Kapitel 57
Clean
Die beiden Frauen standen einige Sekunden schweigend und bewegungslos voreinander, dann löste sich ihre überraschte Anspannung in einem leichten Lachen und sie umarmten sich herzlich, fast wie alte Freundinnen.
„Meine Güte, Jasmin“, stieß Tessa dann hervor und musterte ihr Gegenüber erstaunt. „Ich hätte dich wirklich kaum wieder erkannt. Du siehst völlig verändert aus… viel besser als vor einem Jahr.“
Jasmin lächelte. „Ja, es ist auch viel passiert in diesem Jahr, weißt Du. Aber auch du hast dich sehr verändert, Tessa. Ich hätte dich ebenfalls kaum erkannt.“
„Was ist in diesem Jahr geschehen?“
Die beiden schauten sich einen Moment verblüfft an und mussten dann ob der Tatsache, dass aus ihren beiden Mündern dieselbe Frage zeitgleich gedrungen war, laut auflachen.
„Sag du zuerst“, kicherte Tessa dann und sah Jasmin fragend an. Sie versuchte, ihr wild klopfendes Herz zu beruhigen. Dass Jasmin ausgerechnet jetzt auftauchte – und so verändert… der einzige Mensch, den sowohl sie als auch Jess gekannt hatte…
Die Fragen in ihrem Kopf ließen sich kaum nach hinten drängen… wusste sie etwas über Jess? Konnte sie ihr vielleicht sogar sagen, wo er sich aufhielt?
Doch Tessa drängte das Bedürfnis, Jasmin sofort mit ihren Fragen zu bestürmen, zurück und hörte ihr so aufmerksam wie möglich zu, als sie zu erzählen begann.
„Ich habe Ende Februar eine Erziehungskur angefangen“, begann Jasmin und sah Tessa offen an. „Es war hart, aber ich hab diesmal durchgehalten.“
„Das find ich wunderbar“, erwiderte Tessa aus vollem Herzen, auch wenn irgendein stachliges, kleines Ungeheuer in ihr schrie: „Warum du und nicht Jess?“
Schnell schleuderte sie diese ungebührlichen Gedanken ab und wandte sich wieder Jasmin zu.
„Wie ist es dazu gekommen?“
„Irgendwann im Februar kam plötzlich ein Sozialarbeiter auf mich zu, ein Streetworker“, erklärte Jasmin ruhig. „Er war ganz nett und verständnisvoll und hat eine Weile bei uns in der Gruppe verbracht. Irgendwann hat er mich zur Seite genommen und mir gestanden, dass er mich gesucht habe… weil meine Mutter diese wohltätige Firma, für welche die Streetworker arbeiten, kontaktiert hat.“
Tessa sah Jasmin erstaunt an. Sie konnte sich noch gut an deren Geschichte erinnern, von der schwachen Mutter, die gegen ihren neuen und offenbar alkoholsüchtigen Freund nicht ankommen konnte, so dass Jasmin das Weite gesucht hatte.
Jasmin beobachtete ihren Gesichtsausdruck und nickte. „Ja, ich war ähnlich erstaunt, hat es meine Mutter doch so lange offenbar nicht wirklich gekümmert, was aus mir geworden ist. Aber sie hat sich geändert, Tessa. Ihren alkoholsüchtigen Freund endlich in die Wüste geschickt, ihr Leben in die Hand genommen und nun wieder eine Arbeit gefunden und eine hübsche neue Wohnung. Ihr tat es so leid, dass sie mich damals im Stich gelassen hat. Sie sagte, sie habe immer an mich gedacht und einige Male auf eigene Faust versucht, mich zu finden. Aber ihr war ja klar, dass ich nicht zurück komme, so lange er noch da ist… und offenbar stand auch sie in unter seinem Scheffel und musste Angst haben… aber irgendwann war der Mut wohl groß genug, und sie hat ihn angezeigt, nachdem er sie einmal geschlagen hatte…“
Tessa schluckte. Immer wieder schockierte sie es zu hören, wie furchtbar der Alltag mancher Menschen war. Ihr eigenes Leben erschien ihr in diesem Moment einmal mehr wie das Leben im Schlaraffenland.
