihr hinaus.
Tessa schluckte, steckte den Schlüssel in ihre Jackentasche, schälte sich aus Jacke und Schal und blieb dann einen Moment reglos vor der Wohnzimmertür stehen.
Ihr Herz klopfte hart gegen ihre Brust und ihre Hände waren so kalt, dass es fast schmerzte. Doch sie wusste, dass es jetzt kein Zurück mehr gab – was getan werden musste, musste nun einmal einfach getan werden.
Darum straffte sie die Schultern, strich sich eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihren aufgedrehten Haaren gelöst hatte und drückte dann die Klinke der Tür hinunter.
Im Wohnzimmer war es warm und eigentlich gemütlich.
Vorigen Frühling hatte ihre Mutter wieder einmal einen „Alles-neu-macht-der-Mai“-Rappel, wie ihr Vater dies immer belustigt zu nennen pflegte, bekommen und das komplette Wohnzimmer mit neuen Möbeln bestückt. „Die alten waren immerhin schon fünf Jahre alt“, hatte sie dabei ernst bemerkt.
Tessa sah sich im Zimmer um. Noch erschien es ihr fremd – kein Wunder, sie war zu selten hier, höchstens zwei- oder dreimal im Monat. Die alten Möbel hatten sie durch ihre Jugend begleitet, auf ihnen hatte sie zusammen mit ihrer Clique herumgelungert, wenn sie einmal wieder die sturmfreie Bude genutzt hatten. Aber nun fühlte sie sich fast fremd. Der Gedanke, noch vor anderthalb Jahren hier gewohnt zu haben, erschien ihr heute fast absurd.
Ihre Mutter saß auf der Couch und war in ein Buch vertieft, ihr Vater saß auf der Couch daneben und hatte sich seine obligatorische Zeitung vorgenommen.
Beide sahen nur kurz auf, als Tessa eintrat.
Tessa blieb einen Moment unschlüssig vor der Couch stehen, bis ihre Mutter von ihrem Buch aufsah, lächelte und entschuldigend sagte: „Ich will nur schnell diese Seite zu Ende lesen, Tessa. Wie schön, dass Du uns besuchen kommst, ich dachte, du hättest heute etwas vor, weil du am Mittwoch noch gesagt hast, du kannst heute nicht zum Essen kommen. Wieso setzt du dich nicht?“
Tessas Mutter versenkte den Blick wieder in ihrem Buch.
Unschlüssig setzte Tessa sich neben ihre Mutter, während ihr Vater seine Zeitung mit Sorgfalt und Bedacht zusammenfaltete und zur Seite legte.
„Und, Tessa, wie geht es? Wie läuft es mit der Universität?“, fragte er, wie fast immer, wenn sie sich an den Sonntagen zum gemeinsamen Essen trafen.
„Semesterferien, Papa“, erwiderte Tessa gedehnt. „Schon seit drei Wochen, weißt du.“
„Immer noch?“, gab dieser verblüfft zur Antwort. „Ungeheuerlich, wie lange ihr Studenten nichts zu tun habt.“
„Naja, ein bisschen was haben wir schon zu tun – Hausarbeiten, Referate und so was alles eben“, erwiderte Tessa langsam.
„Aha, das ist ja immerhin etwas“, lächelte ihr Vater. „Und was führt dich heute zu uns? War dir etwa langweilig vor lauter Ferien?“ Er zwinkerte.
Tessa lächelte gequält und warf einen nervösen Blick zu ihrer Mutter, die noch immer in ihrem Buch versunken war. „Nein, ich hab etwas mit euch zu besprechen“, sagte sie dann langsam. „Etwas … etwas sehr wichtiges.“
„Oh – na dann“, sagte ihr Vater und sah sie ernst an. „Dann sollten wir das tun. Amanda, nun leg doch mal das Buch weg, wenn Tessa schon mal hier ist und mit uns sprechen möchte.“
Seine Frau sah verwirrt auf, nickte dann zerstreut und stellte das Buch rasch ins Bücherregal.
„Entschuldige“, sagte sie noch einmal zu ihrer Tochter. „War gerade so spannend. Also, was gibt es zu besprechen? Ist vielleicht wieder irgendetwas mit dem Hausverwalter schief gelaufen?“
Verwirrt sah Tessa ihre Mutter einen Moment an und begriff dann, dass diese auf eine Begebenheit in der letzten Woche anspielte, als die Heizung in der Wohnung einen Tag nicht richtig funktioniert hatte und der Hausverwalter nicht umgehend Zeit gehabt hatte, die Sache in Ordnung zu bringen.
„Nein – nein, alles in Ordnung, es geht um etwas ganz anderes, viel wichtigeres“, erwiderte sie darum schnell. Ihre Finger krampften sich nervös in ihre Oberschenkel, als sie die fragenden Blicke ihrer Eltern auf sich ruhen spürte.
