Kapitel 14
Unter Beobachtung
Am Wochenende hatte Tessa zum ersten Mal seit Wochen wieder etwas mehr Zeit. Erst hatte sie der Umzug völlig in Beschlag genommen und dann die Arbeit für die Zeitung. Sie freute sich, Jess endlich wieder wie gehabt am Bahnhof besuchen zu können, denn bis auf das Treffen am vergangenen Montag hatten sie sich höchst selten gesehen.
Und endlich konnte sie das Haus verlassen, ohne Angst haben zu müssen, von skeptischen Blicken verfolgt zu werden.
Sie dachte auf der Fahrt zum Bahnhof an Niklas. Seit ihrem Streit hatte er sich nicht mehr bei ihr gemeldet, was sie mit gemischten Gefühlen betrachtete. Zum einen machte sie es nervös, nicht zu wissen, wie er inzwischen über die Sache mit Jess dachte. Auf der anderen Seite schien er wenigstens sein Versprechen zu halten und zu schweigen.
Tessa musste zugeben, dass Niklas ihr sehr fehlte. Die Wut, die er ausgelöst hatte, war natürlich noch nicht ganz verraucht und doch vermisste sie ihn – auf irgendeine Weise.
Im Bahnhof angekommen sah Tessa sich suchend nach Jess um, doch er war noch nicht da. Also setzte sie sich wie so oft auf eine der Bänke und hing ihren Gedanken nach.
In den letzten Wochen war so vieles in ihrem Leben geschehen, so dass sie es kaum einordnen konnte. In ihrem Herzen herrschte ein absolutes Gefühlswirrwarr.
Jess´ entschlossene Worte bezügliches eines möglichen Entzuges hatten sie schwer getroffen. Obwohl es sie todtraurig machte, wie er darüber dachte, wusste sie, dass sie ihn nicht würde umstimmen können… sollte sie denn einfach zusehen, wie er in sein Verderben rannte?
Alleine der Gedanke daran schnürte ihr das Herz zusammen.
Sie dachte an die letzten zwei Wochen und was alles geschehen war. Der Umzug und die Neuorientierung in ihrem Job waren die Dinge, die ihr Herz trotz aller Schwere noch mit etwas Wärme und Freude erfüllten. Auch wenn sie realisiert hatte, dass sie sich nie mehr von Jess´ Geschichte lossagen würde können, nie mehr das leichte, unbekümmerte Leben von früher haben würde – einige Dinge waren ihr geblieben, wenn sie auch immer wieder überschattet wurden, wenn sie an Jess dachte und die Hilflosigkeit, die sie jedes Mal befiel, weil sie nichts gegen seine Traurigkeit tun und an seiner Situation würde ändern können.
„Sag mal, träumst du?“
Tessa fuhr herum und sah Jess neben sich sitzen. Sie hatte vor lauter Nachgrübelei nicht gemerkt, dass er sich neben sie gesetzt hatte.
„Hei! Ich – ich hab dich gar nicht kommen sehen!“
Er grinste. „Ich hab´s gemerkt.“
Sie sah ihn an, er sah heute viel besser aus als sonst – vermutlich hatte er genug Stoff bekommen.
„Ich hab schon befürchtet, du kommst nicht“, sagte Jess.
„Doch, ich hab es doch versprochen.“
„Naja, aber du hattest in letzter Zeit viel Stress.“
Tessa nickte. „Ja, aber das ist jetzt vorbei.“
„Wie ist es in der neuen Wohnung?“ fragte Jess und sah sie aufmerksam an. „Hast du dich inzwischen denn eingelebt?“
Tessa nickte. „Ja, es ist herrlich, endlich alleine zu wohnen und die eigenen vier Wände für sich nutzen zu können.“
Jess sah sie aufmerksam an und sagte dann: „Sag mal, Tessa – was war eigentlich der Grund für deinen Auszug?“
Tessa schluckte und überlegte einen Moment, was sie sagen sollte, dann wich sie aus: „Naja – ich hatte etwas Stress mit meinen Eltern in den letzten Wochen – es wurde einfach Zeit, rauszukommen und auf eigenen Beinen zu stehen.“
„Stress welcher Art?“
Jess konnte man mit halbfertigen Antworten nicht zufrieden stellen, das wusste Tessa – doch sie wollte und konnte ihm nicht die Wahrheit sagen…
„Typischen Eltern-Kind Stress wohl“, sagte sie darum leichthin. „Kleinigkeiten, du weißt schon – mach dies, tu jenes… ich wollte einfach raus, ich bin alt genug dazu.“
„Du brauchst dich vor mir nicht zu rechtfertigen. Wenn du damit glücklich bist, ist das doch die Hauptsache. Ist es nun besser mit deinen Eltern?“
Er sah sie aufmerksam an. Sie nickte. „Ja – viel besser.“
Sie saßen einen Moment schweigend nebeneinander, dann erhob Jess erneut das Wort. „Vor zwei Nächten haben sie bei der Drogenhilfe eingebrochen.“
Tessa sah ihn erschrocken an. „Ist irgendjemand etwas passiert?“
Jess schüttelte den Kopf. „Nein, glücklicherweise nicht. Aber nun ist die Stätte für unbestimmte Zeit geschlossen – viele Leute waren ohnehin gegen diese Auffangstation für Leute wie mich…“
Tessa schluckte und Jess sprach weiter. „Ich denke, das kommt vielen gerade recht.“
„Aber…“, stotterte Tessa. „Wo schläfst du dann?“ Sie wusste, dass Jess die meisten Nächte auf einem der Feldbetten in der Auffangstation verbracht hatte.