„Naja – jedenfalls hat meine Mutter mich dann also mithilfe der Streetworker-Gemeinschaft gesucht. Und einer von ihnen hat mich gefunden und ein Treffen mit ihr organisiert. Sie hat sich so verändert, Tessa… und mir all ihre Hilfe angeboten. Ich glaube, das hat mir letztlich die Kraft gegeben, noch einen Entzug zu versuchen. Ich bin in eine Klinik gegangen und habe dort ein Vierteljahr verbracht. Danach bin ich wieder zu meiner Mutter in ihre neue Wohnung gezogen und seither besuche ich weiterhin einmal wöchentlich eine Therapeutin. Manchmal kommt Mama mit, denn auch sie hat eingesehen, viele Fehler gemacht zu haben. Ich bin jetzt also seit fast einem Jahr clean.“
Tessa lächelte sie herzlich an. „Mein Gott, Jasmin, das freut mich so für dich, dass sich alles so zum Guten entwickelt hat… wirklich. Wie geht es jetzt weiter?“
Jasmin zuckte mit den Achseln, lächelte aber. „Weißt du, im Moment genieße ich einfach nur mein neues Leben. Endlich wieder ein warmes, weiches Bett zum Schlafen, schöne Kleider und eine ordentliche Frisur“, sie wies auf ihre kurzgeschnitten, mit einem Haarband zurückgehaltene Haare. „Gerade anfangs erschien mir all das einfach nur paradiesisch.“
„Wir sind auf einem guten Weg, Mama und ich“, fuhr sie dann fort. „Ich werde im Sommer wohl anfangen, meinen Realschulabschluss nachzuholen und versuche danach, irgendwo eine Lehre zu machen, ich hoffe, ich werde noch genommen, aber ich bin ja noch nicht so alt… nur meine Vergangenheit könnte halt ein Problem werden.“
Tessa ergriff spontan Jasmins kalte Hände und drückte sie. „Das wird schon, Jasmin. Ich bin da guter Dinge. Es wird Menschen geben, die sehen, was du durch den Entzug und die Rückkehr ins Leben geschafft hast, und nicht, was du nicht geschafft hast. Bestimmt…!“
Jasmin lächelte. „Du bist so lieb, Tessa. Das warst du schon immer. Und ich hoffe, du hast recht, bin aber selbst ganz optimistisch. Mama verdient inzwischen ganz gut, und ich denke, ich kann zur Not auch noch ein paar Jahre bei ihr wohnen, wenn alles so läuft. Irgendwann finde ich schon eine Lehrstelle. Aber nun mal genug von mir. Was ist mir dir geschehen? Wie geht es Jess?“
Tessa schluckte und sah Jasmin betroffen an. „Ich… ich hab gehofft, dass du mir das sagen könntest…“, stammelte sie hilflos.
Jasmin sah sie verwirrt an. „Oh… ich? Nein, Tessa, ich war doch schon seit fast einem ganzen Jahr nicht mehr in der Szene… ich habe Jess schon so lange nicht mehr gesehen… aber ich dachte, er wäre bei dir, habe es auch geschafft…“
Tessa schüttelte traurig den Kopf. „Nein… nein… hat er nicht. Er hat es versucht…“
Jasmin sah sie mitfühlend an. „Ich weiß nur noch, dass ich dich damals im Bahnhof gefunden hab und du nach ihm gesucht hast. Nachdem du weggelaufen bist, hab mich mir große Vorwürfe gemacht. Aber die beiden Jungs, mit denen Jess bei den Hellows untergetaucht ist, sind einen Tag später zurück gekommen und haben erzählt, dass ein fremdes Mädchen, das ganz sicher nicht der Szene angehört, in den Unterschlupf der Hellows eingedrungen ist und es dort Ärger gab und dass Jess etwas davon gesagt habe, sie sei seine Freundin und mit ihr abgehauen wäre… die Jungs konnten sich irgendwie aus der Sache heraus schlängeln, sind danach aber dann doch lieber untergetaucht… mit den Hellows war nie zu spaßen. Jedenfalls hab ich eins und eins zusammengezählt und wusste natürlich, dass du das warst, da bei den Hellows.“ Sie sah Tessa angsterfüllt an. „Mensch, Tessa, wenn ich geahnt hätte, dass du dahin gehst, hätte ich dir nie was gesagt. Das war verrückt!“
Tessa nickte. „Ich weiß“, seufzte sie und dachte mit Schaudern an jene Nacht zurück, die, wie sie heute wusste, eigentlich nur der Anfang vom Ende gewesen war. „Es war eine Kurzschlussreaktion…“
Jasmin nickte und sah sie fragend an. „Da Jess nicht zurück kam, bin ich also davon ausgegangen, dass er bei dir untergetaucht ist… vermutlich sogar entzogen hat, denn um an Drogen zu kommen, hätte er ja irgendwann doch wieder in die Szene zurückkommen müssen… vermutlich zumindest.“
Tessa schüttelte erneut traurig den Kopf. „Nein, Jasmin. Du hast insofern recht, dass dieses Ereignis ihn für eine Weile wachgerüttelt hatte und er beschlossen hat zu entziehen… allerdings nicht in einer Klinik, sondern bei mir zu Haus.“
Jasmins Augen weiteten sich und sie sah Tessa beklommen an.
„Du hast ihn doch hoffentlich von diesem Wahnsinn abgebracht?“
Tessa seufzte. „Ich dachte, wenn ich ihn dazu zwinge, in eine Klinik zu gehen, überlegt er es sich womöglich doch noch anders. Naja – lange Rede, kurzer Sinn… es hat nicht funktioniert und eines Morgens war er fort…“ Sie sah Jasmin traurig an. „Ich hab ihn seitdem nicht mehr gesehen.“
Die beiden schwiegen einen Moment betroffen. Dann hob Jasmin wieder die Stimme.
„Und wann war das?“
„Jess ist am dreizehnten Februar abgehauen“, erwiderte Tessa mit fester Stimme.
*geht noch weiter*