Dann beschloss sie, das gescheiteste sei es, die ganze Sache so schnell als möglich hinter sich zu bringen, und darum begann sie stockend zu sprechen:
„Ich… es gibt da etwas, das ihr wissen müsst. Etwas, das ich euch die ganze Zeit nicht sagen konnte und wollte.“
Sie schluckte und sprach dann langsam weiter: „Es gibt da jemanden in meinem Leben… jemanden, der mir sehr viel bedeutet, jemanden, den ich sehr liebe. Und von dem ihr bisher nichts wusstest!“
Eine Moment herrschte Stille, dann hörte sie, wie sich ihr Vater räusperte und vorsichtig fragte: „Ja… Tessa, das ist… das ist natürlich eine Überraschung. Aber wieso sagst du das mit solch einer Stimmung… ich meine, wir mögen nicht die modernsten und hipsten Eltern aller Zeiten sein, aber wir sind bei weitem auch nicht konservativ oder altmodisch, und darüber hinaus bist du einundzwanzig Jahre alt…“
Tessa schluckte. „Nein… das… so ist das nicht. Also doch schon… aber nicht ganz so wie ihr denkt.“
Ihre Mutter lächelte beschwichtigend und griff nach ihrer Hand.
„Ach Tessa, nun zier dich nicht so vor uns beiden. Es wird doch schließlich endlich Zeit, dass du wieder jemanden hast. Ich habe mir schon ernsthaft Sorgen gemacht. Aber wieso hast du nicht direkt mit uns beiden darüber gesprochen? Oder gibt es Probleme? Wer ist denn der Glückliche? Ich bin jedenfalls froh, dass du endlich wieder einen Freund hast. Wieso bringst du ihn nicht einfach nächste Woche zum Essen mit? Ich weiß, du scheinst dich zu genieren, aber so schlimm wird es schon nicht werden.“
Sie lächelte vergnügt. „Ich freu mich wirklich für dich. Und nun verrat uns endlich, wer es ist. Vielleicht dieser Joshua, mit dem ich dich mal in der Stadt getroffen habe? Harald, wirklich, ein wunderbarer Junge ist das, so nett und höflich, wenn er auch eine etwas gewöhnungsbedürftige Frisur haben mag – aber Fehler haben wir ja alle, nicht wahr. Ist es das gewesen, der Grund, weshalb du solche Hemmungen hast, es uns zu sagen?“
Tessa stöhnte leise auf und rieb sich die Stirn. Das hier nahm gerade eine fast bizarre Wendung.
„Wieso, was für eine Frisur ist das denn?“, stimmte ihr Vater nun munter in die Philosophien ihrer Mutter ein. „Etwa ein Punker?“
Ihre Mutter stieß einen erschrockenen Laut aus. „Aber nein, natürlich nicht, er trägt eine ganz moderne Frisur, du weißt schon, die jungen Leute heute sehen aus, als seien sie frisch aus dem Bett gefallen und das nennen sie dann Frisur. Aber der Junge ist ganz ordentlich und höflich gewesen, und schließlich studiert er zusammen mit Tessa.“
„Ahhh“, hellte sich die Miene des Vaters auf. „Was studiert der junge Mann denn, Tessa? Das gleiche wie du? Mh?“
Tessa starrte ihren Vater an, als habe er den Verstand verloren.
„Nun – jedenfalls wäre es doch eine wundervolle Idee, wenn wir nächste Woche alle gemeinsam essen gehen, Tessalein. Dann kann dein Vater diesen Joshua auch kennen lernen, das wäre doch eine schöne Sache, nicht wahr?“
Ihre Mutter sah sie fragend an. „Was ist los? Kann er sonntags nicht? Nun, wir könnten ja auch einmal am Samstagabend zusammen weggehen. Ich weiß, ihr jungen Leute wollt dann lieber in die Disco oder irgend so etwas, aber…“
„Sei still!“, platzte es aus Tessa heraus. „Sei jetzt mal einen Moment still!“
Für einen Augenblick war es nun tatsächlich still im Zimmer, so verblüffend still, dass Tessa fast selbst darüber erschrak.
Doch bevor ihre Eltern diese Stille erneut zum Anlass nehmen konnten, einfach vor sich hin zu fantasieren, presste Tessa langsam hervor: „Es ist nicht Joshua. Also hört endlich mit diesem Gerede auf. Es ist überhaupt niemand, den ihr kennt.“
„Oh…“, stammelte ihr Vater, der sich ob der Tatsache, dass sie eben gerade fast fünf Minuten über einen Freund geredet hatten, der offenbar in dieser Form nicht existierte, etwas seltsam vorkam. „Dann… wer ist es denn dann? Oder sprichst du gar nicht von einem – von deinem Freund?“
„Doch“, erwiderte Tessa langsam. „Ich habe einen Freund, ja. Und zwar schon seit fast anderthalb Jahren… und sein Name ist… er heißt Jess.“
„Jess?“, murmelte ihre Mutter und dachte angestrengt nach. „Irgendwo hab ich den Namen schon mal gehört, aber ich kann ihn nicht zuordnen…“
„Und du sagst, ihr seid bereits seit anderthalb Jahren zusammen?“, wunderte sich ihr Vater derweil ungläubig. „Ja, aber… wieso hast du die ganze Zeit nichts gesagt? Und wieso hat man nie etwas von diesem jungen Mann gehört oder gesehen?“
Tessa dachte einen Moment nach, bevor sie ihre Antwort wohl überlegt gab: „Nun… das hatte wohl mehrere Gründe. Zum einen war er eine ganze Weile nicht da… er war…“
*geht noch weiter*