Er zuckte mit den Schultern. „Hier zum Beispiel.“
Tessas Augen weiteten sich. „Hier? Aber…“
„Was soll ich denn sonst machen? Die Nächte werden kälter… immer noch besser hier als draußen. Und im Obdachlosenheim ist meist alles überlaufen.“
„Aber … das geht doch nicht… ich meine… der Staat muss doch sehen, dass für jeden Mensch ein Unterschlupf gewährleistet ist“, sagte Tessa hilflos.
Jess lachte bitter und sah sie an. „Ach, Tessa, du bist so wunderbar naiv manchmal. Dem Staat sind Leute wie ich doch egal.“
„Und nun?“
Wieder musste Jess über Tessa lächelnd, doch das Lächeln war diesmal nicht bitter, sondern warm. „Es geht schon irgendwie weiter – keine Angst.“
Tessa biss sich auf die Lippen. „Hör mal… wieso schläfst du nicht einfach bei mir?“
Jess starrte sie an.
„Du weißt nicht, was du sagst!“
„Natürlich weiß ich das…“, setzte Tessa an, doch Jess schnitt ihr entschlossen das Wort ab.
„Nein, Tessa – ich hab dir schon gesagt, ich will nicht, dass du mich in gewissen Situationen siehst. Und das könnte ich dann nicht vermeiden. Danke für dein Angebot, ich weiß es wirklich zu schätzen…“ er lächelte sie wieder an. „Aber das kommt nicht in Frage.“
Tessa verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Tief in sich wusste sie, dass Jess recht hatte – doch schon wieder stand sie mit leeren Händen da und wusste nicht, wie sie ihm helfen konnte.
Jess lenkte das Thema geschickt um, indem er Tessa fragte, wie ihr Artikel in der Zeitung angekommen sei und wie es beruflich nun für sie weiterginge. Bereitwillig erzählt Tessa, was in den letzten Tagen in der Agentur geschehen war, dass sie nun weiterhin bessere Artikel schreiben dürfte und fest in ein Arbeitsteam integriert war.
So verging die Zeit und irgendwann erhoben sich die beiden, um sich zu verabschieden, denn draußen wurde es allmählich dämmrig.
„Ich bin froh, dass du wieder öfters Zeit hast, mich zu besuchen, Tessa“, sagte Jess, als sie voreinander standen. Er lächelte sie sehr warm an.
„Ich auch – es hat mir richtig gefehlt, mit dir zu sprechen und bei dir zu sein.“
Tessa lächelte. „Pass auf dich auf, Jess. Versprich es mir.“
Er nickte. „Das werde ich.“
Lächelnd umarmten sich beide fest und lange. Als Tessa die Augen aufschlug und über Jess´ Schulter sah, zuckte sie jedoch zusammen.
„Was ist los, Tessa?“ Besorgt sah Jess sie an.
„Ich… nichts…“
Tessa blickte ihn geistesabwesend an und starrte dann wie gebannt auf einen Punkt hinter ihm. Als Jess sich umdrehte und ihrem Blick folgte, entdeckte er einen jungen Mann, der in der Nähe des Bahnhof-Shops stand.
„Kennst du diesen Typen? Er starrt die ganze Zeit zu uns?“ fragte er Tessa schließlich verwirrt.
„Nein… nicht wirklich…“
Jess sah Tessa irritiert an. Er wusste, dass sie die Unwahrheit sprach, doch er spürte auch, dass er nicht weiter in sie dringen durfte.
„Gut, Tessa – ich… ich geh dann mal.“
Er lächelte ihr noch einmal verwirrt zu und ging dann aus dem Gebäude. Tessa sah ihm nervös nach und richtete ihren Blick dann wieder in Richtung des Shops, wo sich der junge Mann im blauen T-Shirt inzwischen in Bewegung gesetzt hatte und das Gebäude auf der andere Seite verließ.
Tessa kniff die Augen wütend zusammen, ihr Atem ging schnell.
Niklas! Das war Niklas gewesen! Er hatte sie und Jess beobachtet – die Sache war ganz klar!! Tessa spürte eine unendliche Wut in sich aufsteigen. Was fiel ihm nur ein, ihr nachzuschleichen, als sei sie ein kleines, hilfloses Kind, das nicht weiß, was es tut?
Ihr Herz schlug ihr vor Aufregung und Zorn bis an den Halse.
„Das lass ich mir nicht gefallen!“ schoss es ihr durch den Kopf. „DAS nicht!!“
Und mit zornesroten Wangen drehte sie sich entschlossen auf dem Absatz um, hastete zu ihrem Auto, startete den Motor und machte sich auf den Weg zu Niklas…
Fortsetzung folgt.