Kapitel 20
Lass mich nicht allein
Tessa hob erfreut den Kopf, als es an der Türe schellte.
Sie war heute extra etwas früher nach Hause gekommen, um die Wohnung aufzuräumen und ein wenig zu putzen – schließlich wollte sie sich vor Trudy nicht blamieren und ihrer Ziehmutter den Eindruck vermitteln, dass all ihre Lehren an Tessa vorbei gegangen wären.
Aufgeregt betätigte Tessa den Summer und rannte dann nach draußen in den Flur, wo sie schon nach kurzer Zeit Trudys Schritte auf den Stufen vernehmen konnte.
„Tru!“
„Tessalein – wie schön, dass es klappt!“
Herzlich umarmten die beiden sich noch vor der Wohnungstüre.
Dann hielt Tru Tessa ein Stück von sich und beäugte sie eingehend.
„Du siehst ein bisschen blass und müde aus, Tessa. Geht es dir gut?“
Tessa nickte schnell. „Ja, es geht mir gut… die neue Arbeit verlangt mir nur viel ab und irgendwie ist im Moment alles etwas chaotisch. Ich denke, ich muss mich erst noch an mein neues Leben gewöhnen…“, sagte Tessa langsam. Dass sie damit nicht nur die Änderung im Beruf und den Umzug meinte, konnte Tru nicht ahnen.
Einen Moment lang hatte Tessa überlegt, ob sie Tru nicht alles erzählen sollte… doch zu präsent war noch der Schmerz um das, was zwischen ihr und Niklas vorgefallen war. Sie konnte, wollte und würde es nicht noch einmal verkraften, das Vertrauen in einen lieben Menschen zu verlieren. Und so sehr sie Tru auch liebte – sie war sich relativ sicher, dass auch diese ihr von Jess abraten würde… wenngleich wohl auch auf andere Weise als Niklas das getan hatte…
„Tessalein, träumst du?“ Tru lächelte sie verschmitzt an und Tessa grinste ertappt. In den letzten Tagen war es nicht selten, dass sie immer wieder in diesen Strudel von wirren Gedanken versank… und sich dabei nur im Kreis zu drehen schien, unablässig…
„Komm, lass uns reingehen. Ich bin schon so gespannt, wie es aussieht“, sagte Tru da und Tessa nickte rasch. Zuerst führte sie Tru in die Küche, wo diese auch sofort ihren Einkauf verstaute.
Nachdem Tessa ihrer Ziehmutter alles gezeigt hatte, lächelte diese und sagte: „Also, Tessalein, es ist wirklich hübsch geworden hier. Ich kann verstehen, dass du dich wohlfühlst, das würde ich wohl auch – zumindest in deinem Alter, die Einrichtung wäre mir streckenweise doch etwas zu modern.“ Sie lachte auf und fuhr dann fort: „Aber nun knurrt mir der Magen. Wie wäre es, wenn wir zu kochen anfangen, mh?“
Und schon war sie in die Küche marschiert und streckte ihren Kopf in die Schränke, auf der Suche nach den benötigten Materialien, die sie auch alsbald gefunden hatte.
„Schön sauber hältst du die Wohnung ja“, sagte Tru und lächelte. Tessa zwinkerte. „Naja, so oft hab ich die Küche noch gar nicht benutzt, dass sie großartig dreckig hätte werden können…“
Tru lachte. „Das hast du wohl wirklich von deiner Mutter. Dabei kann kochen solche Freude machen, gerade in einer so tollen Küche.“ Sie holte die Zutaten aus ihrer Tüte und begann sie auf der Arbeitsplatte auszubreiten.
„Was machst du denn?“ fragte Tessa neugierig.
„Natürlich dein Lieblingsessen – Lachs.“
Erfreut sah Tessa auf. „Lachs? Das hab ich schon ewig nicht mehr gegessen.“
Tru zwinkerte. „Gibt es wohl nicht als Mikrowellengericht, was?“
Beide Frauen lachten herzhaft auf.
Während Trudy mit routinierten Griffen das Essen vorbereitete, stand Tessa dabei, schaute ihr zu und unterhielt sich mit ihr über dies und das – vor allem über Tessas neue Arbeit und wie es ihr gefiel.
Tessa fühlte sich zum ersten Mal seit vergangenem Sonntag – und vielleicht sogar noch länger – wieder richtig wohl. Trus schien für sie all jene Wärme und Beständigkeit zu symbolisieren, die wir aus unserer Kindheit gewohnt sind und die wir doch immer wieder benötigen, egal, wie erwachsen wir auch sein mögen.
Als sie Tru so am Herd stehen und in den Topfen rühren sah, tauchten in Tessa unendlich viele warme Gefühle und Erinnerungen an die vergangenen Jahre auf. So war es so oft gewesen, wenn sie aus der Schule gekommen war- Tru hatte am Herd gestanden und sich ihre Geschichten aus der Schule angehört, ihre guten Noten gelobt, sie wegen schlechter getröstet und mit ihr gemeinsam über Mitschüler und Lehrer gelacht.
Es war fast so wie früher – nur dass Tru nun in Tessas eigener Küche stand und sie nicht mehr über die Schule, sondern die Agentur sprachen.
Als Tru verkündete, dass sie bald fertig sei, ließ Tessa sie schließlich alleine in der Küche und deckte den Tisch. Nur fünf Minuten später saßen sich beide Frauen gegenüber und genossen den köstlichen Lachs mit geschmorten Zucchini und Reis.
Nach einer Weile, in der sie mehr oder minder schweigend gegessen hatte, sah Tru Tessa plötzlich mit ungewohnter Ernsthaftigkeit an und sagte dann langsam: „Tessa, ich muss dir etwas sagen.“
Tessa sah erschrocken auf. Bei der lockeren Unterhaltung hatte sie fast vergessen, dass Tru nicht nur zum Reden und Kochen hergekommen war, sondern ihr etwas wichtiges hatte sagen wollen. Die Ernsthaftigkeit in deren Stimme und der Ausdruck ihres Gesichtes zogen Tessa mit einemmal den Magen zusammen und das bis eben so köstliche Essen schien einen fahlen Beigeschmack bekommen zu haben.
Aufmerksam sah sie ihre Ziehmutter an und sagte dann: „Tru – was ist denn los? Du klingst so ernst. Bist… bist du etwa krank?“ Die letzten Worte hatte sie fast nur geflüstert.
Tru sah sie erstaunt an. „Nein! Nein – Tessalein, hast du dir darüber etwa Sorgen gemacht?“
Und als sie Tessas Gesicht sah, wusste sie, dass sie recht hatte. „Ach, mein Schatz, nein – es tut mir leid, dass ich dir nicht von Anfang an gesagt habe, dass es nichts in der Art ist. Nein, ich bin kerngesund, Tessa.“
Erleichtert atmete Tessa auf, aber sofort fragte sie sich, was denn dann der Grund für Trus Ernsthaftigkeit und Bedrücktheit sein mochte.
„Was ist dann los?“ fragte sie darum geradeheraus und sah Tru offen an.
Die schluckte und sah einen Moment zu Boden. Dann sagte sie langsam. „Es ist eigentlich nichts schlimmes, sogar eher etwas sehr freudiges. Aber es wird für dich wohl etwas überraschend kommen. Kannst du dich noch daran erinnern, dass ich hin und wieder von meiner Patentochter Gabriela erzählt habe?“